S 36 U 38/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
36
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 36 U 38/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Es wird unter Aufhebung des Bescheids vom 31.08.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.01.2022 festgestellt, dass die COVID-19-Infektion der Klägerin eine Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV ist.

 Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Die am 1974 geborene Klägerin ist seit April 2019 als Kinderpflegerin in der Städtischen Kindertageseinrichtung in Oberhausen beschäftigt, wobei sie in einer Gruppe mit 26 Kindern und einer weiteren Fachkraft arbeitet. Am 24.03.2021 fühlte sie sich matt und kraftlos. Am 26.03.2021 verließ sie sodann ihre Arbeitsstelle vorzeitig, da zu der Kraftlosigkeit ein Schnupfen hinzukam. Am 31.03.2021 wurde die Klägerin sodann mittels PCR-Test positiv auf eine COVID-19-Infektion getestet. Seit der Genesung leidet die Klägerin nunmehr unter Kurzatmigkeit und eines Verlusts des Geschmacks- und Geruchssinns.

Die Stadtverwaltung Oberhausen zeigte mit Unfallanzeige vom 05.05.2021 die COVID-19-Infektion der Klägerin bei der Beklagten an. 

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.08.2021 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK 3101 bei der Klägerin ab. Zur Begründung gab die Beklagte an, dass weder eine Indexperson bekannt sei noch ein positives Testergebnis bei der Beklagten vorliege. Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Erkrankung an COVID-19 als eine Berufskrankheit könnten damit nicht nachgewiesen werden.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 13.09.2021 Widerspruch unter Beifügung einer Bescheinigung des Landrats des Kreises Wesel vom 07.05.2021, mit der der Klägerin ein positives PCR-Testergebnis vom 31.03.2021 und damit eine nachgewiesene Immunisierung nach einer Infektion mit dem COVID-19-Erreger bescheinigt wurde. Des Weiteren führte sie zur Begründung ihres Widerspruchs aus, dass die Nennung einer Indexperson unmöglich sei. Zum Zeitpunkt ihrer Infektion sei die Anzahl der Kinder in der von ihr betreuten Gruppe bereits wegen Krankheiten vieler Kinder, die von ihren Eltern krank aus der Einrichtung haben abgeholt werden müssen, sehr begrenzt gewesen. Aufgrund des Unwohlseins der kranken Kinder sei es der Klägerin unmöglich gewesen, Abstand zu halten, da auch die schniefenden Nasen der Kinder haben geputzt werden müssen. Zudem sei in der Gruppe viel gehustet und geniest worden. Eine Testpflicht für die Kinder habe es zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben. Die Klägerin selbst habe sich während der Pandemie in ihrem privaten Bereich massiv eingeschränkt.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.2022 zurück. Für die Anerkennung der BK 3101 bedürfe es des Nachweises eines Verursachungszusammenhangs zwischen dem versicherten erhöhten Infektionsrisiko und dem Eintritt der Erkrankung. Dieser Nachweis sei erbracht, wenn die berufliche Verursachung überwiegend wahrscheinlich ist. Dieses Erfordernis sei in der Regel gegeben, wenn die versicherte Person während des in Frage kommenden Ansteckungszeitraums bei der versicherten Tätigkeit Kontakt zu mindestens einer nachgewiesenen Infektionsquelle hatte, nach der Art des Kontakts eine Infektionsübertragung dabei konkret möglich war und Umstände aus dem unversicherten Bereich oder eine ausgeprägte Allgegenwärtigkeit des Infektionserregers einem Schluss des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit nicht entgegenstehen. Die Klägerin hingegen habe bei ihrer versicherten Tätigkeit keinen Kontakt zu mindestens einer nachgewiesenen Infektionsquelle gehabt. Die bloße Möglichkeit einer berufsbedingten COVID-19-Infektion genüge nicht für den Nachweis des Verursachungszusammenhangs. Zudem stehe die ausgeprägte Allgegenwärtigkeit des Infektionserregers einem Verursachungszusammenhang entgegen.

