L 4 KA 5/22

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 2 KA 19/19
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 5/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Keine wiederkehrende Beratungspflicht der Prüfgremien
Leitsatz: Prüfgremien haben keine mehrmalige Beratungspflicht vor einem Regress ärztlich erbrachter Einzelleistungen.
Die Wirtschaftlichkeit ärztlich erbrachter Leistungen wird quartalsweise geprüft, so dass Entscheidungen der Prüfgremien für ein Quartal  kein Präjudiz für nachfolgend geprüfte Quartale entfalten.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 25. Mai 2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 53.352 Euro festgesetzt.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über einen Regress für die Abrechnung von Gesprächsleistungen.

 

Die Klägerin war jedenfalls in den Jahren 2006 und 2007 in einer Gemeinschaftspraxis mit Herrn E in N vertragsärztlich tätig. Die Klägerin und Herr E waren als Gemeinschaftspraxis Adressaten der Beratungen der Gemeinsamen Prüfungseinrichtung der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein (Kammer Prüfung Honorar) vom 20. Oktober 2006 für das Quartal I/2006 und vom 7. Februar 2007 für die Quartale II/2006 und III/2006 über eine unwirtschaftliche Abrechnung. Die Fallwerte der Praxis für Beratungen und Untersuchungen der Gebührenordnungspositionen (GOPen) 03001 und 03120 (63,83 Euro bzw 72,37 Euro) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM) waren etwa doppelt so hoch wie die diesbezüglichen Fallwerte im Gruppendurchschnitt (33,54 Euro bzw 32,35 Euro). Zwischen den Daten der zu prüfenden Praxis und denen des Gruppendurchschnitts bestehe ein offensichtliches Missverhältnis, wenn ua hinsichtlich einzelner GOPen eine Überschreitung des zweifachen Gruppenvergleichswerts vorliege. Auffällig seien die Abrechnungen der GOP 03001 (Koordination der hausärztlichen Betreuung mit mindestens einer der nachfolgenden – gelisteten – Indikationen) und 03120 (Beratung, Erörterung und/oder Abklärung, Dauer mindestens 10 Minuten, je vollendete 10 Minuten), die zu einer schriftlichen Beratung auf die Sparte Betreuungs- und Untersuchungsleistungen, insbesondere die höhere Ansatzfrequenz der Position 03001, führe.

 

Ab 2010 nahm die Klägerin in H als Ärztin für Allgemeinmedizin an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Beigeladene zu 7. ordnete sie der Vergleichsgruppe Hausärzte zu.

 

Eine für die Quartale I/2011 bis II/2013 und III/2013 eingeleitete Einzelleistungsprüfung der GOPen 35100 und 35110 EBM (Mitteilung vom 11. Februar 2014) wurde wegen einer parallel von der Beigeladenen zu 7. durchgeführten Plausibilitätsprüfung für die Quartale II/2011 bis III/2014 ruhend gestellt und – nach dortigem Abschluss und Kürzung von Leistungen (GOP 35100 EBM um 50 vH und GOP 35110 EBM um 30 vH) – mit Entscheidung der Prüfungsstelle vom 25. November 2015 eingestellt. Es hieß dort: „Zwar werden auch nach Durchführung der vorbeschriebenen Maßnahme überdurchschnittliche Ansatzfrequenzen ausgewiesen, dennoch sieht die Prüfungsstelle nach der sachlich-rechnerischen Korrektur keinen Anlass für eine weitergehende Wirtschaftlichkeitsprüfung“.

