L 12 P 55/20

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Aurich (NSB)
Aktenzeichen
S 12 P 25/17
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 12 P 55/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 16.11.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung eines sog. Wohngruppenzuschlages als Leistung der sozialen Pflegeversicherung.

Der 2001 geborene, wegen eines fetalen Alkoholsyndroms behinderte Kläger bezieht seit Juni 2011 Pflegegeld gem. § 37 SGB XI nach der Pflegestufe I (zunächst von der I., seit Juli 2015 von der Beklagten), die mit dem 1.1.2017 in einen Pflegegrad übergeleitet wurde. Er lebt seit Anfang 2011 bei seinen Pflegeeltern J. sowie dessen Ehefrau K., die im Rahmen der Pflegebegutachtung des Klägers zunächst als Pflegeperson aufgeführt wurde. Im August 2015 wurde J. als Pflegeperson benannt. Zur Familie gehören deren L. geborener Sohn M. sowie der im N. O. geborene P.. Die Familie wohnte seinerzeit zur Miete in einem mehrstöckigen Fachwerkhaus in Q. (R.). Im Erdgeschoss befand sich die Küche, der Wohn-/Essbereich und ein Gäste-WC, im 1. Obergeschoss das Badezimmer und das Elternschlafzimmer sowie ein vom Kläger bewohntes Zimmer. Im 2. Obergeschoss gab es ein weiteres, von M. genutztes Schlafzimmer. Im März 2017 zog die Familie nach S., von dort im August 2020 nach T. /U..

Am 19.2.2016 beantragte der Kläger - wie auch seine Mutter und M. (Kläger der Berufungsverfahren L 12 P 54/20 und 56/20) - bei der Beklagten einen Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI. Als von der zum 1.1.2016 gegründeten Wohngruppe nicht gemeinschaftlich beauftragte Präsenzkraft wurde J. angegeben. Dieser erledige organisatorische, verwaltende, betreuende und das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten und leiste hauswirtschaftliche Unterstützung. Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29.3.2016 ab. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch, zu dessen Begründung er diverse, dem J. übertragene Aufgaben aufführte (u.a. Vorbereitung, Zubereitung und Nachbereiten von Mahlzeiten, Kuchenbacken, Geschirrspülen und -abtrocknen, Ausgestaltung des privaten Wohnraums, Mitgestaltung der Gemeinschaftsräume, Rituale pflegen, Essgewohnheiten beachten, Gestaltung der Tagesstruktur und Unterstützung bei der Selbständigkeit, Fördern der Übernahme von Verantwortung, z.B. durch gemeinsames Tischdecken, Zeitungholen, Müllentsorgen, Planen und Organisieren von Tagesausflügen, Terminieren und Koordinieren unterschiedlicher Termine der Mitglieder der Wohngemeinschaft). Den Widerspruch lehnte die Beklagte mit bestandskräftig gewordenem Widerspruchsbescheid vom 13.6.2016 ab. Es fehle an einer gemeinschaftlichen Beauftragung der Präsenzperson. Zudem verfolge das Zusammenleben innerhalb des Familienverbundes des Klägers nicht den Zweck einer gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung.

Nachdem die für P. zuständige Pflegekasse (V.) für diesen mit Bescheid vom 13.3.2017 einen Wohngruppenzuschlag gewährte, beantragte der Kläger am 15.3.2017 bei der Beklagten die Überprüfung ihrer o.g. Ablehnungsbescheide im Wege des § 44 Abs. 1 SGB X. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27.3.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2017 ab. Die zur Überprüfung gestellte Bescheide seien zu Recht ergangen. Innerhalb des Familienverbundes des Klägers werde der Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung durch die familiäre Prägung überlagert. Eine aktive Einbindung der Pflegebedürftigen im Rahmen ihrer Ressourcen sei nicht ersichtlich. Ein Pflege- oder Mietvertrag, der die Konstruktion einer ambulanten Wohngruppe erkennen lasse, sei nicht vorgelegt worden.

