S 13 AS 1664/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AS 1664/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Dass ein Anhörungsschreiben an den nicht mehr bestellten Betreuer adressiert wird, ist jedenfalls dann unbeachtlich, wenn das Anhörungsschreiben dem Leistungsbezieher in sonstiger Weise bekannt wird.

2. Der Vertrauensschutz ist nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X ausgeschlossen, wenn der Leistungsbezieher durchgehend vorsätzlich unrichtige Angaben zur Höhe der Erwerbseinkünfte seiner Ehefrau und falsche Angaben zum Beginn seiner Erwerbstätigkeiten gemacht hat.

3. Die Haftung eines Kindes für Verbindlichkeiten, die die Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht für das Kind begründet haben, beschränkt sich gemäß § 1629a Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BGB auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens des Kindes. Nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes ist die Volljährigkeit der für das Verwaltungsvollstreckungsverfahren zuständigen Behörde anzuzeigen und unter Berufung auf die von Amts wegen zu berücksichtigende Einrede der Minderjährigenhaftung eine Vermögensaufstellung zu übermitteln (z.B. Kontoauszug).


I. Die Klage gegen den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.09.2020 wird abgewiesen.

II. Der Beklagte erstattet den Klägerin 1/8 der notwendigen außergerichtlichen Kosten.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist eine Erstattungsforderung für den Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 in Höhe von insgesamt 16.357,76 Euro.

Der am 1964 geborene Kläger zu 1), seine am 1978 geborene Ehefrau und die beiden minderjährigen Töchter, die am 2005 geborene Klägerin zu 2) sowie die am 2007 geborene Klägerin zu 3), standen im streitgegenständlichen Zeitraum mit Ausnahme der Monate November 2015 bis April 2016 sowie Oktober 2016 im laufenden Bezug von aufstockenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beim Beklagten. Die Ehefrau des Klägers zu 1) erzielte Einkommen aus nichtselbständiger Tätigkeit als Verkäuferin bei  H.. Der Kläger zu 1) ist Diplomingenieur für Gerätetechnik und war im streitgegenständlichen Zeitraum wie folgt bei verschiedenen Unternehmen beschäftigt: vom 16.02.2015 bis 13.05.2015, vom 01.10.2015 bis 30.04.2016, vom 22.08.2016 bis 31.10.2016 und vom 16.07.2018 bis 30.11.2018.

Infolge des Antrags der aus Kolumbien stammenden Ehefrau des Klägers zu 1) auf Einbürgerung vom 26.05.2017 bat die Ausländerbehörde des Landratsamtes E-Stadt den Beklagten am 20.08.2018 u.a. um Informationen zur Höhe des Einkommens der Ehefrau des Klägers zu 1). In diesem Zuge wurde bekannt, dass die der Ausländerbehörde vorgelegten Lohnbescheinigungen nicht mit den dem Beklagten vorgelegten Lohnbescheinigungen übereinstimmen. Daraufhin holte der Beklagte Bescheinigungen über den Arbeitsverdienst der Ehefrau des Klägers zu 1) im Zeitraum von 2011 bis 2018 direkt beim Arbeitgeber H. ein.

Mit Schreiben vom 07.11.2019, adressiert an den Betreuer des Klägers zu 1), B3., hörte der Beklagte den Kläger zu 1) zu Überzahlungen für den Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 in Höhe von insgesamt 19.048,26 Euro (davon 8.890,38 Euro für den Kläger zu 1) und jeweils 5.078,94 Euro für die Klägerinnen zu 2) und 3)) an. Anschließend wurde dem Beklagten bekannt, dass die Betreuung des Klägers zu 1) bereits mit Beschluss vom 16.10.2019 eingestellt worden war.