 

Mit Schreiben vom 23. Januar 2017 informierte die Prüfstelle der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein (Prüfstelle) die Klägerin darüber, dass die Anzahl der abgerechneten GOPen 35100 EBM (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) und 35110 EBM (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) in den Quartalen IV/2014 bis III/2015 den doppelten Fachgruppendurchschnitt überschritten hätten. Die Klägerin teilte mit, die Praxis mit dem Schwerpunkt in der Betreuung psychosomatischer Erkrankungen im Jahr 2010 übernommen und fortgeführt zu haben sowie als weiteren Schwerpunkt Patienten mit palliativmedizinischem Ansatz zu behandeln. Beide Schwerpunkte bedingten die überdurchschnittlich häufige Erbringung und Abrechnung von Gesprächsleistungen und sei eine zu berücksichtigende Praxisbesonderheit. Die psychotherapeutische Versorgung in N1 sei nicht hinreichend, was sie in ihrer Praxis aufgefangen habe, bis eine Psychotherapie habe begonnen werden können (Schreiben vom 22. März 2017).

 

Mit Bescheid vom 10. Juli 2017 setzte die Prüfstelle Prüfabstriche von den GOPen 35100 und 35110 EBM für die Quartale IV/2014 bis III/2015 iHv insgesamt 24.457,73 Euro fest. Gegen den am 11. Juli 2017 zugestellten Bescheid legte die Klägerin am 29. Juli 2017 Widerspruch ein. Bei der Festsetzung des Regresses sei die Regelung des § 43 Prüfvereinbarung 2016 nicht bedacht worden. Die vorgebrachte Besonderheit palliativmedizinischer Betreuung todkranker und sterbender Menschen und deren Begleitung bei der psychischen Verarbeitung sei nicht gewürdigt worden. Sie bezweifele außerdem die Homogenität der Vergleichsgruppe. Die hohe Anzahl der Abrechner in der Arztgruppe (ca 55 vH bzw ca 65 vH) im Verhältnis zur gesamten Arztgruppe dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere in der großen Gruppe der Hausärzte nicht jede Praxis, die in einzelnen Fällen Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung erbringe, auch einen solchen Versorgungsschwerpunkt habe. Gegen die Homogenität der Vergleichsgruppe spreche auch, dass 18 vH den doppelten Durchschnitt überschritten.

 

Nach Anhörung vom 15. November 2017 und Verweis der Klägerin auf ihr Vorbringen setzte die Prüfstelle mit Bescheid vom 9. Mai 2018 Prüfabstriche der GOPen 35100 und 35110 EBM für die Quartale IV/2015 bis IV/2016 iHv insgesamt 28.894,46 Euro fest. Die Begründung entsprach derjenigen im Bescheid vom 10. Juli 2017. Gegen den am 12. Mai 2018 zugestellten Prüfbescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 11. Juni 2018 (vorab per Fax; Eingangsstempel am Mittwoch 13. Juni 2018) Widerspruch ein.

 

Die Widersprüche betreffend die Quartale IV/2014 bis IV/2016 wies der Beklagte mit Beschluss vom 14. November 2018 (ausgefertigt am 30. Januar 2019) unter Bestätigung und Auflistung der quartalsweisen Honorarminderungen zurück. Die (tabellarisch dargestellte) Vergleichsgruppenbildung sei homogen. Nach Einsichtnahme in die Behandlungsausweise sei nicht davon auszugehen, dass sich in der Praxis der Klägerin in einem solchen Ausmaß mehr Patienten mit psychosomatischen Krankheitszuständen einfänden als in der Vergleichsgruppe. Ein anderes Patientenklientel sei nicht erkennbar. Eine etwaige Unterversorgung mit Psychotherapeuten könne den Mehransatz nicht begründen, da die Gesprächsleistungen keine Ersatzpsychotherapie seien. Für die Palliativfälle, in denen die GOP 03371 EBM abgerechnet worden sei, seien die GOPen 35100 und 35110 EBM nur wenige Male abgerechnet worden, so dass die palliativmedizinische Versorgung die hohe Anzahl an Gesprächsleistungen nicht erklären könne. Eine Häufigkeit von 500 bis 800 psychosomatischen Leistungen sei nicht mehr wirtschaftlich. Da die Überschreitung des doppelten modifizierten Fachgruppendurchschnitts nicht durch Praxisbesonderheiten begründet sei, seien die über diesem Grenzwert hinaus abgerechneten Leistungen zu kürzen. Die Klägerin habe anlässlich der Prüfung der Abrechnungen der Quartale I/2006, II/2006 und III/2006 im Jahr 2007 eine schriftliche Beratung erhalten, so dass ihr die Grundzüge der Wirtschaftlichkeitsprüfung, insbesondere im Hinblick auf den Vergleich mit der Fachgruppe, bekannt seien. Diesen Vergleich hätte sie regelmäßig anhand der mit jeder Honorarabrechnung von der Beigeladenen zu 7. zur Verfügung gestellten Anzahlstatistik vornehmen können.