Der Kläger hat hiergegen am 20.11.2017 bei dem Sozialgericht (SG) Aurich Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, das Vorliegen eines familiären Verbundes stehe der Bewilligung eines Wohngruppenzuschlags für die Mitglieder der ambulant betreuten Wohngruppe, in der er lebe, nicht generell entgegen. Der maßgebliche Wohnzweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung könne auch beim Zusammenleben in einem familiären Wohnverbund vorliegen. Sein für organisatorische und verwaltende Zwecke eingestellter Pflegevater, der dreimal wöchentlich für je drei Stunden durch Betreuungsleistungen eines Pflegedienstes unterstützt werde, erfülle die Voraussetzungen einer Präsenzkraft (Hinweis auf SG Münster, Urteil vom 17.1.2014 – S 6 P 166/13, nachgehend: Landessozialgericht – LSG - Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.8.2014 – L 10 P 18/14, Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 18.2.2016 – B 3 P 5/14 R).

Der Kläger hat einen Bescheid der W. vom 1.10.2019 vorgelegt, mit dem diese J. als Bezieher von Pflegeleistungen nach dem Pflegegrad 1 für die Zeit ab dem 22.8.2019 einen Wohngruppenzuschlag bewilligte. Ausweislich eines seitens des Klägers vorgelegten Vertrages vom 19.3.2020 erbringe der familienentlastende Dienst X. für den Kläger „nach Absprache“ Betreuungsleistungen und Unterstützung im Haushalt. Alle Mitglieder der Wohngruppe erhielten von diesem Unternehmen Leistungen i.S.v. § 38a SGB XI.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat die Ansicht vertreten, dass es der Wohngruppe des Klägers am strukturellen Merkmal des Zusammenlebens zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung fehle. Es sei auch nicht klar erkennbar, dass sich der Aufgabenkreis des J. als Präsenzkraft hinreichend deutlich von dessen Hilfe bei der individuellen pflegerischen Versorgung und von familiären Verpflichtungen abgrenze.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16.11.2020 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 SGB X seitens der Beklagten zu Recht abgelehnt worden sei. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung eines Wohngruppenzuschlags. Es liege bereits keine Wohngemeinschaft i.S.v. § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI a.F. vor. Obgleich nach der einschlägigen Rechtsprechung des BSG (Verweis auf Urteil vom 18.2.2016 – B 3 P 5/14 R) auch familiär miteinander verbundene Wohngruppenmitglieder „zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung“ zusammenleben könnten, bedürfe es bei solchen Konstellationen gleichwohl des Nachweises, dass auch hier der durch den Gesetzgeber mit dem Wohngruppenzuschlag zu fördernde Zweck vorliege. Vorliegend fehle es bei der Pflegefamilie des Klägers an Aspekten, aus denen sich ergebe, dass der Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung vor dem familiären Zusammenleben gestanden habe. J. erfülle zudem nicht die an eine Präsenzkraft gestellten Voraussetzungen. Es sei nicht zu erkennen, inwieweit sich seine diesbezüglichen Aufgaben von denen als Familienvater und Pflegeperson unterschieden. Des Weiteren fehle es an der nach § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI erforderlichen gemeinsamen Beauftragung der Präsenzkraft durch die Mitglieder der Wohngruppe.

Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid am 11.12.2017 Berufung eingelegt. Ergänzend trägt er vor, der Umstand, dass er nach Aufnahme in die Pflegefamilie (nicht durch Adoption) den Nachnamen seiner Pflegeeltern angenommen habe, könne nicht als Indiz für das Vorliegen eines im Vordergrund stehenden Familienverbundes herangezogen werden. Die Wohngruppe sei 2016 mit dem Einzug des P. gegründet worden; dieser habe die Familie Ende 2017 verlassen. Nach gemeinsamer Bestimmung aller Mitglieder der Wohngruppe habe J. als Präsenzkraft bis Juli 2019 organisatorische, verwaltende, betreuende und das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten übernommen. Hierbei sei es insbesondere um die Strukturierung und Betreuung des Alltags der Wohngruppenmitglieder gegangen. Er habe den Alltag so organisiert, dass Therapie- und Arztbesuche wahrgenommen sowie „die einhergehende Verwaltung“ bewältigt werden konnte. Unterstützt worden sei er dabei von Mitarbeitern verschiedener Pflegedienste. Die Hauswirtschaft, teilweise auch Betreuungsaufgaben hätten seit 2017 Mitarbeiter/-innen der Arbeiterwohlfahrt, im Jahre 2019 die Firma „Y.“, von 2019 bis 2020 die X., von September 2020 bis März 2021 der Pflegedienst „Z.“, von April 2021 bis Oktober 2021 der Pflegedienst AA. und seit November 2021 die Firma „AB.“ übernommen. Von August 2019 bis August 2020 sei AC. als gemeinschaftlich beauftragte Präsenzkraft der Wohngruppe eingetreten. Dieser sei bereits vorher (seit Mai 2018) in der Familie über den Pflegedienst „P“ als Betreuer des Klägers auf der Grundlage des § 45b SGB XI tätig geworden und habe dafür eine Bezahlung im Rahmen des steuerlichen Freibetrages sowie Fahrkostenerstattung erhalten. Er habe selbstständig und außerhalb seiner Tätigkeiten im Pflegedienst ca. sechs Stunden wöchentlich Abrechnungen mit den Pflegediensten ausgeführt, Ausflüge organisiert und den Kläger sowie M. und K. betreut. Seine hauswirtschaftlichen Fähigkeiten seien gefragt gewesen, ebenso sein offenes Ohr für Gespräche. Seit September 2020 stehe der Familie ein guter Freund als Präsenzkraft zur Seite, seit Februar 2022 der Neffe von K..