Mit Bescheiden vom 29.04.2020 wurden die zugrundeliegenden Bewilligungsbescheide vom 12.11.2015, 13.04.2016, 13.08.2016, 21.10.2016, 11.11.2016, 25.11.2017, 26.11.2016, 19.03.2018 und 23.05.2018 ganz oder teilweise aufgehoben und die Erstattungssumme geltend gemacht. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass höheres Einkommen aus Beschäftigung erzielt worden sei und die Kläger damit in geringerer Höhe hilfebedürftig seien. Die Entscheidung sei wegen arglistiger Täuschung, Drohung bzw. Bestechung zurückzunehmen. Außerdem beruhe der Verwaltungsakt auf Angaben, die der Kläger zu 1) vorsätzlich und grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe. Der Kläger zu 1) habe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt. In der Selbstanzeige gegenüber der K. sei erklärt worden, dass der Kläger zu 1) erstmalig im Februar 2013 bis ins Jahr 2018 das Einkommen von sich und der Klägerin zu 2) zu niedrig beziffert, Kontoauszüge gefälscht sowie falsche Angaben zum Arbeitsbeginn von verschiedenen Arbeitsstellen an den Beklagten mitgeteilt habe.

Hiergegen legte der Kläger zu 1) am 28.05.2020 Widersprüche ein, weil die Forderungen gegenüber den minderjährigen Klägerinnen zu 2) und zu 3) nicht rechtmäßig, die Freibeträge nicht berücksichtigt worden und die Einkommensanrechnungen nicht nachvollziehbar seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2020 wurde die Erstattungssumme aufgrund Korrekturen in der Einkommensanrechnung um insgesamt 2.690,50 Euro gemindert und der Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass im Einbürgerungsverfahren der Ehefrau des Klägers zu 1) festgestellt worden sei, dass den verschiedenen Behörden verschiedene Einkommensnachweise für den gleichen Zeitraum vorgelegt worden seien. Aufgrund dieser Unstimmigkeit seien Nachforschungen betrieben und Auskünfte beim Arbeitgeber H. eingeholt worden. Das von diesem bescheinigte Einkommen weiche tatsächlich von den vom Kläger zu 1) vorgelegten Einkommensbescheinigungen ab.

Am 08.10.2020 haben die Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben. Es gebe keine rechtskonforme Selbstanzeige, da sich der Rechtsanwalt A. ohne schriftliches Einverständnis und ohne gültige Vollmacht als Rechtsvertreter der Kläger ausgegeben habe und die "Selbstanzeige" abgegeben habe. Gegen diesen sei deshalb ein Strafverfahren eingeleitet worden. Der Kläger zu 1) und seine Ehefrau hätten alle relevanten Gehalts- und Lohnnachweise vollständig beim Beklagten eingereicht. Zudem seien die Forderungen bis 31.12.2015 bereits verjährt. Im Übrigen müssten die Kläger mehr zurückzahlen, als sie je erhalten haben.

Die Kläger beantragen,
den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.09.2020 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
  die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wird im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Obwohl Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen durchaus als einmalige Einnahmen nach § 11 Abs. 3 SGB II als Einkommen anzurechnen gewesen wären, sei aufgrund des hohen Verwaltungsaufwandes wegen des vergangenen Zeitraums zugunsten der Kläger von einer Abrechnung abgesehen worden. Die Verjährung betrage bei öffentlich-rechtlichen Forderungen stets 30 Jahre, im Übrigen habe der Beklagte erst im September 2018 von den Unstimmigkeiten erfahren und die Aufhebungsentscheidung erst nach Feststellung sämtlicher für die Verbescheidung notwendiger Kenntnisse am 29.04.2020 erlassen.

Im laufenden Klageverfahren ist den Klägern mit gerichtlichen Schreiben vom 01.07.2021 nach § 106a SGG unter Fristsetzung bis 30.07.2021 aufgegeben worden, folgende Unterlagen vorzulegen:
- Kontoauszüge im Zeitraum 01.05.2015 bis 31.08.2018, aus denen sich die vom Beklagten ausbezahlten SGB II - Leistungen ergeben
- Nachweise, aus denen sich die vorgetragene höhere Leistungshöhe ergibt
Hierzu teilte der Kläger mit Schriftsatz vom 12.03.2022 mit, dass Kontoauszüge aus den Jahren 2016 bis 2018 aus technischen und finanziellen Gründen nicht mehr erbringbar seien und die damalige Bank nicht mehr bekannt sei, da zu oft die Bank gewechselt werden musste. Es könnten auch keine Nachweise durch die Kläger erbracht werden, aus denen sich höhere Ansprüche gegen den Beklagten ergeben. Mit gerichtlichen Schreiben vom 19.07.2022 ist der Kläger zu 1) um Nachweise gebeten worden, dass die Kontoauszüge nicht mehr erbracht werden können (z.B. Bestätigungen der betroffenen Banken). Daraufhin hat der Kläger am 26.07.2022 telefonisch mitgeteilt, dass es ihm u.a. aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei, die Banken zu kontaktieren.

