S 48 SO 131/23 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 48 SO 131/23 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Der Antrag eines behinderten Menschen, der bislang in einer stationären Einrichtung gelebt hat und nunmehr in eine private Mietwohnung umziehen möchte, auf Leistungen der sozialen Teilhabe (einschließlich Leistungen der häuslichen Pflege) kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die dafür anfallenden Kosten erheblich höher sind, als die der bisherigen stationären Versorgung.

2. Nach den Vorgaben in § 104 Abs. 3 Satz 3 SGB IX, die sich an Art. 19 UN-BRK orientieren, ist der Wunsch des behinderten Menschen, außerhalb von besonderen Wohnformen zu leben, grundsätzlich angemessen im Sinne von § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. In solchen Fällen kann der behinderte Mensch nicht auf die Inanspruchnahme stationärer Leistungen verwiesen werden, da es sich dabei nicht um eine vergleichbare Leistung im Sinne von § 104 Abs. 2 Satz 2 SGB IX handelt.


I) Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die notwendigen Kosten der ambulanten Pflege und Betreuung der Antragstellerin nach einem Umzug in die Mietwohnung in B-Straße, M-Stadt vorläufig bis zum 31.12.2023 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen, ausgehend vom Kostenvoranschlag der A. Pflegedienst M-Stadt vom 19.04.2023 zu übernehmen.

II) Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.


G r ü n d e :

I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Übernahme der Kosten der ambulanten Pflege und Betreuung der Antragstellerin nach dem Umzug von einer stationären Einrichtung in eine Mietwohnung.

Die im Jahre 1997 geborene Antragstellerin ist wegen der Folgen einer Cerebralparese pflegebedürftig und erhält seit dem 01.01.2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 4. Sie ist seit ihrer frühen Jugend in stationären Einrichtungen untergebracht. Ab dem 02.09.2019 lebte sie in einer Einrichtung der Stiftung P., ab dem 02.12.2021 im Arbeitsbereich; die dafür anfallenden, nicht anderweitig abgedeckten Kosten übernahm der Antragsgegner im Rahmen der Eingliederungshilfe (siehe Blatt 720 ff, 738 ff Behördenakte des Antragsgegners) sowie in Form von Leistungen der Grundsicherung (siehe Blatt 803 ff Behördenakte).

Mit Schreiben vom 15.12.2022 teilte die Betreuerin der Antragstellerin dem Antragsgegner mit, die Antragstellerin plane, in eine Mietwohnung umzuziehen und beantrage deshalb die Gewährung von Leistungen für eine 24-Stunden-Assistenz durch die Firma A. Pflegedienst M-Stadt, um die Versorgung der Antragstellerin im häuslichen Bereich sicherzustellen. Auf Anforderung durch den Antragsgegner legte die Antragstellerin diverse Unterlagen vor; insoweit wird auf Blatt 822 ff der Behördenakte Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 13.04.2023 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zur beabsichtigten Ablehnung des Leistungsantrags an. Ein Anspruch auf Übernahme von Kosten der ambulanten Hilfe zur Pflege bestehe nicht, sofern dies, wie hier, unverhältnismäßig hohe Mehrkosten verursachen würde. Nach der fachdienstlichen Stellungnahme vom 13.04.2023 (siehe Blatt 383 ff, 396 ff der medizinischen Akte des Antragsgegners) seien im Falle der Klägerin sowohl eine ambulante Versorgung, als auch die Fortsetzung der stationären Versorgung geeignet, um den Bedarf der Antragstellerin zu decken.

Am 20.04.2023 hat die Antragstellerin das Sozialgericht München (SG) angerufen und zur Begründung vorgebracht, ihr Wunsch sei es, in einer eigenen Wohnung ein selbstbestimmtes Leben zu führen und nicht weiterhin in einer Pflegeeinrichtung zu leben, wo ihr dies nicht möglich sei. Den Wohngruppenvertrag habe sie zum 30.04.2023 gekündigt (siehe Blatt 5 Gerichtsakte). Eine Zusage für den Bezug einer öffentlich geförderten Wohnung in der B-Straße, M-Stadt, liege vor (siehe Blatt 6 f Gerichtsakte). Die Antragstellerin hat zudem den mit dem A. Pflegedienst M-Stadt geschlossenen Pflegevertrag vom 14.02.2023 (siehe Blatt 16 ff Gerichtsakte) sowie einen am 19.04.2023 erstellten (neuen) Kostenvoranschlag (siehe Blatt 12 Gerichtsakte) vorgelegt.