 

 

Der Kläger beantragt,

 

  1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 16.11.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27.3.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2017 und den Bescheid vom 29.3.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.6.2016 aufzuheben,
  2. die Beklagte zu verurteilen, ihm den Wohngruppenzuschlag ab Antragstellung zu zahlen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verweist auf ihr bisheriges Vorbringen und weist ergänzend darauf hin, dass sich aus den für den Kläger erstellten Pflegegutachten eine familiäre Prägung des Zusammenlebens der Pflegefamilie des Klägers ergebe. Des Weiteren erschließe sich nicht, für welche zusätzlichen, über die individuelle häusliche Versorgung und familiären Verpflichtungen hinausgehenden Aufwendungen für gemeinsames Wohnen der Wohngruppenzuschlag vorliegend gedacht sei. Da es sich um ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Abs. 1 SGB X handele, seien zudem Änderungen im Anschluss an den bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 13.6.2016 nicht relevant.

 

Auf Anfrage des Senats hat der Pflegedienst „AD.“ mitgeteilt, dass AC. von Juli 2018 bis Januar 2019 (neben M.) den Kläger als Pflegeassistent an Nachmittagen, am Abend und an den Wochenenden betreut habe. Die Leistungen seien nach § 45b SGB XI abgerechnet worden.

 

Der Senat hat durch seinen Berichterstatter am 6.5.2022 einen Erörterungstermin durchgeführt und C. als Zeugen befragt, ebenso J. im Rahmen der mündlichen Verhandlung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand von Beratung und Entscheidung geworden sind.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten.

 

Die Beklagte hat den Überprüfungsantrag des Klägers zu Recht abgelehnt. Nach dem diesbezüglich einschlägigen § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Dem Kläger steht kein Anspruch auf den von ihm als Leistung der sozialen Pflegeversicherung begehrten Wohngruppenzuschlag zu.

 

Nach § 38a Abs. 1 SGB XI in der (zunächst) maßgeblichen, bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung des Gesetzes vom 23.12.2014 (BGBl. I S. 2462) (a.F.) waren die Voraussetzungen für die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags wie folgt geregelt: Pflegebedürftige haben Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag in Höhe von 205,00 € monatlich, wenn

 

  1. sie mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung leben und davon mindestens zwei weitere Personen pflegebedürftig i.S.d. §§ 14, 15 sind oder eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz nach § 45a bei ihnen festgestellt wurde,

 

  1. sie Leistungen nach den §§ 36, 37, 38, 45b oder 123 beziehen,

 

  1. eine Person von den Mitgliedern der Wohngruppe gemeinschaftlich beauftragt ist, unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten zu verrichten oder hauswirtschaftliche Unterstützung zu leisten und

 

  1. keine Versorgungsform vorliegt, in der der Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen Leistungen anbietet oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 45 Abs. 1 für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen; der Anbieter einer ambulant betreuten Wohngruppe hat die Pflegebedürftigen vor deren Einzug in die Wohngruppe in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass dieser Leistungsumfang von ihm oder einem Dritten in der Wohngruppe nicht erbracht wird, sondern die Versorgung auch durch die aktive Einbindung ihrer eigenen Ressourcen und ihres sozialen Umfeldes sichergestellt werden kann.