Am 03.02.2022 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

Zur Begründung ihrer Klage trägt sie vor, sie sei als Kinderpflegerin in einer Kindertageseinrichtung einer besonders hohen Infektionsgefahr ausgesetzt gewesen. Es komme hierbei nicht darauf an, wie viele Personen zum fraglichen Zeitpunkt an der Arbeitsstätte tatsächlich positiv getestet wurden, sondern darauf, dass sie infolge der Ausübung der beruflichen Tätigkeit einer gegenüber der allgemeinen Bevölkerung wesentlich erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt war. Der Tätigkeit der Klägerin sei zudem immanent, dass Schutzmaßnahmen wie Abstandsregelungen, Testpflichten und Maskenpflichten nicht greifen. Zudem habe es in der Kindertagesstätte keine Anwesenheitspflicht der Kinder gegeben, sodass ein erkranktes Kind mehrere Tage zu Hause geblieben sei, ohne die Einrichtung über die Erkrankung zu informieren. Ferner leide ihr Sohn unter ADHS und Autismus, weshalb sie in ihrem privaten Alltag besonders auf jegliche Sicherheit bedacht gewesen sei, um ihren Sohn nicht zu ängstigen. So habe sie in dem fraglichen Zeitraum privat ausschließlich Kontakt zu ihrem Sohn gehabt, der die gesamte Zeit über negativ getestet worden sei.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 31.08.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.01.2022 aufzuheben und festzustellen, dass ihre COVID-19-Infektion eine Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV ist.

Die Beklagte beantragt,

            die Klage abzuweisen.

Eine signifikant erhöhte Infektionsgefahr sei im maßgeblichen Infektionszeitraum bei der Tätigkeit als Erzieherin in einer Kindertagesstätte nicht feststellbar. Eine derartige signifikant erhöhte Infektionsgefahr dürfte nur dann gegeben sein, wenn der nahe Umgang mit einer konkreten Indexperson gesichert ist, was jedoch vorliegend nicht festgestellt worden sei. Zudem habe im Rahmen der Corona-Pandemie bereits ein erhebliches Infektionsrisiko der Allgemeinbevölkerung bestanden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Inhalte sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, dass ihre COVID-19-Infektion gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i.V.m. der Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV eine Berufskrankheit ist.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Krankheiten Berufskrankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden.

Als BK 3101 werden Infektionskrankheiten bezeichnet, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war.

Die Bezeichnung einer bestimmten Krankheit als Berufskrankheit bedeutet jedoch zunächst nur, dass sie rechtlich generell geeignet ist, eine Berufskrankheit zu sein. Im Einzelfall ist sie es nur, wenn ihre Ursache im Sinne der Lehre von der rechtlich wesentlichen Ursache nachweislich in der versicherten Tätigkeit liegt. Die allgemeine berufliche Gefährdung ersetzt also nicht die Notwendigkeit des Zusammenhangsnachweises im Einzelfall. Danach müssen die versicherte Tätigkeit, die dadurch bedingte Exposition gegenüber einer schädigenden Einwirkung sowie eine Krankheit der jeweiligen Listen-Berufskrankheit mit Vollbeweis bewiesen sein (Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 82. EL 2014, § 9 SGB VII Rn. 27). Voller Beweis verlangt volle Überzeugung, das heißt, die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit (BSGE 45, 285, 286 = SozR 2200 § 548 Nr. 38 m.w.N.). Dass die jeweilige Listenkrankheit rechtlich wesentlich auf die im Vollbeweis gesicherten beruflichen Einwirkungen ursächlich zurückzuführen ist, muss demgegenüber hinreichend wahrscheinlich sein. Hinreichende Wahrscheinlichkeit erfordert deutlich überwiegende Gründe für die Annahme einer Tatsache. Sie bedeutet, dass deutlich mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang sprechen muss. Die bloße Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen bzw. wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und auch ernste Zweifel im Hinblick auf eine andere Verursachung ausscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 20.01.1977, Az.: R 8 U 52/76, SozR 2200 § 548 Nr. 27).

Bei der BK 3101 besteht im Gegensatz zu anderen BKen die Besonderheit, dass die schädliche Einwirkung, also der Ansteckungsvorgang, bei dem die Infektionskrankheit übertragen wurde, ein einmaliges, punktuelles Ereignis darstellt und keine Exposition vorliegt, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Dieses einmalige Ereignis kann häufig im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden, da meistens verschiedene Infektionsquellen und Übertragungswege denkbar sind, ohne dass sich feststellen lässt, bei welcher Verrichtung es tatsächlich zu der Ansteckung gekommen ist. Um diesen Nachweisschwierigkeiten zu begegnen, genügt bei der BK 3101 als „Einwirkungen“, dass der Versicherte einer der versicherten Tätigkeit innewohnenden Infektionsgefahr besonders ausgesetzt war (BSG, Urteil vom 02.04.2009 –B 2 U 30/07 R-, juris, Rn. 18). Diese erhöhte Infektionsgefahr muss, da sie anstelle der „Einwirkungen“ tritt, im Vollbeweis vorliegen (a.a.O., Rn. 20).

Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen ist das Vorliegen einer BK 3101 bei der Klägerin zur Überzeugung der Kammer nachgewiesen, da die Klägerin im Zeitpunkt der Infektion in der Wohlfahrtspflege tätig war (1.), sie aufgrund dieser Tätigkeit einer besonders erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt gewesen ist (2.) und diese Infektionsgefahr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu der COVID-19-Infektion der Klägerin geführt hat (3.).

1.

Als Kinderpflegerin in einer Städtischen Kindertageseinrichtung war die Klägerin zum Zeitpunkt der Infektion im März 2021 in der Wohlfahrtspflege tätig. Wohlfahrtspflege wird definiert als die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte vorbeugende oder abhelfende unmittelbare Betreuung von gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdeten Menschen (Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), Stand Dezember 2022, M 3101, S. 15). Eine städtisch betriebene Kindertageseinrichtung, in der Kinder betreut werden, wird zum Wohle der Allgemeinheit ausgeübt und fällt daher unter diesen Begriff (a.a.O., S. 16).

2.

Die Klägerin war auch aufgrund ihrer Tätigkeit als Kinderpflegerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer besonders erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt. Eine solche besondere Infektionsgefahr kann sich im Einzelfall aufgrund der Durchseuchung des Umfelds der Tätigkeit oder der Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen ergeben. Der Grad der Durchseuchung ist hierbei hinsichtlich der kontaktierten Personen als auch der Objekte festzustellen, mit oder an denen zu arbeiten ist. Lässt sich das Ausmaß der Durchseuchung nicht aufklären, kann aber das Vorliegen eines Krankheitserregers im Arbeitsumfeld nicht ausgeschlossen werden, ist vom Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung auszugehen (BSG, Urteil vom 02.04.2009 –B 2 U 30/07 R-, juris, Rn. 22). Das Kriterium der mit der versicherten Tätigkeit verbundenen Übertragungsgefahr richtet sich nach dem Übertragungsmodus der jeweiligen Infektionskrankheit sowie der Art, der Häufigkeit und der Dauer der vom Versicherten verrichteten gefährdenden Handlungen. Daneben sind die individuellen Arbeitsvorgänge zu beachten, wobei es darauf ankommt, welche einzelnen Arbeitshandlungen im Hinblick auf den Übertragungsweg besonders gefährdend sind (a.a.O., Rn. 23). Stehen die Durchseuchung des Arbeitsumfelds auf der einen und die Übertragungsgefahr der versicherten Verrichtungen auf der anderen Seite fest, stehen diese sodann in einer Wechselbeziehung zueinander. An den Grad der Durchseuchung können daher umso niedrigere Anforderungen gestellt werden, je gefährdender die spezifischen Arbeitsbedingungen sind. Je weniger hingegen die Arbeitsvorgänge mit dem Risiko der Infektion behaftet sind, umso mehr gelangt das Ausmaß der Durchseuchung an Bedeutung. Allerdings muss zumindest die Möglichkeit einer Infektion bestehen. Im Anschluss ist im Wege einer Gesamtbetrachtung der Durchseuchung und der Übertragungsgefahr festzustellen, ob sich im Einzelfall eine Infektionsgefahr ergibt, die nicht nur geringfügig erhöht ist, sondern in besonderem Maße über der Infektionsgefahr in der Gesamtbevölkerung liegt (a.a.O., Rn. 24).

Hinsichtlich des Durchseuchungsgrades ist im konkreten Fall in der KiTa der Klägerin im März 2021 vom Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung auszugehen, da sich das Ausmaß der Durchseuchung in der KiTa zu diesem Zeitpunkt nicht aufklären lässt. So wurden die Kinder in der KiTa nicht getestet, weshalb nicht ermittelbar ist, wie viele Kinder im März 2021 tatsächlich an COVID-19 erkrankt waren. Aufgrund der hohen Durchseuchung der Gesamtbevölkerung zu diesem Zeitpunkt kann das Vorliegen eines Krankheitserregers in der KiTa im März 2021 aber auch nicht ausgeschlossen werden.