 

Gegen den am 31. Januar 2019 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 28. Februar 2019 Klage vor dem Sozialgericht Kiel (SG) erhoben. Sie hat ihre Argumentation zum Vorrang der Beratung sowie zum fehlerhaften methodischen Vorgehen bei der Vergleichsgruppenbildung wiederholt und vertieft sowie ihre Argumentation einer anzuerkennenden Praxisbesonderheit aufrechterhalten. Unklar sei, welche Behandlungsausweise der Klägerin und der Vergleichsgruppe ausgewertet worden seien. Ihrer Diagnoseliste könne sie entnehmen, dass bei fast allen Patienten, bei denen die streitgegenständlichen GOPen abgerechnet worden seien, eine Kombination aus somatischen und psychischen Diagnosen vorgelegen habe.

 

Das SG hat den Beschluss des Beklagten mit Urteil vom 25. Mai 2022 aufgehoben, da die Klägerin habe beraten werden müssen. Die Beratung aus dem Jahr 2007 sei zu alt. Die Auslegung des Bescheides der Prüfungsstelle vom 25. November 2015 ergebe, dass die Klägerin ihr Abrechnungsverhalten der GOPen 35100 und 35110 EBM als wirtschaftlich habe betrachten können.

 

Gegen das am 13. Juni 2022 zugestellte Urteil richtet sich die am 5. Juli 2022 eingegangene Berufung des Beklagten, mit der er sich schwerpunktmäßig dagegen wendet, dass die Klägerin zuvor habe beraten werden müssen. Die Beratung aus dem Jahr 2007 für die Quartale I bis III/2006 habe sehr wohl noch Bedeutung und der Bescheid der Prüfungsstelle vom 25. November 2015 habe keinen Vertrauensschutz begründen können.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 25. Mai 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Klägerin hält ihre bisherige Argumentation zum Vorrang der Beratung aufrecht. Insbesondere könne der Bescheid der Prüfungsstelle vom 25. November 2015 Vertrauensschutz begründen. Ferner hält sie an ihrem Vortrag zu anzuerkennenden Praxisbesonderheiten fest.

 

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

 

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die Gerichtsakte vorgelegen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die aktenkundigen Unterlagen und Schriftsätze Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Beklagten ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingegangen. Sie ist begründet.

 

1. Die ausschließlich gegen den Beschluss des Beklagten vom 14. November 2018 gerichtete Anfechtungs- und (Neu-)Bescheidungsklage der Klägerin gemäß den §§ 54 Abs 1, 113 Abs 3 SGG (vgl zu dieser verfahrensrechtlichen Besonderheit der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 29. Juni 2011 – B 6 KA 16/10 R – juris mwN) ist zwar statthaft und auch im Übrigen zulässig; in der Sache kann sie jedoch keinen Erfolg haben. Der Beschluss des Beklagten vom 14. November 2018 über eine Honorarrückforderung iHv insgesamt 53.352,19 Euro wegen einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise der Klägerin in den Quartalen IV/2014 bis IV/2016 ist rechtmäßig und war – entgegen der Auffassung des SG – nicht aufzuheben.