 

Soweit § 38a Abs. 1 SGB XI im Zuge des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes vom 21.12.2015 (BGBl. I S. 2424) zum 1.1.2017 (Erhöhung des pauschalen Zuschlags auf 214,00 €; Neufassung Nr. 4 und Ergänzung um Satz 2) sowie durch das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz vom 11.12.2018 (BGBl. I S.2394) zum 1.1.2019 (Nr. 3: statt „hauswirtschaftliche Unterstützung zu leisten“ nunmehr: „die Wohngruppenmitglieder bei der Hausführung zu unterstützen“) ohne Übergangsregelung geändert worden ist, ergeben sich hieraus für den vorliegend zur entscheidenden Fall, abgesehen von der Erhöhung des Leistungsbetrages zum 1.1.2017, keine Konsequenzen.

 

Vorliegend erfüllt der Kläger als pflegebedürftiger Bezieher von Pflegegeld nach § 37 SGB XI, der im streitgegenständlichen Zeitraum (ausschließlich) ambulante Pflege- und Betreuungsleistungen nach den §§ 37 und 45b SGB XI in Anspruch nimmt, die dem im Rahmenvertrag nach § 75 Absatz 1 SGB XI für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang nicht weitgehend entsprechen, zwar - unstreitig - die Voraussetzungen von § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 4 SGB XI, nicht hingegen der Nrn. 1 und 3 der genannten Regelung.

 

Zutreffend hat das SG in den Entscheidungsgründen des mit der vorliegenden Berufung angefochtenen Gerichtsbescheides, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 153 Abs. 2 SGG verweist, ausgeführt, dass der Kläger unter Zugrundelegung der von ihm zu dem für das vorliegende Überprüfungsverfahren nach § 44 Abs. 1 SGB X maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 13.6.2016 (vgl. hierzu Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 44 Rn. 10 m.w.N.) gemachten Angaben und Nachweise bereits nicht in einer Wohngemeinschaft i.S. des § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI zum Zweck der gemeinschaftlich organsierten pflegerischen Versorgung lebt und es zudem an einer gemeinschaftlichen Beauftragung einer sogenannten Präsenzkraft zur Verrichtung von Tätigkeiten im Sinne des § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI fehlt.

 

Von einer im obigen Sinne gemeinschaftlichen Beauftragung des Pflegevaters des Klägers, die unter Mitwirkung der die Leistung begehrenden Person und mindestens zwei weiterer Pflegebedürftiger formlos möglich und auch einer nachträglichen Billigung durch schlüssiges Verhalten zugänglich ist (BSG, Urteil vom 10.9.2020 - B 3 P 2/19 R -, juris Rn. 22 ff.), kann vorliegend trotz der missverständlichen Angaben im formularmäßigen Antrag des Klägers auf den begehrten Wohngruppenzuschlag mit Ankreuzen des Feldes „Nein“ bei der Frage, ob die Wohngruppe gemeinschaftlich eine Person zur Aufgabenerbringung beauftragt hat, ausgegangen werden. Der Kläger, seine Mutter und seine (Pflege-)Geschwister haben der Beklagten gegenüber sowohl durch ihre Äußerungen als auch durch ihr Verhalten stets klar zum Ausdruck gebracht, dass die von ihnen als Aufgabe einer Präsenzkraft angesehenen Verrichtungen des Bernd Nitsch und später (ab August 2019) des C., die sie u.a. in der Begründung des Widerspruches gegen den Bescheid vom 29.3.2016 aufgelistet hatten, auf ihrer übereinstimmenden Willensbildung beruhten. Auch J. hat in seiner zeugenschaftlichen Vernehmung vor dem Senat in der mündlichen Verhandlung ausgesagt, aufgrund einer zunächst lediglich mündlichen Vereinbarung mit seiner Ehefrau K. und M. als Präsenzkraft tätig geworden zu sein. Die Erklärung der Mutter des Klägers vor dem Senat in der mündlichen Verhandlung, dass das Ankreuzen in dem Leistungsantrag vom 19.2.2016 versehentlich an der falschen Stelle erfolgt sei, erscheint dem Senat vor diesem Hintergrund plausibel.

 

Nicht zu überzeugen vermochte sich der Senat indes davon, dass die Tätigkeiten, die im streitgegenständlichen Zeitraum von den seitens des Klägers als Präsenzkräfte benannten Personen verrichtet wurden bzw. werden, über die Leistungsinhalte der häuslichen Pflege bzw. familiäre Aufgaben hinausgehen und sich auf die Organisation und die Förderung des Gemeinschaftslebens oder die Unterstützung der Wohngruppe bei der Haushaltsführung unter Einbeziehung des Pflegebedürftigen bezogen bzw. beziehen.