Bei den ausgeübten Verrichtungen der Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit als Kinderpflegerin bestand hingegen eine hohe und besondere Übertragungsgefahr. So hat die Klägerin glaubhaft angegeben, dass viele der betreuten Kinder Krankheitssymptome gezeigt haben und zudem die empfohlenen Schutzmaßnahmen nur sehr eingeschränkt eingehalten werden konnten. Die Klägerin habe täglich Kontakt mit Kindern gehabt, die COVID-19-spezifische Symptome in Form von Husten und Schnupfen gezeigt haben. Gerade die kleineren Kinder halten sich auch beim Husten und Niesen keinen Arm bzw. die Hand vor den Mund, sondern husten und niesen in den Raum, sodass die Erreger besonders schnell auf eine andere Person übergreifen können. Die kranken Kinder sind dann zwar von ihren Eltern abgeholt, aber teilweise schon nach wenigen Tagen wieder in die KiTa gebracht worden. In der KiTa selbst wurden die Kinder nicht auf eine COVID-19-Infektion getestet, vielmehr wurden die Eltern angehalten, dies regelmäßig zu tun. Ob die Eltern jedoch tatsächlich ihre Kinder regelmäßig getestet haben, kann nicht nachvollzogen werden.

Auch die Schutzmaßnahme des Tragens einer medizinischen Maske wurde nicht konsequent eingehalten. Die Kinder selbst haben den Angaben der Klägerin zufolge keine Masken getragen. Die Erzieherinnen hingegen haben zwar teilweise eine Maske getragen, aber auch nicht durchgehend, da dies bei gewissen Tätigkeiten, wie beispielsweise beim gemeinsamen Frühstück, nicht möglich war. Die Klägerin hat zudem für die Kammer glaubhaft geschildert, dass sie ihre Maske auch bei Unterhaltungen mit den Kindern des Öfteren abgenommen hat, da für die Kinder auch die Mimik bei einer Unterhaltung wichtig sei.

Zudem konnten aufgrund der Art und Weise der von der Klägerin vorgenommenen Verrichtungen als Kinderpflegerin auch die gebotenen Abstandsregelungen nicht eingehalten werden. Dies sei zwar in der Regel versucht worden, aber bei gewissen Tätigkeiten schlicht nicht möglich. So wurden die Kinder trotz des Infektionsrisikos in den Arm genommen und gestreichelt und getröstet. Des Weiteren wurden Spiele mit den Kindern gespielt, bei denen die Einhaltung eines Abstands nicht möglich war. Bei den kranken Kindern habe die Klägerin auch die Nasen geputzt, wenn die Kinder selbst noch zu klein waren, um dies selbst zu tun.

Verglichen mit Personen, die berufliche Tätigkeiten ausüben, bei denen Masken getragen, die erforderlichen Abstände eingehalten und den Testpflichten nachgekommen wurde, hatte die Klägerin zur Überzeugung der Kammer damit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine besonders erhöhte Gefahr, sich mit COVID-19 zu infizieren. Aufgrund der Häufigkeit und der Intensität der Kontakte mit teilweise symptomatischen Kindern, gepaart mit der mangelhaften Einhaltung der empfohlenen Schutzmaßnahmen, ist die Tätigkeit der Klägerin in Bezug auf die Infektionsgefahr mit COVID-19 nach Auffassung der Kammer vergleichbar mit einer Tätigkeit als Krankenpfleger*in oder Mitarbeiter*in in einem Testzentrum oder einem Laboratorium. So sind generell in Kinderbetreuungseinrichtungen wegen des Alters der Kinder und der engen persönlichen Kontakte immer wieder Ansteckungshäufigkeiten (ähnlich wie in Pflegeeinrichtungen) zu erwarten, die auch für das Personal eine Gefährdung darstellen können (Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), Stand Dezember 2022, M 3101, S. 16). Zudem erscheint im Hinblick auf die relativ hohe Rate symptomloser Verläufe gerade bei infizierten Kindern, aber gegebenenfalls auch hinsichtlich der umfangreichen Kontakte mit anderen Personen beim Bringen und Abholen der Kinder, ein besonderes Risiko der Infektion mit COVID-19 begründbar (a.a.O., S. 104). Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang vorbringt, die bisher durchgeführten Studien ließen eine besonders erhöhte Infektionsgefahr bei Kinderpflegerinnen nicht erkennen, so hat die Kammer erhebliche Bedenken hinsichtlich der Aussagekraft dieser Studien. Wie auch die Klägerin dargelegt hat, gab es für die Kinder in den Kinderbetreuungseinrichtungen keine Testpflichten, weshalb davon auszugehen ist, dass in diesem Bereich eine erhebliche Anzahl an COVID-19-Infektionen bestanden hat, die unentdeckt geblieben sind und damit von den Statistiken nicht erfasst wurden, insbesondere auch im Hinblick auf den bereits angeführten oft symptomlosen Verlauf bei infizierten Kindern. Nach Auffassung der Kammer können diese Studien daher nicht herangezogen werden, um eine besonders erhöhte Infektionsgefahr für Kinderpfleger*innen zu verneinen. Dies wird auch bekräftigt durch die Pressemitteilung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK vom 09.03.2021, wonach Berufe in der Kindererziehung und Gesundheitsberufe im Jahr 2020 am stärksten von COVID-19 betroffen gewesen seien. Demnach seien in der Berufsgruppe der Betreuung und Erziehung von Kindern von März bis Dezember 2020 4.490 je 100.000 AOK-versicherte Beschäftigte im Zusammenhang mit COVID-19 krankgeschrieben worden, womit der Wert dieser Berufsgruppe mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnittswert aller Berufsgruppen (2.127 Betroffene je 100.000 AOK-versicherte Beschäftigte) lag. Dass diese Auswertung den von der Beklagten angeführten Studien zuwiderläuft, zeigt wiederum, dass aufgrund hoher Dunkelziffern keine verlässlichen Aussagen über das tatsächliche Ausmaß der COVID-19-Infektionen in Kinderbetreuungseinrichtungen getroffen werden können.