 

2. Rechtsgrundlage für die Geltendmachung derartiger Honorarrückforderungen ist die Regelung in § 106 Abs 2 Satz 4 SGB V (hier anzuwenden idF des GKV-Wettbewerbs­stär­kungsgesetzes <GKV-WSG> vom 26. März 2007 <BGBl I 378>) iVm der ab 2012 jeweils gültigen Prüfvereinbarung (PrüfV). Dort haben die Landesverbände der Krankenkas­sen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der beigeladenen KÄV ua von der ihnen gesetzlich eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht, für Schleswig-Holstein über die in § 106 Abs 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen (Auffälligkeits- und Zufälligkeits-)Prü­fungen hinaus Prüfungen ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten zu vereinbaren (zur Berechtigung der Vertragspartner für den Abschluss solcher Prüfvereinbarungen vgl BSG, Urteil vom 9. April 2008 – B 6 KA 34/07 R – juris). Entsprechend werden nach den Vorgaben in § 9 Abs 2 Nr 3 der PrüfV 2012 auch die Honorarabrechnungen von Vertragsärzten in die Prüfung ärztlicher Leistungen einbezogen, „bei denen in einzelnen Leistungen der Fallwert der Vergleichsgruppe um mehr als 100 % überschritten wird.“ Dabei sind in die Ermittlung der statistischen Vergleichszahlen allerdings „nur die Abrechnungen einzubeziehen, in denen die betreffenden Leistungen enthalten sind.“

 

3. Der Beschluss des Beklagten ist formell rechtmäßig. Der Beklagte war zuständig (§ 106 SGB V iVm § 2 PrüfV 2012) und wahrte die Verfahrens- und Formvorschriften (§ 13 Abs 1 Satz 1 PrüfV 2012; § 13 Abs 1 und Abs 3 Satz 7 PrüfV 2012).

 

4. Die Anwendung der für die Wirtschaftlichkeitsprüfung von Einzelleistungen maßgeblichen Grundsätze <dazu a)> und der Maßstäbe für die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten <dazu b)> führt dazu, dass der Beschluss des Beklagten vom 14. November 2018 rechtmäßig ist <dazu c)>.

 

a) Nach den zur Wirtschaftlichkeitsprüfung von der Rechtsprechung entwickelten Grund­sätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe - bzw mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe - im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten bzw mehrerer zu Leistungssparten zusammengefasster Leistungspositionen der Bewertungsmaßstäbe in offensichtlichem Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, dh, ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit. Ein statistischer Einzelleistungsvergleich setzt voraus, dass davon Leistungen betroffen sind, die für die gebildete Vergleichsgruppe typisch sind und zumindest von einem größeren Teil der Fachgruppenmitglieder regelmäßig in nennenswerter Zahl erbracht werden. Dass die Leistungen nur für eine begrenzte Gruppe von Behandlungsfällen in Betracht kommen, schließt ihren Charakter als Standardleistungen nicht aus. In zahlenmäßiger Hinsicht hat das BSG diese Voraussetzungen bejaht, wenn über 50 % der Mitglieder der Vergleichsgruppe eine GOP mindestens in 5 bis 6 % aller Behandlungsfälle abgerechnet haben. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine absolute Untergrenze, die eine Vergleichbarkeit ausschließt, wenn die Leistung in den geprüften Quartalen in der Fachgruppe lediglich durchschnittlich in 2 % bzw 1,98 % der Fälle abgerechnet wurde. Wenn der geprüfte Arzt nur mit den Mitgliedern seiner Arztgruppe verglichen wird, die die Leistung ebenfalls erbringen, liegt eine valide Vergleichsgruppe vor. Es ist auch - im Grundsatz - nicht zu beanstanden, wenn Prüfgremien im Rahmen einer Einzelleistungsprüfung die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bei einer Überschreitung des Durchschnitts der Vergleichsgruppe um 100 % festsetzen (grundlegend BSG, Urteil vom 16. Juli 2003 – B 6 KA 45/02 R –, Rn 17 – 26; BSG, Urteil vom 30. November 2016 – B 6 KA 29/15 R – Rn 16, 24; BSG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 – B 6 KA 25/20 B – Rn 13, juris).

