S 7 AS 3568/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 3568/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X ist auch dann hinreichend bestimmt im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 28.10. 2014, Az. B 14 AS 39/13 R, und Urteil vom 13.2.2014, Az. B 4 AS 22/13 R), wenn er sich auf einen nach § 41a Abs. 1 SGB II vorläufigen Leistungsbescheid über Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II bezieht, der vor Antragstellung nach § 44 SGB X bereits durch einen endgültigen Leistungsbescheid nach § 41a Abs. 3 SGB II ersetzt wurde, so lange aus dem Antrag zweifelsfrei hervorgeht, für welchen Zeitraum und unter welchem Aspekt die bisherige Leistungsbewilligung überprüft werden möge.

 

  1. Etwas anderes gilt nur, wenn der Antragsteller durch den Leistungsträger darauf hingewiesen wurde, dass der zu überprüfende Bescheid sich erledigt hat bzw. ersetzt worden ist, und der Betroffene gleichwohl darauf beharrt, dass der erledigte Bescheid –  und nicht der aktuell geltende Bescheid - überprüft werden solle (Anschluss an LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7.2.2022, Az. L 9 AS 258/19).

 

  1. § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II ordnet an, dass ein bestandskräftiger, rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, für den die in § 44 Absatz 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme vorliegen, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist, nur mit Wirkung ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen ist.

 

  1. Die zur Parallelvorschrift des § 330 Abs. 1 SGB III ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 8.2.2007, B 7a AL 2/06), nach der eine neue ständige Rechtsprechung bereits rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung nach § 44 SGB X anzuwenden ist, auch wenn dieser Zeitpunkt vor dem Entstehen der neuen ständigen Rechtsprechung liegt, ist auf den Bereich des SGB II nicht übertragbar. Dies gilt zumindest für diejenigen Leistungen nach dem SGB II, für die nicht die Bundesagentur für Arbeit nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II zuständig ist, wie etwa für die Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II, die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II Leistungen in der Zuständigkeit der kommunalen Träger sind.

 

 

 

1. Die Klage wird abgewiesen.

 

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

3. Die Berufung wird zugelassen.

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

 

Die Beteiligten streiten im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X über die Gewährung von höheren laufenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum 1.3. –  31.8.2019 unter dem Aspekt der Kosten der Unterkunft für einen PKW-Stellplatz.

 

Die Kläger - eine Mutter und ihre drei unter 25 Jahre alten, unverheirateten Kinder, davon ein Kind unter 18 Jahren –  bildeten im streitgegenständlichen Zeitraum eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 SGB II und bezogen als solche laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld) vom Beklagten. Diese Leistungen waren ihnen für den Zeitraum 1.3. –  31.8.2019 bzw. für Teile desselben mit Bescheiden vom 4.3.2019, 10.4.2019 (1.5. –  31.8.2019), 30.4.2019 (1.6. –  31.8.2019), 10.5.2019 (1. –  31.5.2019) und 1.6.2019 (1.7. –  31.8.2019) zunächst nach § 41a SGB II vorläufig bewilligt worden. Grund für die Vorläufigkeit war die schwankende Höhe der von der Klägerin zu 1. sowie von der Klägerin zu 2. bezogenen Erwerbseinkommen. Im Rahmen der Kosten der Unterkunft und Heizung berücksichtigte der Beklagte die gesamte von der Familie für die von ihr bewohnte Mietwohnung … in F. zu entrichtende Kaltmiete in Höhe von monatlich 561,64 € als Bedarf, ebenso die Heiz- und sonstigen Nebenkosten, letztere allerdings abzüglich von monatlich 45,00 €, die die Familie laut Mietvertrag für den der Wohnung zugeordneten PKW-Stellplatz zu entrichten hatte.

 

Durch Bescheid vom 18.6.2020 bewilligte der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum 1.3. –  31.8.2019 nach § 41a Abs. 3 SGB II endgültig. Wiederum wurden 45,00 € monatliche Kosten für den PKW-Stellplatz nicht als Bedarf berücksichtigt.

 

Sämtliche der genannten Bescheide wurden bestandskräftig.