Auch die von der Beklagten in Bezug genommenen gerichtlichen Entscheidungen betreffend die Anerkennung einer BK 3101 bei einer Infektion mit COVID-19 vermögen die Kammer nicht zu überzeugen. In der Entscheidung des SG Augsburg vom 29.11.2022 (SG Augsburg, Urteil vom 29.11.2022 –S 11 U 92/22-) handelte es sich bei dem Kläger um einen Mitarbeiter in einem Jobcenter, der bei seiner Beratungstätigkeit regelmäßig hohe Schutzvorkehrungen wie Maskentragepflicht, Abstandsregeln, eine Plexiglas-Abtrennung und regelmäßiges Lüften treffen konnte. Eine Vergleichbarkeit mit dem vorliegenden Fall der Klägerin als Kinderpflegerin ist daher nicht gegeben. In einem weiteren Urteil des SG Augsburg (SG Augsburg, Urteil vom 17.11.2022 –S 18 U 65/22-) hat das Gericht die Anerkennung einer COVID-19-Infektion als BK 3101 bei einer als Betreuungskraft im Alten- und Pflegeheim tätigen Person mit der Begründung abgelehnt, dass auch bei einer Berufskrankheit der Kontakt mit an COVID-19 erkrankten Patienten oder Kollegen im beruflichen Zusammenhang nachgewiesen werden muss, damit eine Anerkennung erfolgen kann. Eine weitergehende Begründung für dieses Beweiserfordernis stellt das SG Augsburg jedoch nicht auf. Vielmehr steht diese Aussage im direkten Widerspruch zu der Auffassung des BSG, wonach der Nachweis einer infizierten Kontaktperson bei gleichzeitiger übertragungsgefährdender Tätigkeit das Vorliegen einer besonders erhöhten Infektionsgefahr zwar nahelegt, dieser Schluss jedoch nicht zwingend ist (BSG, Urteil vom 02.04.2009 –B 2 U 30/07 R-, juris, Rn. 24). In seiner gesamten Entscheidung hat das BSG nie das Erfordernis aufgestellt, dass der Kontakt mit einer Indexperson nachgewiesen sein muss, vielmehr muss ausschließlich die besonders erhöhte Infektionsgefahr im Vollbeweis vorliegen, die jedoch, wie bereits dargelegt, nicht zwangsläufig den Kontakt mit einer Indexperson erfordert. Würde man ein derartiges Erfordernis aufstellen, ergäbe sich auch kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Vorliegen einer BK 3101 und eines Arbeitsunfalls, da dann in beiden Fällen der Kontakt mit einer Indexperson im Vollbeweis nachgewiesen werden müsste. Dies würde dem Sinn und Zweck der BK 3101 zuwiderlaufen, für die dann kein eigener Anwendungsbereich mehr vorliegen würde.