 

Der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung dient die Aufgabenerfüllung durch eine Präsenzkraft nur dann, wenn sie unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende bzw. das Gemeinwohl fördernde Tätigkeiten verrichtet oder die Wohngruppenmitglieder bei der Haushaltsführung unterstützt. Eine solche Tätigkeiten kann etwa in der Organisation und Förderung des Gemeinschaftslebens (vgl. Leitherer: in beck-online.Großkommentar, Stand: 1.5.2021, § 38a SGB XI Rn. 13) oder in der Koordination der in der Wohngruppe tätigen Pflegedienste liegen (Bayerisches LSG, Urteil vom 27.6.2019 – L 4 P 63/18).

 

Zwar sind familiär miteinander verbundene Wohngruppenmitglieder nach der einschlägigen Rechtsprechung des BSG nicht generell vom Wohngruppenzuschlag ausgeschlossen (Urteil vom 18.2.2016 - B 3 P 5/14 R -, juris Rn. 15 ff., 30 unter Verweis auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben durch Art. 6 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG). Für eine gemeinschaftlich organisierte pflegerische Versorgung kann es in einer solchen Konstellation z.B. sprechen, wenn ein pflegebedürftiges Familienmitglied noch lange Zeit nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt verbleibt (vgl. Giesbert in: BeckOK Sozialrecht, Stand: 1.6.2022, § 38a SGB XI Rn. 15). Beauftragter im Sinne von § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI („Präsenzkraft“) kann dabei auch ein Familienangehöriger der Wohngruppenmitglieder sein. Weder dem Gesetz noch den Gesetzgebungsmaterialien ist ein Hinweis zu entnehmen, dass die Beauftragung von Familienangehörigen ausgeschlossen wäre (so auch Bayerisches LSG, Urteil vom 27.6.2019 – L 4 P 63/18 –, juris Rn. 50). § 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbs. SGB XI steht dem nicht entgegen, da diese Vorschrift nur Verträge der Pflegekassen mit (nahen) Familienangehörigen zur pflegerischen Betreuung von Pflegebedürftigen ausschließt, nicht aber Vereinbarungen von Wohngruppenmitgliedern zur Beauftragung einer „Präsenzkraft“ mit „allgemeinen organisatorischen, verwaltenden, betreuenden oder das Gemeinschaftsleben fördernden Tätigkeiten“ (offen gelassen von BSG, a.a.O., juris Rn. 25).

 

Auch ein Familienangehöriger kann jedoch nur dann und nur insoweit beauftragte Präsenzkraft i.S.v. § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI sein, wenn ihm durch die Beauftragung Aufgaben übertragen worden sind, die ihm nicht bereits aufgrund anderer Rechtspflichten obliegen. Daher ist im Einzelfall zu prüfen, inwieweit der beauftragte Familienangehörige – etwa – bereits aufgrund seiner ehelichen (§ 1353 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbs. BGB) oder (pflege-)elterlichen (§§ 1626, 1630, 1631 Abs. 1 BGB) Verpflichtungen zur Erbringung der ihm als Präsenzkraft übertragenen Aufgaben angehalten ist. Gleichermaßen kann eine Beauftragung der Präsenzkraft mit Aufgaben, die sich schon aus seiner Bestellung zum Vormund (vgl. § 1800 BGB), Pfleger (§ 1909 BGB) oder Betreuer (vgl. § 1901 BGB) bzw. aus etwaigen Aufgaben als Pflegeperson (§ 19 SGB XI) ergeben, keinen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag begründen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die vorgenannten Pflichten je nach Alter und Reifegrad des (Pflege-)Kindes/Mündels/Betreuten variieren können (vgl. § 1626 Abs. 2, § 1793 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 1626 Abs. 2, § 1901 Abs. 2, 3 BGB). Die Beauftragung eines Familienangehörigen als Präsenzkraft ist daher umso eher vorstellbar, je weniger dieser (noch) aufgrund seiner familienrechtlichen Pflichten oder als Vormund/Betreuer für das Wohngruppenmitglied fürsorgepflichtig ist.