 

Am 29.12.2020 beantragten die Kläger durch ihren Bevollmächtigten nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ausdrücklich die Aufhebung der Bescheide vom 4.3.2019, 10.4.2019, 30.4.2019, 10.5.2019 und 1.6.2019 und die Gewährung höherer Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum 1.3. –  31.8.2019, nämlich unter Berücksichtigung auch der monatlichen 45,00 € für den PKW-Stellplatz.

 

Am 19.5.2021 erging ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Kosten für einen PKW-Stellplatz bei einer Mietwohnung im Rahmen der Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II als Bedarf berücksichtigt werden müssen (Az. B 14 AS 39/20 R). Das BSG entschied hierzu, dass Kosten für einen PKW-Stellplatz oder eine entsprechende Garage, die mietvertraglich geschuldet werden, als Bedarf für Unterkunft im Rahmen des § 22 SGB II anzuerkennen sind, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind, eine Teilkündigung des Stellplatzes rechtlich nicht möglich ist und die Gesamtmiete einschließlich des Stellplatzes angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II ist. In diesem Fall besteht auch keine Obliegenheit zur Kostensenkung, etwa durch Untervermietung. Dies ist seither ständige Rechtsprechung.

 

Durch Bescheid vom 8.7.2021 lehnte der Beklagten den Antrag der Kläger nach § 44 SGB X vom 29.12.2020 ab. Nach § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II könne ein bestandskräftiger Bescheid über Leistungen nach dem SGB II nachträglich zugunsten des Betroffenen nur für die Zeit ab Entstehen einer neuen ständigen Rechtsprechung zur streitigen Rechtsfrage geändert werden. Hier betroffen seien allerdings Leistungen für einen Zeitraum, der bei Ergehen des Urteils des BSG vom 19.5.2021 (Az. B 14 AS 39/20 R) schon abgeschlossen war. Eine rückwirkende Anwendung der neuen ständigen Rechtsprechung des BSG über § 44 SGB X sei daher ausgeschlossen.

 

Gegen diese Entscheidung legten die Kläger am 10.8.2021 durch ihren Bevollmächtigten Widerspruch ein. Die Kläger seien in der Sache ein eindeutiger Anwendungsfall der neuen Rechtsprechung des BSG, da auch bei ihnen die Wohnung nicht ohne den PKW-Stellplatz hätte angemietet werden können, der Stellplatz nicht separat kündbar sei und die Gesamtkosten sich innerhalb der Angemessenheitsgrenzen des Beklagten bewegten. § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II stehe dem nicht entgegen.

 

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.10.2021 als unbegründet zurück. § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II verbiete im vorliegenden Fall eine rückwirkende Korrektur der Leistungshöhe zugunsten der Kläger für den Zeitraum 1.3. –  31.8.2019, da eine ständige Rechtsprechung zur Berücksichtigungsfähigkeit von Stellplatzkosten bei Mietwohnungen im Rahmen des § 22 SGB II vor dem Urteil des BSG vom 19.5.2021 und damit im streitgegenständlichen Zeitraum nicht bestanden habe. Vielmehr sei die obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage bis dahin extrem divergierend gewesen. Eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage habe noch gar nicht existiert.

 

Am 25.11.2021 haben die Kläger die vorliegende Klage beim Sozialgericht Freiburg erhoben. Sie führen aus, dass § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II nicht zur Anwendung komme, wenn der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bereits vor Entstehen einer neuen ständigen Rechtsprechung gestellt worden sei. Dies sei hier am 29.12.2020 erfolgt, also vor dem Grundsatzurteil des BSG vom 19.5.2021. Materiellrechtlich sei der Beklagte aufgrund der neuen Rechtsprechung des BSG unstreitig verpflichtet, die Stellplatzkosten als Bedarf zu berücksichtigen. Für die Zeiträume seit dem Urteil des BSG vom 19.5.2021 habe er dies denn auch anerkannt. 

 

Die Kläger zu 1. –  4. beantragen, teilweise sinngemäß,

 

den Bescheid des Beklagten vom 8.7.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Klägern unter Aufhebung des Bescheids vom 18.6.2020 im Zeitraum vom 1.3. –  31.8.20219 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II auch unter Berücksichtigung der angefallenen Stellplatzkosten von monatlich 45,00 € zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

          die Klage abzuweisen.