Aus einem ähnlichen Grund vermag auch die Entscheidung des SG Chemnitz (SG Chemnitz, Urteil vom 29.03.2023 –S 2 U 169/22-) die Kammer nicht zu überzeugen. Auch dieses Gericht hat eine besonders erhöhte Infektionsgefahr zunächst aus dem Grund verneint, dass keine Indexperson nachgewiesen werden konnte. Im Folgenden hat es ausgeführt, dass der Kausalzusammenhang ohne Nachweis einer konkreten Infektionsquelle nur dann wahrscheinlich sein könne, soweit Versicherte während der infrage kommenden Ansteckungszeit einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Infektionsgefahr ausgesetzt waren. Anhaltspunkte für eine besonders hohe Infektionsgefahr im Rahmen der konkreten Tätigkeit der als Kinderpflegerin tätigen Klägerin seien jedoch nicht ersichtlich. Aus welchem Grund derartige Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind, hat das SG Chemnitz jedoch bedauerlicherweise nicht weiter ausgeführt. So wird in dem Urteil weder auf die der Tätigkeit immanenten Ansteckungsgefahren noch auf die fehlenden Schutzmaßnahmen eingegangen, obwohl diese elementar für die Beurteilung der besonders erhöhten Infektionsgefahr sind.

3.

Die besonders erhöhte Infektionsgefahr der Klägerin im vorliegenden Fall hat auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu deren COVID-19-Infektion geführt. Liegen, wie hier, eine durch die versicherte Tätigkeit bedingte besonders erhöhte Infektionsgefahr und die Infektionskrankheit vor, nimmt der Verordnungsgeber typisierend an, dass die Infektion während und wegen der Gefahrenlage erfolgte und die Krankheit wesentlich verursacht hat. Für diese Typisierung ist allerdings dann kein Raum, wenn eine Infektion während oder aufgrund der versicherten Verrichtungen und damit der unterstellte Ursachenzusammenhang ausgeschlossen ist. Ferner muss der Zeitpunkt der Infektion in den Zeitraum der Ausübung der gefährdenden Arbeitsvorgänge fallen. Zudem ist der Ursachenzusammenhang nicht gegeben, wenn ein anderes, dem privaten Lebensbereich zuzuordnendes Infektionsrisiko die Erkrankung verursacht hat (BSG, Urteil vom 02.04.2009 –B 2 U 30/07 R-, juris, R. 34).

Nach diesen Grundsätzen ist die haftungsbegründende Kausalität im vorliegenden Fall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben. Zwar ist hier zu berücksichtigen, dass im Zeitpunkt der Infektion der Klägerin im März 2021 ein hoher Infektionsgrad der Allgemeinbevölkerung mit COVID-19 bestanden hat. Allerdings hat die Klägerin für die Kammer glaubhaft dargelegt, dass sie im privaten Bereich jegliche engeren privaten Kontakte vermieden hat. Da ihr Sohn unter Autismus leide und enorme Angst vor einer Infektion mit dem Virus gehabt habe, habe sie ausschließlich notwendige Besorgungen gemacht, bei denen sie durchgehend eine medizinische Maske getragen und die Hygienevorschriften eingehalten habe. Das Risiko einer Infektion kann damit selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber zumindest nicht unwesentlich reduziert werden. Ihr Sohn selbst sei lediglich zur Schule gegangen, wobei er jedoch täglich getestet wurde und, bis zum heutigen Tage, stets negativ gewesen sei. Nach Auffassung der Kammer spricht damit deutlich mehr dafür als dagegen, dass sich die Klägerin auf ihrer Arbeitsstelle und nicht im privaten Bereich mit dem Virus infiziert hat.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

 

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

 

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

 

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen

 

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

 

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

 

Sozialgericht Duisburg, Mülheimer Straße 54, 47057 Duisburg

 

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

 

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

 

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

 

- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist und über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht wird oder

 

- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird.

 

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Über das Justizportal des Bundes und der Länder (www.justiz.de) können nähere Informationen abgerufen werden.

 

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Verfahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann.

 

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Duisburg schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

 

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

 

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.

 

Schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, sind als elektronisches Dokument zu übermitteln. Ist dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen; auf Anforderung ist ein elektronisches Dokument nachzureichen. Gleiches gilt für die nach dem Sozialgerichtsgesetz vertretungsberechtigten Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Abs. 4 Nr. 2 SGG zur Verfügung steht (§ 65d SGG).

 

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