 

Ob der durch den Wohngruppenzuschlag geförderte Zweck i.S.v. § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI („gemeinschaftlich organsierte pflegerische Versorgung“), der nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/2909, S. 41) vor allem in der Ermöglichung bzw. dem Erhalt einer gemeinschaftlichen Pflege von Menschen in der Nähe ihres angestammten Wohnfeldes liegt, erfüllt wird oder ob andere Wohnzwecke im Vordergrund stehen, ist im Einzelfall an Hand der behaupteten inneren und äußeren Umstände festzustellen. Diese sind in eine Gesamtwürdigung einzustellen und unter Berücksichtigung aller weiteren Umstände zu bewerten. Erforderlich ist, dass der innere Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung nach außen hin objektiviert wird. Dies erfolgt regelmäßig durch die gemeinschaftliche Beauftragung einer Präsenzkraft und die Festlegung ihres konkreten Aufgabenkreises i.S. der Alternativen des § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI zur Erfüllung dieses Zwecks. Insbesondere diese Festlegung ist eine zentrale Voraussetzung für die Gewährung des Wohngruppenzuschlages (BSG, Urteil vom 10.9.2020 – B 3 P 3/19 R -, juris Rn. 26). Erforderlich ist insofern, besonders wenn es sich – wie vorliegend bei J. - bei der Präsenzkraft um ein mit den pflegebedürftigen Personen zusammenlebendes Familienmitglied bzw. einen Pflegevater handelt, der darüber hinaus auch noch als Pflegeperson i.S. von § 19 SGB XI für einzelne Wohngruppenmitglieder fungierte (vgl. hierzu LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 27.6.2022 – L 6 P 19/16 -, juris Rn. 32; Kuhn-Zuber in: Ehrmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Auflage 2018, § 38a SGB XI Rn. 19), die klare Bestimmung der Aufgaben mit deutlicher Abgrenzung von Hilfen bei der individuellen pflegerischen Versorgung und von rein familiären Verpflichtungen (BSG, Urteil vom 18.2.2016, a.a.O., Rn. 21, 25).

 

Wie bereits das SG vermag sich auch der Senat nicht von einem wesentlichen Wohnzweck im o.g. Sinne mit einer neben dem Familienleben bestehenden organisierten Struktur einer über individuelle häusliche Pflege hinausgehenden pflegerischen Unterstützung (vgl. BSG, a.a.O, juris Rn. 31) durch J. und nachfolgend AC. als Präsenzkräfte i.S.v. § 38a SGB XI zu überzeugen. Zweck des gemeinschaftlichen Wohnens des Klägers mit seinen Pflegeeltern und -geschwistern war im streitgegenständlichen Zeitraum ersichtlich das familiäre Zusammenleben mit mehreren pflegebedürftigen, zum Teil – wie M. und K. - bereits volljährigen Angehörigen. Die von Seiten des Klägers und auch von den gehörten Zeugen geschilderten Umstände des Zusammenlebens zeichnen das Bild einer (Pflege-) Familie, die aus familiärer Verbundenheit zusammenlebt, und in der sich die (Pflege-)Eltern bemühen, ihre pflegebedürftigen (Pflege-)Kinder über den Eintritt der Volljährigkeit hinaus zu versorgen und zu unterstützen. Davon abgrenzbare Tätigkeiten i.S.v. § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI durch J. und nachfolgend durch AC. wurden weder im Rahmen der Beauftragung derselben konkret festgelegt noch erfolgten solche später nachweislich in der tatsächlichen Ausgestaltung bestimmter Aufgaben als solche einer Präsenzkraft.

 