 

Seiner Auffassung nach steht der Wortlaut des § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II der Korrektur eines bestandskräftigen Bescheids über Leistungen nach dem SGB II im Rahmen des § 44 SGB X zugunsten des Leistungsbeziehers auch dann entgegen, wenn der Antrag nach § 44 SGB X bereits vor dem Entstehen einer neuen ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung gestellt wurde.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Bedarfsgemeinschaft der Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten (Stand 9.5.2023), die das Gericht zum Verfahren beigezogen hat, Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Das Gericht kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

 

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht erhoben und als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage statthaft nach § 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG.

 

Die Klage ist aber nicht begründet.

 

Die Kläger zu 1. –  4. haben im Wege des Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X keinen Anspruch auf die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II im Zeitraum 1.3.2019 –  31.8.2019, als der Beklagte ihnen mit Bescheid vom 18.6.2020 bewilligt hat. Die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Kläger daher nicht in ihren Rechten. Der Bescheid vom 18.6.2020 erweist sich nach Eintritt seiner Bestandskraft im Hinblick auf die Berücksichtigungsfähigkeit der Stellplatzkosten im Rahmen des § 22 SGB II zwar rückblickend –  angesichts der neuen Rechtsprechung des BSG zum Thema –  als unrichtig im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB X. Einer Korrektur des Bescheids steht aber § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II entgegen.

 

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein bindend gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

 

Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X werden Leistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme nachgezahlt. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Nach § 40 Abs. 1 SGB II beträgt die Frist nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X für Leistungsbescheide über Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II nur ein Jahr anstelle von vier Jahren.

 

Diese Voraussetzungen sind hier zwar in materieller Hinsicht erfüllt (siehe hierzu unten 1.). Formell steht § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II der nachträglichen Korrektur aber entgegen (siehe hierzu unten 2.).

 

1. Zunächst ist festzuhalten, dass materiellrechtlich in der Tat die Stellplatzkosten, die den Klägern zu 1. –  4. im hier streitgegenständlichen Zeitraum entstanden, nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 19.5.2021, Az. B 14 AS 39/20 R –  juris) als Teil der Kosten der Unterkunft als Bedarf zu berücksichtigen sind. Laut dem Mietvertrag, den die Klägerin zu 1. für sich und ihre Familie abgeschlossen hat, stellen die Stellplatzkosten einen untrennbaren Bestandteil des Mietverhältnisses dar und eine separate Kündigungsmöglichkeit nur des Stellplatzes ist nicht vorgesehen. Ebenso bewegen sich die Gesamtkosten für die Wohnung (Kaltmiete sowie „ kalte“  Nebenkosten) in Summe innerhalb dessen, was zum streitgegenständlichen Zeitpunkt im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten von diesem für einen Vierpersonenhaushalt als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II angesehen wurde. Dementsprechend hat der Beklagte die Leistungsberechnungen für spätere Zeiträume, d. h. für die Zeit ab der Entscheidung des BSG vom 19.5.2021, hinsichtlich der Stellplatzkosten bereits im Rahmen von weiteren Widerspruchsverfahren bzw. Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X zugunsten der Kläger abgeändert.

 

2. Der nachträglichen Korrektur der Leistungsberechnung auch für den vorliegenden Zeitraum, vor Ergehen des Urteils des BSG vom 19.5.2021, steht nach der Überzeugung der Kammer zwar nicht eine verspätete Antragstellung entgegen (siehe hierzu unten a)), wohl aber die anspruchsbegrenzende Wirkung des § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II (siehe hierzu unten b.)).