Auf den Schriftsatz des Antragsgegners vom 21.04.2023 (siehe Blatt 30 f Gerichtsakte) hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 27.04.2023 erwidert; insoweit wird auf Blatt 33 f der Gerichtsakte verwiesen.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten der ambulanten Pflege und Betreuung der Antragstellerin nach einem Umzug in die Mietwohnung in der B-Straße, M-Stadt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Dem Gericht lagen die Behördenakten des Antragsgegners bei seiner Entscheidung vor.


II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer sog. "Regelungsanordnung" setzt somit voraus, dass neben einem Anordnungsanspruch (dem materiell-rechtlichen Rechtsanspruch) auch ein Anordnungsgrund als Ausdruck der besonderen Dringlichkeit der Entscheidung glaubhaft gemacht worden ist. Dieser ist gegeben, wenn die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist. Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn das Obsiegen der Antragstellerin in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich. Die einstweilige Anordnung wird erlassen, wenn es der Antragstellerin unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligter nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Abzuwägen sind die Folgen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht. Dabei sind je nach Fallgestaltung in die Interessenabwägung einzubeziehen: Intensität einer drohenden Verletzung von Grundrechten; wirtschaftliche Verhältnisse; unbillige Härte; Mitverantwortung der Antragstellerin für eine entstandene nachteilige Situation (siehe Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 29a).

Nach diesen Grundsätzen hat die Antragstellerin vorliegend einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich aus §§ 90 ff, § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Verbindung mit §§ 78 SGB IX.

Die Antragstellerin gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 99 SGB IX; darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

Die beantragten Leistungen (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) umfassen ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe (siehe das von der Antragstellerin ausgefüllte Antragsformular, Blatt 823 Behördenakte). Der von der Antragstellerin zur Begründung ihres Antrags geschilderte Bedarf (eigenständige Lebens- und Freizeitgestaltung, insbesondere Besuche von Freunden, Familienangehörigen, Einkaufstouren etc., siehe Blatt 33 Gerichtsakte) ist dem Bereich der Sozialen Teilhabe zuzuordnen.

Die von der Antragstellerin darüber hinaus beantragten Leistungen der Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) sind Bestandteil der Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff SGB XII. Werden Leistungen der Eingliederungshilfe außerhalb von Einrichtungen oder Räumlichkeiten im Sinne des § 43a des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) in Verbindung mit § 71 Abs. 4 SGB XI erbracht, so umfassen diese gem. § 103 Abs. 2 Satz 1 SGB IX auch die Leistungen der häuslichen Pflege nach den §§ 64a bis 64f, 64i und 66 SGB XII, solange die Teilhabeziele nach Maßgabe des Gesamtplanes (§ 121 SGB IX) erreicht werden können; ein Ausnahmefall nach § 103 Abs. 2 Satz 1, letzter Halbsatz SGB IX liegt hier nicht vor.

Die Antragstellerin hat - nach einem Umzug in die Mietwohnung in der B-Straße, M-Stadt - dem Grunde nach Anspruch auf Übernahme der für ihre Pflege und Assistenz im Rahmen der Eingliederungshilfe notwendigen Aufwendungen, insbesondere die Vergütung des von der Antragstellerin beauftragten Pflegedienstes. Der Antragsgegner kann dem insbesondere nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die von der Antragstellerin geplante häusliche Pflege ausweislich der von ihr vorgelegten Kostenvoranschläge um ein Vielfaches teurer ist, als die weitere Versorgung in der stationären Wohnform der P.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe bestimmen sich gem. § 104 Abs. 1 SGB IX nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfes, den persönlichen Verhältnissen, dem Sozialraum und den eigenen Kräften und Mitteln; dabei ist auch die Wohnform zu würdigen. Sie werden so lange geleistet, wie die Teilhabeziele nach Maßgabe des Gesamtplanes (§ 121 SGB IX) erreichbar sind.