 

b) Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung besteht ein Beurteilungsspielraum der Prüfgremien, soweit es um die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten geht (vgl hierzu BSG, Urteil vom 2. November 2005 – B 6 KA 63/04 R; BSG, Urteil vom 23. März 2011 – B 6 K 9/10 R – jeweils juris mwN). Dabei sind Praxisbesonderheiten anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf der jeweiligen Patientenklientel und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen werden (hierzu BSG, Urteil vom 23. März 2011, aaO mwN; BSG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 – B 6 KA 25/20 B – Rn 14). Die Darlegungs- und Feststellungslast für besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende atypische Umstände der Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen obliegt dabei regelmäßig dem Arzt. Er ist grundsätzlich gehalten, im Prüfungsverfahren die Umstände geltend zu machen, die sich aus der Atypik seiner Praxis ergeben, aus seiner Sicht auf der Hand liegen und den Prüfgremien nicht ohne Weiteres anhand der Verordnungsdaten und der Honorarabrechnung bekannt sind oder sein müssen (vgl hierzu BSG, Urteil vom 16. Juli 2008 – B 6 KA 57/07 R; Urteil vom 5. Juni 2013 – B 6 KA 40/12 R; jeweils juris mwN). Dass der Arzt seiner Darlegungs- und Beweislast nur nach einer - uU aufwendigen - Auswertung der gespeicherten Daten gerecht werden kann, steht dem nicht entgegen. Die Prüfgremien sind zu Ermittlungen von Amts wegen nur hinsichtlich solcher Umstände verpflichtet, die typischerweise innerhalb der Fachgruppe unterschiedlich und daher augenfällig sind (BSG, Urteil vom 13. Mai 2020 – B 6 KA 25/19 R – Rn 43). Der diesbezügliche Vortrag muss substantiiert sein, dh so genau wie möglich und plausibel sein (vgl hierzu BSG, Urteil vom 22. Oktober 2014 – B 6 KA 8/14 R - juris).

 

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist außerdem geklärt, dass Praxisbesonderheiten bereits gegenüber den Prüfgremien geltend gemacht werden müssen und erst im nachfolgenden Gerichtsverfahren geltend gemachter Vortrag insoweit als verspätet zurückzuweisen ist. Hintergrund ist, dass den fachkundig besetzten Prüfgremien ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Die gerichtliche Kontrolle ihrer Entscheidungen beschränkt sich deshalb auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (stRspr; vgl hierzu ua BSG, Urteil vom 8. Mai 1985 – 6 RKa 24/83 – juris). Das schließt es aus, im gerichtlichen Verfahren erstmals Umstände zu prüfen, auf die der Beschwerdeausschuss noch gar nicht eingehen konnte. Es würde auch Treu und Glauben widersprechen, wenn der Vertragsarzt im eigentlichen Prüfverfahren Gegebenheiten unerwähnt lässt, die auf eine Praxisbesonderheit hindeuten könnten, um sodann vor Gericht zu rügen, der Bescheid des Beschwerdeausschusses sei fehlerhaft, weil er diese Umstände nicht gewürdigt habe (so bereits BSG, Urteil vom 8. Mai 1985, aaO).

 

c) Das von dem Beklagten im Rahmen des statistischen Einzelleistungsvergleichs gewonnene Ergebnis, das Abrechnungsverhalten der Klägerin bei den GOPen 35100 und 35110 EBM habe in den streitigen Quartalen zu den Durchschnittswerten ihrer Fachkollegen in einem offensichtlichen Missverhältnis gestanden, begründe den Anschein der Unwirtschaftlichkeit und sei nicht durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt, ist frei von Rechtsfehlern. Das Vorgehen des Beklagten zur Bildung der Vergleichsgruppe (nur Leistungserbringer) und zur Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis (doppelter Vergleichsgruppendurchschnitt) weicht nicht von den oben dargestellten Rechtsgrundlagen und der Rechtsprechung des BSG zum zulässigen methodischen Vorgehen bei der Prüfung des Leistungsverhaltens von Ärzten nach Durchschnittswerten ab.