 

a.) Die Kammer stellt zunächst fest, dass der Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 SGB X so rechtzeitig, d. h. innerhalb der Frist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i. V. m. § 40 Abs. 1 SGB II gestellt wurde, dass der Antrag vom 29.12.2020 auf den hier streitbefangenen Zeitraum (1.3. –  31.8.2019) zurückwirken kann. Die entgegengesetzte vorläufige Rechtsauffassung der Kammervorsitzenden, wie sie im Hinweis des Gerichts an die Beteiligten vom 9.3.2022 dargelegt wurde, wird insoweit nach nochmaliger Prüfung von der Kammer nicht aufrechterhalten. Hier hatte der Bevollmächtigte der Kläger am 29.12.2020 zwar ausdrücklich die Überprüfung der vorläufigen Bescheide vom 4.3.2019, 10.4.2019, 30.4.2019, 10.5.2019 und 1.6.2019 nach § 44 SGB X beantragt, obwohl diese Bescheide zum damaligen Zeitpunkt sämtlich bereits durch den Erlass des endgültigen Bescheids vom 18.6.2020 ihre Erledigung gefunden hatten (vgl. LSG Sachsen, Urteil vom 3.6.2021, Az. L 7 AS 1044/18; LSG Bayern, Urteil vom 11.4.2019, Az. L 16 AS 627/17; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9.4.2019, Az. L 32 AS 810/18 B PKH; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7.2.2022, Az. L 9 AS 258/19 –  alle in juris) und daher keine Rechtswirkung mehr entfalten konnten. Ihre Überprüfung bzw. Abänderung war damals also bereits nicht mehr möglich und auch ein entsprechendes Rechtsschutzbedürfnis nicht festzustellen. Es wäre vielmehr zielführend –  und vom klägerischen Bevollmächtigten als Fachanwalt für Sozialrecht auch zu erwarten - gewesen, stattdessen die Überprüfung des endgültigen Bescheids vom 18.6.2020 zu beantragen. Allerdings lässt sich dem Antragsschriftsatz vom 29.12.2020 mit hinreichender Klarheit entnehmen, welche Leistungen in welchem Leistungszeitraum und unter welchem genauen Gesichtspunkt die Kläger überprüfen lassen wollten. Damit war der Antrag nach § 44 SGB X –  auch bei anwaltlicher Vertretung –  hinreichend bestimmt im Sinne der Kriterien, die das BSG hierfür aufgestellt hat (vgl. BSG, Urteil vom 28.10. 2014, Az. B 14 AS 39/13 R, und Urteil vom 13.2.2014, Az. B 4 AS 22/13 R – beide in juris). Die hier erfolgte Fehlbezeichnung der zu überprüfenden Bescheide bzw. die Bezugnahme auf inzwischen durch eine aktuellere Bewilligung ersetzte ältere Bescheide ist für die Fristwahrung nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i. V. m. § 40 Abs. 1 SGB II also unschädlich. Etwas anderes gilt bei einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bezüglich eines bereits durch eine endgültige Bewilligung ersetzten vorläufigen Bescheids nur, wenn der Betroffene durch den Leistungsträger darauf hingewiesen wird, dass der zu überprüfende Bescheid sich erledigt hat bzw. ersetzt worden ist, und der Betroffene gleichwohl darauf beharrt, dass der erledigte Bescheid –  und nicht der aktuell geltende Bescheid - überprüft werden solle (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7.2.2022, Az. L 9 AS 258/19 –  juris). Dann erfolgt ein ggf. später nachgeholter Überprüfungsantrag bezüglich des aktuell geltenden Bescheids ggf. nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i. V. m. § 40 Abs. 1 SGB II zu spät. Hier hatte der Beklagte aber versäumt, die Kläger bzw. ihren Bevollmächtigten darauf hinzuweisen, dass die von ihnen benannten Bescheide bereits erledigt und daher der Überprüfung nach § 44 SGB X nicht mehr zugänglich waren. Vielmehr scheint dies dem Beklagten selbst im Widerspruchsverfahren nicht aufgefallen zu sein. Der Überprüfungsantrag vom 29.12.2020 ist also sachdienlich als Antrag auf Überprüfung des endgültigen Bewilligungsbescheids vom 18.6.2020 auszulegen.

 

b.) Allerdings entwickelt § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall eine Sperrwirkung für die Leistungsüberprüfung nach § 44 SGB X für die Vergangenheit, d. h. für die Zeit vor der am 19.5.2021 geänderten bzw. neu entstandenen ständigen Rechtsprechung des BSG (a.a. O.) zur Berücksichtigungsfähigkeit der Stellplatzkosten.