Gem. § 104 Abs. 2 SGB IX ist Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, zu entsprechen, soweit sie angemessen sind. Die Wünsche der Leistungsberechtigten gelten nicht als angemessen, (1.) wenn und soweit die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern, mit denen eine Vereinbarung nach Kapitel 8 des SGB IX besteht, unverhältnismäßig übersteigt und (2.) wenn der Bedarf nach der Besonderheit des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung gedeckt werden kann.

Gem. § 104 Abs. 3 SGB IX ist bei der Entscheidung nach § 104 Abs. 2 SGB IX zunächst die Zumutbarkeit einer von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichenden Leistung zu prüfen. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände einschließlich der gewünschten Wohnform angemessen zu berücksichtigen. Kommt danach ein Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen in Betracht, ist dieser Wohnform der Vorzug zu geben, wenn dies von der leistungsberechtigten Person gewünscht wird. Soweit die leistungsberechtigte Person dies wünscht, sind in diesem Fall die im Zusammenhang mit dem Wohnen stehenden Assistenzleistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen und der persönlichen Lebensplanung nicht nach § 116 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX gemeinsam zu erbringen. Bei Unzumutbarkeit einer abweichenden Leistungsgestaltung ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen.

Gem. § 113 Abs. 1 Satz 2 SGB IX besteht das Ziel der Eingliederungshilfe im Bereich des Wohnens darin, den Leistungsberechtigten eine möglichst selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung im eigenen Wohnraum zu ermöglichen. Diese gesetzliche Vorgabe, verbunden mit der in § 104 Abs. 1 und 2 SGB IX geregelten Pflicht der Leistungsträger, die bisherige und die gewünschte Wohnform zu würdigen, soll sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen im Einklang mit Art. 19 lit. a der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gleichberechtigt mit anderen ihren Aufenthaltsort wählen und entscheiden können, wo und mit wem sie leben. Die Entscheidung über die Wohnform tangiert den durch Art. 1 und 2 Grundgesetz absolut geschützten Kernbereich autonomer privater Lebensgestaltung. Dieser Kernbereich ist nicht nur dem Eingriff des Staates entzogen; der Staat ist in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages auch verpflichtet, für diejenigen, die hierzu nicht aus eigener Kraft und eigenen Mitteln im Stande sind, die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen (siehe J. Zinsmeister in: LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2022, § 104 Rn. 7), wozu nach dem oben Gesagten grundsätzlich auch eine möglichst selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung im eigenen Wohnraum, außerhalb besonderer Wohnformen für behinderte Menschen, gehört.

Art. 19 UN-BRK lautet wie folgt:
"Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass
a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;
b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;
c) gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen."

Der Begriff der "besonderen Wohnform", wie er in § 104 Abs. 3 Satz 3 SGB IX und in Art. 19 UN-BRK verwendet wird, beschreibt im Wege einer Negativdefinition Wohnformen, die speziell für Menschen mit Behinderungen vorgehalten werden und die Fähigkeit dieser Menschen zur selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung einschränken. Speziell in stationären Einrichtungen besteht Untersuchungen zufolge ein hohes Maß an Fremdbestimmung, sozialer Isolation (gegenüber der "Außenwelt") und Mangel an Privatheit (J. Zinsmeister, a.a.O., § 104 Rn. 8). Bei der Betreuung in besonderen Wohnformen handelt es sich somit nicht um eine mit der Assistenz in (auch für nicht behinderte Personen) üblichen Wohnformen "vergleichbare Leistung". Kommt ein Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen in Betracht und wird es von den Leistungsberechtigten gewünscht, so ist dieser Wohnform gemäß § 104 Abs. 3 Satz 3 SGB IX der Vorzug zu geben. Ziel des Gesetzgebers ist es, "dass niemand gegen seinen Willen in eine besondere Wohnform gedrängt wird" (J. Zinsmeister, a.a.O., § 104 Rn. 9, m. w. N.).

