Entschließungs- und Auswahlermessen bei Verhängung von Ordnungsgeld gegen Verfahrensbeteiligte – Eigene Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Koblenz (RPF)
Aktenzeichen
S 6 AS 160/22
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 3 AS 39/23 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Bei der Festsetzung eines Ordnungsgelds gegen einen trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens ausgebliebenen Beteiligten steht dem Gericht nicht nur ein die Höhe des zu verhängenden Ordnungsgeldes betreffendes Auswahl-, sondern auch ein Entschließungsermessen zu.

2. Im Verfahren über die Beschwerde gegen einen Ordnungsgeldbeschluss trifft das Beschwerdegericht eine eigene Ermessensentscheidung.

3. Im Beschluss über die Beschwerde ist jedenfalls in kostenfreien Verfahren nach § 183 Abs. 1 SGG eine Kostengrundentscheidung zu treffen.

1. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 8.2.2023 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht (SG) hat im Ergebnis zu Recht ein Ordnungsgeld von 300,00 € gegen die Beschwerdeführerin verhängt.

1. Rechtsgrundlagen des Ordnungsgelds gegen Beteiligte sind §§ 141 Abs. 3, 380, 381 Abs. 1 ZPO jeweils i.V.m § 202 SGG. Danach kann das Gericht gegen einen Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, ein Ordnungsgeld festsetzen, wenn er ohne genügende Entschuldigung zum Termin nicht erschienen ist.

2. Die Klägerin war ordnungsgemäß unter Anordnung ihres persönlichen Erscheinens zu einem Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage geladen (§ 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7 SGG) und in der Ladung auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden (§ 141 Abs. 3 Satz 3 ZPO iVm § 202 SGG). Sie ist ohne genügende Entschuldigung nicht zum Termin erschienen.

3. Somit war über die Festsetzung eines Ordnungsgelds in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ("kann") zu entscheiden. Hierbei steht dem Gericht nicht nur ein die Höhe des zu verhängenden Ordnungsgeldes betreffendes Auswahl-, sondern auch ein Entschließungsermessen zu (vgl. dazu Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 111 Rn. 6a). Der angefochtene Beschluss lässt indes nicht erkennen, dass Ermessen ausgeübt wurde. Vielmehr legen seine Gründe nahe, dass das SG zu Unrecht von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist, Ermessen also überhaupt nicht ausgeübt hat.

a. Der Ermessensausfall führt jedoch nicht zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, denn der Senat trifft im Rahmen der Beschwerde eine eigene Ermessensentscheidung, die hier dem Ergebnis des sozialgerichtlichen Beschlusses entspricht. Auf eine zulässige Beschwerde prüft das Landessozialgericht (LSG) den Sachverhalt entsprechend §157 SGG in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht im gleichen Umfang wie das SG. Es hat auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen. Das gilt auch bei gerichtlichen Ermessensentscheidungen (so überzeugend BayLSG, Beschluss vom 19.12.2012 – L 15 SB 123/12 B – juris Rn. 22 ff; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.6.2016 – L 11 KA 22/16 B – juris Rn. 11; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28.8.2018 – L 11 R 183/18 B – juris Rn. 12; ThürLSG, Beschluss vom 25.9.2019 ‑ L 5 SB 746/17 B – juris Rn. 13 ff.; Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl, § 176 Rn. 4; anderer Ansicht: SächsLSG, Beschluss vom 28.7.2015 – L 3 BK 2/13 B – juris Rn. 25; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.8.2020 – L 14 AS 870/20 B – juris Rn. 13; Jungeblut in BeckOK Sozialrecht, SGG § 176 Rn. 5 m.w.N.; diff. Hahn in Roos/Warendorf/Müller, BeckOGK-SGG, § 176 Rn 16: nur bei neuer Tatsachengrundlage und bei Ermessensfehlern der ersten Instanz). An seiner früher vertretenen gegenteiligen Ansicht (Beschlüsse vom 7.8.2014 – L 3 AS 258/14 B ‑ und vom 5.4.2022 ‑ L 3 AS 28/22 B) hält der Senat nicht fest.