 

§ 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II ordnet an, dass ein bestandskräftiger, rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, für den die in § 44 Absatz 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme vorliegen, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist, nur mit Wirkung ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen ist. Dem Wortlaut der Vorschrift nach liegt dieser Fall hier vor. Entsprechend den Grundsätzen, die das BSG in seinem Urteil vom 19.5.2021 (a. a. O.) entwickelt hat, stehen den Klägern zu 1. –  4. –  anders als zuvor vom Beklagten angenommen - Grundsicherungsleistungen auch unter Berücksichtigung der Stellplatzkosten als Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II zu. Nach § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II sind aber nur die Leistungsbewilligungen an die Kläger korrigieren, die nach dem 19.5.2021 erfolgt sind bzw. Zeiträume nach dem 19.5.2021 betreffen; bzw. frühere Zeiträume nur, wenn noch keine Bestandskraft der Bewilligungsbescheide eingetreten war, weil etwa ein Widerspruchs- oder Klageverfahren anhängig war. Der hier streitbefangene Zeitraum liegt aber vor dem Entstehungsdatum der neuen Rechtsprechung des BSG und der entsprechende Bewilligungsbescheid vom 18.6.2020 war bestandskräftig im Sinne des § 77 SGG geworden.

 

Für die Kläger ist vorgetragen worden, dass § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II die Korrektur eines bestandskräftigen Bescheids für die Vergangenheit, d. h. vor Entstehen einer ständigen Rechtsprechung, nur dann hindere, wenn auch der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X erst nach Entstehen der ständigen Rechtsprechung gestellt wurde. Werde der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X dagegen zuvor gestellt, profitierten die Betroffenen von einer danach entstehenden ständigen Rechtsprechung auch für die Vergangenheit. Dies leitet die Klägerseite aus den Ausführungen des BSG im Urteil vom 8.2.2007 (Az. B 7a AL 2/06 –  juris) zur Parallelvorschrift des § 330 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ab.

 

Das BSG hatte in diesem Urteil über eine dem hier zu entscheidenden Fall parallele Konstellation zu entscheiden, in der der Betroffene einen Überprüfungsantrag (dort bzgl. Leistungen nach dem SGB III) nach § 44 SGB X gestellt hatte, bevor eine ständige Rechtsprechung zur streitigen Rechtsfrage entstanden war. Das BSG hat diese rechtzeitige Antragstellung nach § 44 SGB X genügen lassen, um eine Korrektur der bestandskräftigen Leistungsbewilligung auch für die Zeit vor dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung herbeizuführen, und zur Begründung ausgeführt:

 

„ Die zeitliche Einschränkung der rückwirkenden Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, der eine Leistung vorenthalten hat, gilt dann nicht, wenn das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X schon vor der Entstehung der ständigen Rechtsprechung in Gang gesetzt worden ist (vgl im Ansatz schon BSG, Urteil vom 20. Oktober 2005 - B 7a AL 12/05 R -, SozR 4-4300 § 71 Nr 2 RdNr 11). Dies ist vorliegend der Fall. [… ] Die Vorschrift des § 330 SGB III dient ausschließlich den Interessen der Beklagten. Nach der Begründung zur Vorgängerregelung des § 152 AFG (BT-Drucks 12/5502, S 37 zu Nr 43; siehe auch BT-Drucks 8/2034, S 37) soll sie dem Umstand Rechnung tragen, dass die Arbeitsämter - anders als die meisten Sozialversicherungsträger - die Leistungen überwiegend kurzfristig zu erbringen haben, sodass Überzahlungen praktisch nicht zu vermeiden sind. Die Beklagte soll damit von einer massenhaft rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden. Ob diese aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung bedingte Abweichung von den Regeln der §§ 44 ff SGB X, die zwischen dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auf der einen Seite und dem Vertrauensschutz der Versicherten auf der anderen Seite ausgewogene Lösungen enthalten, sinnvoll ist, wird in der Literatur bezweifelt (vgl Vor in Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 31 RdNr 9). Zwar bestehen verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 330 Abs 1 SGB III nicht (vgl BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 10 S 39 f mwN); die sozialpolitisch zweifelhafte Zielsetzung der Norm legt jedoch eine enge Auslegung nahe. Denn es ist nicht verständlich, dass sich Fehler bei einem Versicherungsträger, nur  weil sie angeblich gehäuft vorkommen, weniger einschneidend auswirken sollen als in anderen Bereichen des Sozialrechts (vgl Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, § 330 Rz 18 und Rz 2, Stand November 2006). Jedenfalls wenn ein Betroffener - wie vorliegend - bereits vor dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung einen Antrag nach § 44 SGB X gestellt hat, darf er nicht schlechter gestellt werden als derjenige, der eine "ständige Rechtsprechung" iS von § 330 Abs 1 SGB III herbeigeführt hat. Denn dieser ist den Beschränkungen des § 330 Abs 1 SGB III noch nicht unterworfen. § 330 Abs 1 Alt 2 SGB III soll nur verhindern, dass so genannte "Trittbrettfahrer" von den Entscheidungen des BSG profitieren. Das kann dem Kläger nicht vorgehalten werden.“ 