Am 21.06.2023 hat die mündliche Verhandlung stattgefunden. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet und hat daher keinen Erfolg.

Streitgegenstand ist eine Erstattungsforderung betreffend den Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 (mit Ausnahme der Monate November 2015 bis April 2016 sowie Oktober 2016) in Höhe von insgesamt 16.357,76 Euro. Davon entfallen 7.671,48 Euro auf den Kläger zu 1) und jeweils 4.343,14 Euro auf die Klägerinnen zu 2) und zu 3).

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. In der Klageschrift vom 08.10.2020 wird zwar zunächst nur der Widerspruchsbescheid vom 24.09.2020 betreffend die Erstattungsforderung gegen die Ehefrau des Klägers zu 1) für den gleichen Zeitraum in Höhe von 7.671,45 Euro benannt. Jedoch wurde bereits der Widerspruchsbescheid vom 21.09.2020 mitgeschickt und im Schriftsatz des Klägers zu 1) vom 14.10.2020 auch (noch innerhalb der Klagefrist) explizit aufgeführt.

Allerdings ist die Klage unbegründet, weil der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.09.2020 rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt. Der Beklagte war berechtigt, die Leistungsbewilligung für die Zeit von Mai 2015 bis August 2018 (teilweise) zurückzunehmen, und die Kläger sind verpflichtet, den vom Beklagten geforderten Betrag in Höhe von 16.357,76 Euro zu erstatten.

Rechtsgrundlage für die Rücknahmeentscheidung im Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 ist § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 3 Abs. 3 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) i.V.m. § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), da die maßgeblichen Bewilligungs- und Änderungsbescheide vom 12.11.2015, 13.04.2016, 13.08.2016, 21.10.2016, 11.11.2016, 25.11.2017, 26.11.2016, 19.03.2018 und 23.05.2018 aufgrund der tatsächlich höheren monatlichen Erwerbseinkünfte der Ehefrau des Klägers zu 1) aus ihrer Tätigkeit bei  H. bereits zum Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe rechtswidrige Begünstigungen bewirkten.

Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.09.2020 ist formell rechtmäßig. Vor dessen Erlass hat der Beklagte die Kläger ordnungsgemäß nach § 24 SGB X angehört. Wenngleich das Schreiben vom 07.11.2019 an den zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bestellten Betreuer des Klägers zu 1), Joachim Breckner, adressiert war, ging das Anhörungsschreiben dem Kläger zu 1) ausweislich seines Faxes vom 18.11.2019 an den Beklagten zu. Selbst wenn man von einem Anhörungsfehler ausgehen sollte, wurde dieser jedenfalls durch den Erlass des Widerspruchsbescheids vom 21.09.2020 gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X geheilt, weil die Kläger bereits aus der Begründung des Verwaltungsaktes wissen konnten, welche Tatsachen entscheidungserheblich sind, sie durch die Rechtsbehelfsbelehrung auf die Widerspruchsmöglichkeit hingewiesen wurden und das Vorbringen der Kläger im Widerspruchsbescheid auch gewürdigt wurde (vgl. Schneider-Danwitz/Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 41 SGB X, Rn. 31).

Darüber hinaus sind die Voraussetzungen von § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 3 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X für den gesamten Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 erfüllt.

Gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III i.V.m. § 45 Abs. 1 SGB X ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder Vergangenheit zurückzunehmen. Die Rücknahme darf nur erfolgen, wenn der Berechtigte nicht auf dessen Bestand vertraut hat oder das gegebene Vertrauen nicht schutzwürdig ist. Insofern erfordert § 45 Abs. 2 SGB X die Abwägung des Interesses des Betroffenen am Bestand mit der Abwägung der Interessen der durch die Sozialleistungsträger präsentierten Allgemeinheit an die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes (vgl. Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 17.04.2023, § 45, Rn. 63).