Angesichts der inhaltsarmen Angaben in dem für den Kläger gestellten Antrag auf Gewährung des Wohngruppenzuschlags vom 9.2.216 mit lediglich formularmäßiger Auflistung der von J. auszuübenden Tätigkeiten in Form des Ankreuzens („organisatorische, verwaltende, betreuende, das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten und hauswirtschaftliche Unterstützung“), die auch im Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren eher im Allgemeinen blieben, ist eine deutliche Abgrenzung der Aufgaben einer Präsenzkraft von denen eines (Pflege-)Vaters in der Familie nicht festzustellen. Soweit erstmals im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 29.3.2016 (s.o.) und später im vorliegenden Berufungsverfahren – unter Vorlage eines undatierten Ausdrucks einer Computerdatei - einzelne von J. als Präsenzkraft angeblich verrichtete Tätigkeiten aufgelistet worden sind („Gemeinsames Kochen und gemeinsamer Küchendienst, Tisch decken und abräumen, Spülmaschine beladen, Aktivieren sportliche Betätigung Fitnessstudio, Spaziergänge, Gemeinsame Spieleabende und Gesprächsabende organisieren, Behördengänge, Arzt- und Therapiebesuche, Gemeinsame Einkäufe, Ausflüge organisieren, Haushaltsablauf organisieren“), die von Letzterem in der zeugenschaftlichen Vernehmung auch im Wesentlichen so bestätigt worden sind, vermag sich der Senat bereits nicht davon zu überzeugen, dass bzw. zu welchem Zeitpunkt solche Aufgaben zwischen den Beteiligten vereinbart und tatsächlich so von J. und später von AC. ausgeführt wurden. Überdies werden die aufgelisteten Aufgaben und Verrichtungen typischerweise durch (Pflege-)Eltern im Rahmen der ihnen obliegenden familiären Pflichten als hauswirtschaftliche Tätigkeiten und begleitende Unterstützung ihrer (Pflege-)Kinder im Alltag bewältigt. Eine hiervon abgrenzbare, an der Zielrichtung des § 38a SGB XI ausgerichtete Förderung des gemeinsamen Wohnens durch der Wohngemeinschaft zugutekommende organisatorische, verwaltende oder betreuende Tätigkeiten durch die als Präsenzkräfte benannten Personen vermag der Senat ebenso wenig zu sehen, wie eine Unterstützung des pflegebedürftigen Klägers sowie des M. und seiner Pflegemutter in Form der Aktivierung zu zunehmend eigenständig durchzuführenden hauswirtschaftlichen Arbeiten mit Anleitung zur Selbstübernahme (vgl. hierzu BSG, a.a.O, juris Rn 24; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.10.2018 – L 30 P 71/16 -, juris Rn.43, Wiegand in: jurisPK – SGB XI, Schlegel/Voelzke, 2. Auflage 2021, § 38a Rn. 38 f.). Im Vordergrund standen vorliegend vielmehr ersichtlich die Entlastung der Pflegebedürftigen von derartigen Tätigkeiten sowie pflegerische Verrichtungen. Allein die Aufrechterhaltung der bisherigen Lebensgestaltung von Mitgliedern einer (Pflege-)Familie nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit mag indes die Zweckbestimmung einer gemeinschaftlichen pflegerischen Versorgung nicht zu begründen (BSG, Urteil vom 18.2.2016, a.a.O, juris Rn. 31).

 

Gewichtig gegen die Übertragung von Aufgaben i.S. des § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI sowohl auf den Pflegevater des Klägers als auch auf den von Anfang 2018 bis August 2020 in der Pflegefamilie des Klägers als Pflegeassistent im Rahmen von Leistungen nach § 45b SGB XI tätigen AC. und eine Durchführung entsprechender Tätigkeiten durch diese spricht überdies das Ergebnis der zeugenschaftlichen Vernehmung des Letzteren im Erörterungstermin vom 6.5.2022. Der Zeuge hat hier in sich schlüssig und für den Senat glaubhaft ausgesagt, dass er betreuerisch in der Familie des Klägers tätig geworden sei und Unternehmungen begleitet habe. Daneben habe er zeitweise auch Reinigungsarbeiten durchgeführt. Er habe indes von J. keine Aufgaben im organisatorischen oder betreuerischen Bereich übernommen und auch von diesem während der gemeinsamen Zeit im Haushalt des Klägers keine diesbezüglichen Aktivitäten wahrgenommen. Der Kläger hat dem keinen substantiierten Vortrag entgegengesetzt. Insbesondere die Angaben seiner Eltern im Rahmen der mündlichen Verhandlung, laut denen J. neben der pflegerischen Versorgung des Klägers und diversen hauswirtschaftlichen Verrichtungen auch die bereits vorgetragenen und in den o.g. Auflistungen notierten Aufgaben einer Präsenzkraft übernommen habe, vermochten den Senat nicht vom Gegenteil zu überzeugen.

 

Ein Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI besteht nach alledem nicht. Die Berufung war vollumfänglich zurückzuweisen

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Der Senat misst der Frage, inwieweit Aufgaben von (Pflege-)Eltern, die im Wesentlichen Ausdruck ihnen obliegender familiärer Verpflichtungen sind, solche einer Präsenzkraft nach § 38a SGB XI sein können, grundsätzliche Bedeutung zu.

 

 

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