 

Die Kammer hält diese Argumentation aber für nicht auf § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II übertragbar.

 

Bei § 330 Abs. 1 SGB III handelt es sich um eine mit § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II gleichlautende Vorschrift, die lediglich im Hinblick auf die grammatikalische Satzstruktur sowie auf die Bezeichnung „Agentur für Arbeit“ (d. h. Leistungsträger nach dem SGB III) statt „Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende“  vom Wortlaut des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II abweicht. Es liegt daher nach dem Wortlaut der Vorschriften zunächst nicht nahe, dass sie wesentlich unterschiedlich zu interpretieren sein könnten. § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II verfolgt nach Auffassung der Kammer auch den gleichen Zweck wie § 330 Abs. 1 SGB III, nämlich den Leistungsträger in der Massenverwaltung von einer Vielzahl von gleichartigen Korrekturen von Bescheiden für die Vergangenheit freizustellen, wenn eine bis dato geübte Verwaltungspraxis bzw. Auslegung einer vielfach zur Anwendung kommenden Norm von Seiten der Gerichte als rechtswidrig qualifiziert wird (Aubel, jurisPK SGB II, 5. Auflage 2020, § 40 Rn. 126).

 

Allerdings ist es nach Überzeugung der Kammer sowohl nach der Gesetzgebungshistorie als auch aufgrund der Systemunterschiede zwischen den existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II einerseits und nach dem SGB III andererseits gerechtfertigt, die hier in Frage stehende Fallkonstellation im SGB II anders zu behandeln als im SGB III.

 

So verwies § 40 Abs. 3 SGB II in seiner früheren, bis zum 31.7.2016 geltenden Fassung unmittelbar auf § 330 Abs. 1 SGB III und erklärte diesen für entsprechend anwendbar. Erst durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweitens Buches Sozialgesetzbuch –  Rechtsvereinfachung etc. - vom 26.7.2016 (9. SGB II-ÄndG) erhielt § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 mit Wirkung zum 1.8.2016 seine hier anwendbare –  und dem § 330 Abs. 1 SGB III stark nachgebildete, aber nicht mehr auf ihn verweisende –  Form. Damit verfolgte der Gesetzgeber ausdrücklich den Zweck, die Rechtsprechung des BSG zu § 330 Abs. 1 SGB III für den Bereich des SGB II einzuschränken (Aubel, jurisPK SGB II, 5. Auflage 2020, § 40 Rn. 127).

 

Dies ist nach Überzeugung der Kammer im Bereich des SGB II auch gerechtfertigt.