Vorliegend ist der Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X ausgeschlossen. Der Kläger zu 1) hat, wie er in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt hat, gegenüber dem Beklagten durchgehend unrichtige Angaben zu der Höhe der Erwerbseinkünfte seiner Ehefrau sowie zweimal falsche Angaben zum Beginn seiner Erwerbstätigkeiten gemacht. Weiterhin hat er als langjährig im (aufstockenden) SGB II - Leistungsbezug Stehender die Rechtswidrigkeit der zahlreichen Bewilligungs- und Änderungsbescheide im Bewilligungszeitraum von Mai 2015 bis August 2018 gekannt. Der im Rahmen von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X erforderliche subjektive Tatbestand ist erfüllt, denn der Kläger zu 1) hat nach den von der Kammer gewonnen Erkenntnissen vorsätzlich gehandelt. Zusätzlich zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und des Beklagten, der insbesondere umfassende Auskünfte des Arbeitgebers der Ehefrau des Klägers zu 1) eingeholt hat, hat der Kläger zu 1) in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, aus Geldnot und Schuldenlast u.a. aus einer früheren Selbständigkeit keine korrekten Angaben gegenüber dem Beklagten gemacht und zudem zweimal den Arbeitsbeginn um zwei Wochen verspätet angezeigt zu haben. Weiterhin seien die in der Selbstanzeige vom 13.11.2018 detailliert beschriebenen Handlungen so mit dem damaligen Anwalt des Klägers zu 1) besprochen worden. Das Gericht erachtet es mithin als erwiesen, dass der Kläger zu 1) erkannt hat und wusste, dass die der Bedarfsgemeinschaft im Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 bewilligten SGB II - Leistungen aufgrund höherer eigener Erwerbseinkünfte nicht in dem gewährten Umfang zustanden. Anhaltspunkte dafür, dass die SGB II - Leistungen nicht in der vom Beklagten gewährten Höhe ausgezahlt worden seien oder dass den Klägern höhere Grundsicherungseistungen zugestanden hätten, bestehen nicht. Abgesehen davon, dass der klägerische Vortrag insoweit nicht in der mündlichen Verhandlung wiederholt wurde, fehlt es jedenfalls an (nach § 106a SGG seitens des Gerichts angeforderten) Nachweisen der Kläger. Dass sich der Kläger zu 1) insgesamt in einer nachvollziehbar schwierigen gesundheitlichen und familiären Situation befunden hat, lässt keine andere Bewertung zu, zumal die Geschäftsfähigkeit des Klägers zu 1) trotz der zeitweise bestehenden Betreuung gegeben war.

Die Klägerinnen zu 2) und zu 3) müssen sich das Verhalten des Klägers zu 1) im Verhältnis zwischen Elternteil und minderjährigen Kindern gemäß § 1629 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurechnen lassen (vgl. Schütze in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45, Rn. 59).

Weiterhin ist auch die für Rücknahmen für die Vergangenheit zu beachtende Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten. Demnach muss die Behörde aus Gründen der Rechtssicherheit die Rücknahme- bzw. Aufhebungsentscheidung innerhalb von einem Jahr nach Kenntnis der Tatsachen verfügen, die zur Rücknahme bzw. Aufhebung berechtigen. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht. Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (vgl. Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 17.04.2023, § 45, Rn. 111). Kennt eine Behörde die Tatsachen, die die Rechtswidrigkeit des Ausgangsverwaltungsaktes begründen, muss sie innerhalb eines Jahres mit der Ermittlung der subjektiven Voraussetzungen einer Rücknahme beginnen, insbesondere das Anhörungsverfahren einleiten (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.11.2023 - L 7 R 3/11). Im vorliegenden Fall waren sämtliche für die Rücknahmeentscheidung betreffend den Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 erforderlichen Tatsachen nicht schon mit der Anfrage der Ausländerbehörde des Landratsamts Ebersberg am 20.08.2018 bekannt, sondern erst mit Einholung der Auskünfte der Arbeitgeber  H., M. und F. am 22.11.2018 bzw. 13.02.2019 bekannt. Am 07.11.2019 bzw. spätestens 18.11.2019 (vgl. oben) und damit innerhalb eines Jahres nach Kenntnis der Tatsachen führte der Beklagte die Anhörung beim Kläger zu 1) durch. Mithin war die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X noch nicht verstrichen.