b. Bei der Entscheidung, ob ein Ordnungsgeld verhängt wird, ist zunächst zu berücksichtigen, welchen Zweck die Anordnung des persönlichen Erscheinens hatte. Zwar teilt das SG in seinem Beschluss auch darüber nichts mit. Jedoch ergibt sich der Zweck der Anordnung hier aus der Ladung zur "Erörterung der Sach- und Rechtslage". Diese war auch grundsätzlich erforderlich. Denn die Klägerin und Beschwerdeführerin hatte zunächst Klage gegen den „Bescheid vom 14.2.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3.3.2022“ erhoben, später in ihrem Schriftsatz vom 18.9.2022 aber erklärt, sie wolle „gegen unsere Ex Vermieterin“ klagen. Auf die Nachfrage des SG vom 20.9.2022 hatte die Klägerin nicht geantwortet. Die Anberaumung eines Erörterungstermins war bei dieser Sachlage angezeigt.

c. Die hinsichtlich des Klagebegehrens notwendige Aufklärung des Sachverhalts wurde durch das Ausbleiben der Beschwerdeführerin im Erörterungstermin vereitelt und muss noch erfolgen. Im Rahmen des Ermessens wäre gleichwohl von der Verhängung eines Ordnungsgelds abzusehen, wenn die Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf den Zweck der Anordnung des persönlichen Erscheinens die Ordnungsmaßnahme unangemessen erschienen ließen (vgl. z.B. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.1.2009 – L 13 AS 5633/08 B – juris Rn. 2 f.). Solche Umstände wurden hier in beiden Instanzen nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich. Weder wurde die erforderliche Aufklärung anderweitig bewirkt noch wurden Tatsachen bekannt, die eine Entschuldigung des Ausbleibens der Klägerin begründen könnten oder sonst das Gericht zu einer Aufhebung des Erörterungstermins hätten veranlassen können. Die Klägerin hat nach ihren Worten den Termin „schlichtweg vergessen“, was keinen Entschuldigungs- oder Aufhebungsgrund darstellt.

4. Droht, wie hier, ein Bundesgesetz Ordnungsgeld oder Zwangsgeld an, ohne dessen Mindest- oder Höchstmaß zu bestimmen, so beträgt das Mindestmaß 5,00 € und das Höchstmaß 1.000,00 € (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch ‑ EGStGB). Maßgeblich für die Höhe sind der Grad des Verschuldensvorwurfs und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Beteiligten. Die Umstände, die für oder gegen den Betroffenen sprechen, sind gegeneinander abzuwägen. In der Regel bedarf es keiner eingehenden Begründung der Ermessensentscheidung, wenn sich das Ordnungsgeld im unteren Mittel des vorgegebenen Rahmens bewegt (Bayerisches LSG, Beschluss vom 10.03.2014 – L 2 AL 23/13 B, juris, Rn. 22, SächsLSG, Beschluss vom 3.4.2017 – L 7 AS 919/16 B – juris Rn. 18). Der Senat hält ebenso wie das SG auch in Anbetracht der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin ein Ordnungsgeld von 300,00 € für angemessen.

5. Im Verfahren über die Beschwerde gegen einen Ordnungsgeldbeschluss ist – unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um ein kontradiktorisches Verfahren handelt ‑ jedenfalls in kostenfreien Verfahren nach § 183 Abs. 1 SGG eine Kostengrundentscheidung zu treffen. Denn das Beschwerdeverfahren stellt eine „besondere Angelegenheit“ i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes dar (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.8.2020 – L 14 AS 870/20 B – juris Rn. 23; BSG, Beschluss vom 1.4.2009 – B 14 SF 1/08 R – juris Rn. 19 f. zum Fall der Rechtswegbeschwerde; a.A. zum Fall der Rechtsbeschwerde: BGH, Beschluss vom – VI ZB 4/07 – juris Rn. 23). Im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz spielt es für die Frage nach der Erforderlichkeit einer Kostenentscheidung keine Rolle, ob im Beschwerdeverfahren eine anwaltliche Vertretung stattgefunden hat (LSG Berlin-Brandenburg a.a.O.).

Da die Beschwerde erfolglos bleibt, kommt eine Erstattung außergerichtlicher Kosten der Beschwerdeführerin nicht in Betracht. Es kann dahinstehen, auf welcher Rechtsgrundlage (Rechtsgedanke des § 46 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO oder § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG, vgl. dazu Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl, § 111 Rn. 6c; Bayerisches LSG vom 5.2.2010 – L 2 R 515/09 B – juris Rn. 13; offengelassen von LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.8.2020 – L 14 AS 870/20 B – juris Rn. 24) eine der Beschwerdeführerin günstige Kostenentscheidung beruhen würde.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
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