 

Zum einen erfolgt die Durchführung des SGB II systembedingt anders als die Durchführung des SGB III. Leistungsträger im SGB II sind nicht, wie im SGB III, die Bundesagentur für Arbeit als bundesunmittelbare und bundesweit nach einheitlichen Prinzipien agierende Körperschaft des Öffentlichen Rechts, sondern für einen Teil der Leistungen der Bund und für einen anderen Teil, insbesondere für die Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II, die Kommunen (§ 6 Abs. 1 SGB II), welche gemeinsame Einrichtungen (Jobcenter) nach § 44b SGB II bilden können, aber nicht müssen. Dies eröffnet den Jobcentern (bzw. den Kommunen, soweit gemeinsame Einrichtungen nach § 44b SGB II nicht bestehen) - im Vergleich zu den örtlichen Agenturen für Arbeit als reine Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit - einen erheblich größeren Spielraum in ihrer Verwaltungspraxis gerade im Bereich der Kosten der Unterkunft. Eine bundeseinheitliche Praxis der Normauslegung existiert im Bereich des SGB II insoweit nicht, so dass entsprechende Fehlauslegungen durch die Leistungsträger bzw. die gemeinsamen Einrichtungen, die von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung korrigiert werden müssen, in Summe nicht die gleiche quantitative Tragweite haben wie Fehlentscheidungen der Agenturen für Arbeit, da entsprechende Fehler in der Regel nur örtlich begrenzt und daher nicht automatisch in einer enormen Vielzahl von Fällen geschehen.  Es besteht daher im Bereich des SGB II ein geringeres Bedürfnis nach der vom BSG für den Bereich des SGB III postulierten weiten, großzügigen Handhabung rückwirkender Leistungskorrekturen nach § 44 SGB X. Jedenfalls gilt dies nach Überzeugung der Kammer für die Leistungen nach dem SGB II, für die nicht die Bundesagentur für Arbeit nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II zuständig ist und die daher nicht in einer Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit geregelt sind, so dass eine bundeseinheitliche Anwendungspraxis gerade nicht existiert –  wie die hier betroffenen Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II, die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II Leistungen in der Zuständigkeit der kommunalen Träger sind.

 

Zum anderen handelt es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um steuerfinanzierte Leistungen; bei den Leistungen nach dem SGB III handelt es sich dagegen um beitragsfinanzierte Leistungen, auf die der Betroffene aufgrund seiner früheren Einzahlungen in das Solidarsystem der Arbeitslosenversicherung Anspruch erwirbt. Nach Auffassung der Kammer bedingt dies ebenfalls einen erheblichen Systemunterschied zwischen dem SGB II, auf dessen Leistungen unabhängig von vorausgegangenen Beitragszahlungen Anspruch besteht, und dem SGB III. Die Kammer hält daher die Leistungsbezieher nach dem SGB III für in höherem Grade berechtigt, auch nach Bestandskraft eines Bewilligungsbescheids über § 44 SGB X rückwirkend von einer geänderten ständigen Rechtsprechung zu profitieren.

 

Diese Erwägungen rechtfertigen im Ergebnis nach Auffassung der Kammer, dass § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II zumindest im Bereich der Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II - und daher auch im hier vorliegenden Fall - nicht entsprechend der Rechtsprechung des BSG zu § 330 Abs. 1 SGB III (a. a. O.) weit auszulegen und auf die Fälle zu erstrecken ist, in der ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bereits vor Entstehen einer neuen ständigen Rechtsprechung gestellt wurde. Vielmehr verbleibt es beim Wortlaut des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II, der der rückwirkenden Korrektur nach § 44 SGB X für Zeiten vor Entstehen der neuen ständigen Rechtsprechung –  und daher auch für den hier streitbefangenen Zeitraum –  entgegensteht.

 

Daher waren weder der Bescheid vom 8.7.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2021 aufzuheben, noch der Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 18.6.2020 zurückzunehmen, noch der Beklagte zu verurteilen, für den Zeitraum vom 1.3. –  31.8.2019 höhere Leistungen zu gewähren. Die Klage konnte vielmehr im Ergebnis keinen Erfolg haben und war folglich abzuweisen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache.

 

Die Berufung war zuzulassen, obwohl die Beschwer der Kläger lediglich 67,50 € pro Person beträgt (11,25 €  pro Person und Monat für insgesamt sechs Monate), weil die Frage einer restriktiven Auslegung des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II entsprechend der Rechtsprechung des BSG zu § 330 Abs. 1 SGB III von grundsätzlicher Bedeutung, aber –  soweit ersichtlich –  obergerichtlich oder gar höchstrichterlich noch nicht geklärt ist (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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