 

Sowohl vom Leistungsinhalt der GOPen als auch vom tatsächlichen Abrechnungsverhalten in der Vergleichsgruppe her ist eine für Allgemeinmediziner fachgruppentypische Leistung geprüft worden, die einem aussagekräftigen statistischen Vergleich zugänglich war. Die GOPen 35100 und 35110 EBM können als fachgruppenübergreifende Leistungen auch von Ärzten der Fachgruppe erbracht werden, der die Klägerin angehört. Die GOPen 35100 und 35110 EBM zeichnen sich nicht durch eine spezielle, in bestimmter Weise fachlich qualifizierten Ärzten vorbehaltene Leistungslegende aus; sie knüpfen vielmehr an die Erteilung einer Genehmigung nach § 5 Abs 6 der Psychotherapie-Vereinbarungen an. Die Leistungen wurden in allen geprüften Quartalen von mehr als 1.000 Ärzten der Fachgruppe erbracht. Bei der nur aus diesen Leistungserbringern gebildeten Vergleichsgruppe betrugen die Ansatzfrequenzen der GOP 35100 EBM zwischen 3,6 % und 5,0 % und die der GOP 35110 EBM zwischen 7,0 % und 9 %. Demgegenüber lagen die Ansatzfrequenzen in der Praxis der Klägerin für die GOP 35100 EBM zwischen 21,5 % und 34,7 % und für die GOP 35110 EBM zwischen 19,4 % und 37,2 %. Sie überschritten damit den jeweiligen Vergleichswert der Gruppe um ein mehrfaches, teilweise um das fünf- bis sechsfache.

 

Soweit der Beklagte nach Einsichtnahme in die Behandlungsausweise der Praxis der Klägerin von Amts wegen auf der Grundlage ihm zur Verfügung stehender Daten und Unterlagen keinen überdurchschnittlichen Anteil an Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen feststellen konnte, ist dieses Vorgehen methodisch und im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Klägerin reichte diesbezüglich keinen detaillierten Vortrag zur Akte, der patientenbezogen wenigstens beispielhaft nachvollziehbar erscheinen ließe, dass sich in einem solchen Ausmaß mehr Patienten mit psychosomatischen Krankheitszuständen einfinden als in der Vergleichsgruppe, dass eine Praxisbesonderheit nahe liegen und zu prüfen gewesen sein könnte. Ein pauschaler Vortrag, mehr Patienten mit bestimmten Erkrankungszuständen zu behandeln als andere Praxen, reicht regelmäßig nicht aus. Der Beklagte nahm von Amts wegen und insoweit methodisch fehlerfrei eine Gegenüberstellung der abgerechneten Leistungen für die palliativmedizinische Versorgung Versicherter (GOP 03371 EBM) mit den für diese Patienten (nicht) abgerechneten GOPen 35100 und 35110 EBM vor und zog beurteilungsfehlerfrei den Schluss, dass dieser Versorgungsbereich den weit überdurchschnittlichen Ansatz der GOPen 35100 und 35110 EBM nicht zu begründen vermochte. Eine etwaige Unterversorgung mit Psychotherapeuten konnte den Mehransatz – wie der Beklagte zutreffend ausführte - nicht begründen, da es sich bei den Leistungen der GOPen 35100 und 35110 EBM nicht um eine Ersatzpsychotherapie handelte.