Ausgehend von diesen gesetzlichen Vorgaben ist es aus der Sicht des Gerichts nicht zulässig, die Antragstellerin auf den Verbleib in ihrer bisherigen Einrichtung zu verweisen. Insbesondere darf die Antragstellerin nicht deshalb, weil sie seit vielen Jahren in stationären Einrichtungen untergebracht war, schlechter gestellt werden, als ein behinderter Mensch, der von vornherein in privater Umgebung lebt und dort gepflegt wird. Vielmehr ist aus § 104 Abs. 3 Satz 3 SGB IX zu folgern, dass der Wunsch, außerhalb von besonderen Wohnformen in dem oben genannten Sinne zu leben, grundsätzlich angemessen im Sinne von § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist, wenn dadurch, wie hier, der individuelle Bedarf der Leistungsberechtigten (vgl. § 104 Abs. 1 SGB IX) gedeckt werden kann. Dem steht insbesondere nicht § 104 Abs. 2 Satz 2 SGB IX entgegen, weil es sich bei der in einer stationären Einrichtung erbrachten Pflege und Unterstützung, wie oben ausgeführt, nicht um eine "vergleichbare Leistung" im Sinne dieser Vorschrift handelt und somit ein Kostenvergleich nicht anzustellen ist. Vielmehr könnte die Antragstellerin allenfalls dann auf die Inanspruchnahme kostengünstigerer Leistungen verwiesen werden, wenn es sich um Leistungen der Sozialen Teilhabe bzw. der häuslichen Pflege handeln würde, die es der Antragstellerin gleichfalls ermöglichen, außerhalb einer Einrichtung oder einer vergleichbaren Wohnform selbstbestimmt zu leben. Eine solche Alternative ist nicht zu erkennen, sodass auch kein Raum für die Ausübung von Ermessen (vgl. § 107 Abs. 2 SGB IX) verbleibt. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kosten des von der Antragstellerin beauftragten Pflegedienst nicht im Rahmen des Üblichen halten.

Die Antragstellerin kann allerdings nach den Vorgaben in § 4 Abs. 1 SGB IX nur solche Leistungen der Sozialen Teilhabe beanspruchen, welche "unentbehrlich" zum Erreichen der Teilhabeziele sind (siehe dazu bereits: Bundessozialgericht, Urteil vom 12.12.2013, B 8 SO 18/12 R, Rn. 15 in: juris). Die Antragstellerin hat dem im vorliegenden Fall Rechnung getragen, indem sie den geänderten Kostenvoranschlag vom 19.04.2023 vorgelegt und dies in ihrem Schreiben vom 27.04.2023 erläutert hat. Dort heißt es: "Wir haben..." (gemeint ist offenbar: bei der Erstellung des ursprünglichen Kostenvoranschlags vom 14.02.2023; Anm. des Unterzeichners) "... den schlimmsten Tag genommen, aber bei der Begutachtung... ausdrücklich mitgeteilt, dass ich bis zu fünf Stunden alleine bleiben kann...". Es kann somit der vorliegenden einstweiligen Anordnung der Kostenvoranschlag vom 19.04.2023 zugrunde gelegt werden.

Im Hinblick auf die überwiegende Erfolgsaussicht in der Hauptsache genügt nach alledem für die Anerkennung eines Anordnungsgrundes, dass die Antragstellerin nicht in der Lage ist, die für die Pflege und Unterstützung in häuslicher Umgebung erforderlichen Gelder vorzustrecken.

Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, darüber zu befinden, ob sich ein Sozialsystem, das behinderten Menschen ohne Rücksicht auf die Kosten im Einzelfall ein so hohes Maß an Selbstbestimmung garantiert, auf Dauer finanzierbar ist und ob genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen, um den sich daraus ergebenden Pflegebedarf abzudecken. Dies zu beurteilen und die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen, ist Sache des parlamentarischen Gesetzgebers. Das geltende Recht kennt jedenfalls keinen allgemeinen "Kostenvorbehalt".

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG; das Antragsverfahren ist gerichtskostenfrei (§ 183 SGG).

 

 

 

 

 

 

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