Das Erstattungsverlangen des Beklagten findet seine Grundlage in § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Bei Berücksichtigung der tatsächlichen Einkünfte der Ehefrau des Klägers zu 1) und des in zwei Fällen früheren Arbeitsbeginns des Klägers zu 1) reduziert sich der Leistungsanspruch. Die Berechnung der Rückforderungssumme für den gesamten Zeitraum von Mai 2015 bis August 2018 ergibt sich aus dem angefochtenen Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.09.2020 und weist keine Fehler auf, insbesondere wurden die Freibeträge zutreffend berücksichtigt. Außerdem hat der Beklagte zugunsten der Kläger auf die Anrechnung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes der Ehefrau des Klägers zu 1) verzichtet, so dass sich die Erstattungsforderungen im Rahmen des Widerspruchsverfahrens von 8.890,38 Euro um 1.218,90 Euro auf 7.671,48 Euro für den Kläger zu 1) sowie jeweils von 5.078,94 Euro um 735,80 Euro auf 4.343,14 Euro für die Klägerinnen zu 2) und zu 3) reduziert haben. Zu erwähnen ist zudem, dass der Beklagte gegenüber den Klägern im Zeitraum von 2013 bis April 2015 überhaupt keine Erstattungsansprüche geltend gemacht hat.

Schließlich ist auch keine Verjährung der Erstattungsforderung eingetreten. Die nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 50 Abs. 4 SGB X geltende Frist von vier Jahren wurde durch Erhebung der Klage nach § 204 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gehemmt.

Im Hinblick auf das dem gerichtlichen Verfahren nachfolgende Verwaltungsvollstreckungsverfahren wird im Hinblick auf die am 28.07.2023 volljährig werdende Klägerin zu 2) sowie die am 01.02.2025 volljährig werdende Klägerin zu 3) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Haftung von Kindern für Verbindlichkeiten, die die Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht für das Kind begründet haben, gemäß § 1629a Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BGB auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens des Kindes beschränkt (sog. Einrede der Minderjährigenhaftung). Nach Eintritt der Volljährigkeit der Klägerinnen zu 2) und zu 3) ist dem für die Eintreibung von Forderung zuständigen Inkasso-Service der Bundesagentur für Arbeit die Volljährigkeit anzuzeigen und unter Berufung auf die von Amts wegen zu berücksichtigende Einrede der Minderjährigenhaftung eine Vermögensaufstellung zu übermitteln (z.B. Kontoauszug).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache. Die Kostenentscheidung berücksichtigt nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung auch die Kosten des Vorverfahrens, hier die Kostenentscheidung des Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 21.09.2023 (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 193, Rn. 2, 5a).
1. Dass ein Anhörungsschreiben an den nicht mehr bestellten Betreuer adressiert wird, ist jedenfalls dann unbeachtlich, wenn das Anhörungsschreiben dem Leistungsbezieher in sonstiger Weise bekannt wird.
2. Der Vertrauensschutz ist nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X ausgeschlossen, wenn der Leistungsbezieher durchgehend vorsätzlich unrichtige Angaben zur Höhe der Erwerbseinkünfte seiner Ehefrau und falsche Angaben zum Beginn seiner Erwerbstätigkeiten gemacht hat.
3. Die Haftung eines Kindes für Verbindlichkeiten, die die Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht für das Kind begründet haben, beschränkt sich gemäß § 1629a Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BGB auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens des Kindes. Nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes ist die Volljährigkeit der für das Verwaltungsvollstreckungsverfahren zuständigen Behörde anzuzeigen und unter Berufung auf die von Amts wegen zu berücksichtigende Einrede der Minderjährigenhaftung eine Vermögensaufstellung zu übermitteln (z.B. Kontoauszug).

 

Rechtskraft
Aus
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