 

5. Der Beschluss vom 14. November 2018 ist schließlich nicht deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte die Klägerin nach dem festgestellten unwirtschaftlichen Leistungsverhalten anstelle eines Regresses hätte beraten müssen. Die Klägerin war bereits zu unwirtschaftlicher Abrechnung von Einzelleistungen beraten worden <dazu a)> und es lag ein offensichtliches Missverhältnis vor, das die Prüfstelle auch von einer Verpflichtung zur Beratung entbunden hätte <dazu b)>. Ferner kann sich die Klägerin nicht auf Vertrauensschutz berufen <dazu c)>.

 

a) Nach § 106 Abs 5 Satz 1 SGB V entscheidet die Prüfungsstelle, ob der Vertragsarzt, der ermächtigte Arzt oder die ermächtigte Einrichtung gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat und welche Maßnahmen zu treffen sind. Dabei sollen gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen in der Regel vorangehen (§ 106 Abs 5 Satz 2 SGB V). Nach dem einer anderweitigen Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut in § 16 Abs 4 der PrüfV 2012 gilt der Vorrang der Beratungspflicht nicht nur für Richtgrößenprüfungen, sondern auch für „Prüfungen nach Durchschnittswerten gemäß § 9 Abs 2 und 3“ der PrüfV, soweit die festgestellte Überschreitung „zu einer erstmaligen Regressfestsetzung führen“ würde. Diese Absätze beziehen sich ua auf die „Prüfung ärztlicher Leistungen“ (§ 9 Abs 2 der PrüfV 2012) – vorliegend die GOPen 35100 und 35110 EBM.

 

Die Klägerin überschritt den Durchschnitt der Abrechnung ärztlicher Leistungen jedoch nicht erstmals in den hier verfahrensgegenständlichen Quartalen mit der Folge, dass diese Überschreitung „zu einer erstmaligen Regressfestsetzung führen würde“. Bereits in den Quartalen I bis III/2006 wurde festgestellt, dass der Anteil abgerechneter Gesprächsleistungen der Gemeinschaftspraxis, der die Klägerin angehörte, den doppelten Durchschnitt der Fachgruppe überschritt. Sie war dementsprechend – gemeinsam mit ihrem damaligen Praxispartner – Adressat der Beschlüsse über Beratungen vom 20. Oktober 2006 und 7. Februar 2007. Soweit sie vorträgt, ihr Praxispartner habe ihr den Inhalt der Beratungen nicht zur Kenntnis kommen lassen, so kann sie sich dadurch nicht exkulpieren. Auf arztindividuelles Verschulden kommt es im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 106 SGB V nicht an (BSG, Urteil vom 5. November 2008 – B 6 KA 63/07 R – Rn 28; BSG, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – B 6 KA 57/11 B – Rn 9). Anhaltspunkte dafür, an dem Zugang der Beschlüsse bei der damaligen Gemeinschaftspraxis zu zweifeln, liegen nicht vor.

 

Die Beratungen vom 20. Oktober 2006 und 7. Februar 2007 gelten als Beratung nach „festgestellter Überschreitung (des Durchschnitts), die zu einer erstmaligen Regressfestsetzung führen“ würde iSv § 16 Abs 4 PrüfV. Dem steht nicht entgegen, dass § 16 Abs 4 Satz 2 SGB V vorsieht, dass dies – der Grundsatz Beratung vor Regress – für solche Prüfverfahren gilt, über welche ab dem 1. Januar 2012 entschieden wird. Diese Regelung lautet nicht dahingehend, dass der Wortlaut vorsieht „Dies gilt erstmals für die vorgenannten Prüfverfahren, über welche ab dem 01.01.2012 entschieden wird“ mit der Folge, dass immer dann, wenn ab dem 1. Januar 2012 über ein Prüfverfahren entschieden wird, zuerst eine Beratung erfolgt und dann erst bei wiederholter Überschreitung ein Regress festgesetzt werden kann. Der Bezug auf den Stichtag 1. Januar 2012 führt lediglich dazu, dass „eine individuelle Beratung erfolgt“, dh zwingend durchzuführen ist. Damit wird diese Prüfvereinbarung von der ab 1. Januar 2004 und der ab 1. Januar 2008 geltenden PrüfV abgegrenzt, wonach jeweils gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen lediglich „in der Regel vorangehen (sollen)“ (vgl § 6 Abs 3 Satz 3 PrüfV 2006 vom 5. Januar 2006). Zeitliche Grenzen für die Geltungsdauer einer Beratung nach wirtschaftlicher Auffälligkeit durch Überschreiten des doppelten Durchschnitts bei der Abrechnung einer Einzelleistung nach GOP gelten weder nach dem Wortlaut der PrüfV oder dem SGB V noch nach der Rechtsprechung.

 

b) Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des BSG eine vorgängige Beratung gemäß § 106 Abs 5 Satz 2 SGB V dann nicht erforderlich, wenn dem Arzt – wie vorliegend der Klägerin mit der mehrfachen Überschreitung des doppelten Vergleichsgruppendurchschnitts – ein Mehraufwand im Ausmaß eines sogenannten offensichtlichen Missverhältnisses anzulasten ist. Denn jeder Vertrags(zahn)arzt ist sogleich von Beginn seiner Tätigkeit an zur Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots verpflichtet (BSG, Urteil vom 28. April 2004 – B 6 KA 24/03 R – Rn 22; BSG, Urteil vom 13. Mai 2020 – B 6 KA 25/19 R – Rn 34). Daher hätte der Beklagte in diesem atypischen Fall angesichts der früheren, gleich mehrfachen sowie jeweils deutlichen Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts auch keine vorherige Beratung erteilen müssen (vgl hierzu auch das Senatsurteil vom 6. Juni 2023 – L 4 KA 43/19).

 

c) Anhaltspunkte dafür, dass der Bescheid der Prüfungsstelle vom 25. November 2015 geeignet sein könnte, Vertrauensschutz dahingehend zu begründen, dass die Klägerin die Anzahl der GOPen 35100 und 35110 EBM in wirtschaftlichem Umfang erbringe, liegen fern. Ein unterbliebener Regress in vorangegangenen Quartalen ist an sich schon nicht geeignet, Vertrauen für zukünftige Quartale zu begründen, da die Prüfungen immer quartalsbezogen erfolgen (vgl BSG, Beschluss vom 9. September 1998 – B 6 KA 22/98 B – Rn 8). Vertrauensschutz in die Billigung eines Leistungs- und Abrechnungsverhaltens kann allenfalls durch eine explizite quartalsbezogene schriftliche verbindliche Einlassung der Prüfstelle als entscheidender Institution begründet werden (BSG, Urteil vom 5. November 2008 – B 6 KA 63/07 R – Rn 30; BSG, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – B 6 KA 57/11 B – Rn 9). Eine solche Erklärung lag für die verfahrensgegenständlichen Quartale aber nicht vor. Darüber hinaus führte der Bescheid vom 25. November 2015 in keiner Weise aus, in welchem Umfang die Leistungen der GOPen 35100 und 35110 EBM nunmehr oder in Zukunft als wirtschaftlich erbracht angesehen werden könnten. Insbesondere fehlen in der Sache Angaben dazu, welche überdurchschnittlichen Ansatzfrequenzen der GOPen aus Sicht des Prüfgremiums noch mit dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit zu vereinbaren sind. Der Bescheid der Prüfungsstelle ist daher schon dem Grunde nach nicht geeignet, Vertrauensschutz zu begründen.

 

Nach allem war die Entscheidung des Beklagten rechts- und beurteilungsfehlerfrei und das Urteil des Sozialgerichts daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 197a SGG, 154 Abs 2, 162 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

 

7. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) lagen nicht vor. Der Senat weicht nicht von der Rechtsprechung des BSG ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und in diesem Verfahren wurden keine Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung geklärt (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). 

 

8. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs 1, 52 Abs 1 und Abs 3 Satz 1, 63 Abs 2 Gerichtskostengesetz (GKG).

 

Rechtskraft
Aus
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