L 6 U 51/20

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 23 U 70/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 6 U 51/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die Möglichkeit zur Neubestimmung der Rentenhöhe aus § 62 Abs 2 Satz 2 SGB VII ohne Aufhebungsvoraussetzungen hinsichtlich der vorherigen Rentenhöhe ermächtigt nicht zugleich zur freien Neufeststellung von Unfallfolgen.
2. Die Aufhebung einer früheren Feststellung von (günstigen) Unfallfolgen kann nur auf die §§ 45, 48 SGB X gestützt werden.
3. Die allgemeinen Erfahrungssätze zur Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei Knieschäden erschöpfen sich nicht in der Abstufung nach Streck- und Beugemöglichkeit.
4. Weist ein Sachverständiger Funktionsstörungen eines Knies nach, die mit der Fähigkeit zur Streckung und Beugung nicht in wesentlichem Zusammenhang stehen, kann er die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Vergleich mit anderen Bewertungsmaßstäben in den allgemeinen Erfahrungssätzen beurteilen.

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 18. Juni 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli  2019 werden auch hinsichtlich der Änderung der Feststellung der Unfallfolgen aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 1. April 2018 an Verletztenrente nach  einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. zu zahlen.

 Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge und das Vorverfahren zu erstatten.

 Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf eine Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 8. Januar 2016.

Der Kläger rutschte als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr R. in einem Alarmfall auf dem Weg zum Gerätehaus aus, stürzte auf das rechte Kniegelenk und zog sich dort einen Riss der Patellarsehne zu. Die angestrebte stufenweise Wiedereingliederung in seinen Beruf als Tiefbaufacharbeiter musste der Kläger im Rahmen einer Arbeits- und Belastungserprobung abbrechen, weil er insbesondere nicht ausreichend knien und Leitern herabsteigen konnte.

Mit Bescheid vom 28. September 2017 erkannte die Beklagte den Arbeitsunfall an und bezeichnete als dessen Folgen:

noch nicht kompensierte erhebliche muskuläre Imbalance des rechten Beines mit Standunsicherheit in Neutralstellung nicht ausführbare stabile Einnahme der Hockstellung mit Verlagerung auf das gesunde linke Bein Verwachsungen und Einschränkungen der Beweglichkeit des patellofemoralen Gleitlagers bei Patellabaja-Stellung rechts, postoperativ nach Refixation der Patellarsehne mit konsekutiv nachweisbarem, schmerzhaftem Krepitationsphänomen bei Bewegung des rechten Kniegelenkes unter Entlastung und Belastung endgradig eingeschränkte Kniegelenksbeugung rechts bei Verkürzung des Streckapparates. Für den Zeitraum bis zum 31. März 2018 zahlte sie eine Gesamtvergütung auf einen Anspruch auf Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H..

Die medizinische Beurteilung stützte sich auf das erste Rentengutachten des Facharztes für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. B. vom 20. April 2017, der die Einschätzung aufgrund der „deutlich bestehenden Funktionseinschränkungen“ vorgenommen hatte.

Mit seinem Gutachten zur Nachprüfung der Minderung der Erwerbsfähigkeit vom 28. September 2018 schätzte Dr. B. diese weiterhin mit 20 v. H. ein. Er bezeichnete als Unfallfolgen und deren funktionelle Einschränkungen:

Nicht kompensierte, erhebliche muskuläre Imbalance des rechten Beines mit Standunsicherheit, Steigeunsicherheit und Unsicherheit beim Beugen unter Belastung

Kein Ausführen von knienden und hockenden Tätigkeiten

Endgradig eingeschränkte Beugung des rechten Kniegelenkes

Schmerzhaftes peripatellares Schmerzsyndrom infolge der verletzungsbedingten Verwachsungen des Kapselbandapparates mit entsprechenden Krepitationen und begleitender posttraumatischer Arthrose des Patellofemoralbereiches des rechten Kniegelenkes.

Der Kläger gebe an, nicht mehr im Hocken oder Knien arbeiten oder Leitern besteigen zu können. Beim Treppensteigen, insbesondere Abwärtsgehen, aber auch Gehen auf ebenem Grund komme es zu unvorhersehbarem Wegknicken des rechten Knies. Er verwende Schmerzmittel und einen Lymphkompressionsstrumpf wegen wiederkehrenden Anschwellens des Kniegelenkes und Unterschenkels. Nach Befunderhebung des Gutachters werde das rechte Bein in Gang und Stand leicht nach außen rotiert. Die Hockstellung nehme der Kläger nur bis zu einer Kniebeugung von 60° korrekt ein. Beim Durchbewegen träten erhebliche Krepitationen im Gelenkraum von Kniescheibe zu Oberschenkel auf. Es sei auch schmerzhaft. Das Patellarsehnengleitlager sei erheblich verbacken, die freie Beweglichkeit der Kniescheibe eingeschränkt. Es liege rechts ein deutliches Zohlen-Zeichen vor. Das typische Streckmuskelprofil wie auf der Gegenseite finde sich beim rechten Quadrizepsmuskel nicht. Im Röntgenbild zeige sich eine verkürzte Patellarsehne mit zunehmender Verkalkung am unteren Patellapol. Durch den erhöhten Anpressdruck der Patella komme es zu einer beginnenden posttraumatischen Arthrose. Der Oberschenkelumfang sei gegenüber der linken Seite um vier Zentimeter vermindert. Die Kniegelenksbeweglichkeit sei rechts gegenüber der Gegenseite auf 10°/0°/120° vermindert.

Die Beklagte holte eine beratende Stellungnahme des Chirurgen/Unfallchirurgen Dr. C. vom 20. Oktober 2018 ein, der nach den Bewegungsmaßen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mehr als 10 v. H. für unangemessen hielt, die ihrerseits auch nur auf die noch deutliche Muskelminderung zu stützen sei.

Mit Bescheid vom 25. Februar 2019 lehnte die Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Verletztenrente ab. Als Unfallfolgen bezeichnete sie eine endgradige Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk mit noch deutlicher Verschmächtigung im Bereich der Oberschenkelmuskulatur rechts nach Patellarsehnenruptur des rechten Kniegelenkes.

Den am 11. März 2019 erhobenen Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Bescheid vom 16. Juli 2019 zurück und hob hervor, in Abgleichung mit den medizinischen Erfahrungswerten rechtfertige die Beweglichkeit keine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H.. Die noch vorgefundene Muskelminderung sei nicht dauerhaft, weil sie durch Muskelaufbautraining ausgleichbar sei.

Mit der am 15. August 2019 beim Sozialgericht Halle eingegangenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Sachverständigen Dr. K., Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, vom 14. Februar 2020 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 43 - 60 d. A. Bezug genommen wird. Im Wesentlichen hat Dr. K. die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 20 v. H. eingeschätzt. Als unfallbedingte Funktionsstörungen hat er ein endgradiges Beugedefizit (5°/0°/120°) des rechten Kniegelenkes und eine Insuffizienz des Kniestreckapparates mit erheblicher Verschmächtigung der rechten Oberschenkelmuskulatur (von weiterhin vier Zentimetern oberhalb des Knies) und Schwellneigung des rechten Kniegelenkes bezeichnet. Es finde sich auch eine altersvorauseilende Arthrose in dem Gelenk.

Die Beurteilung könne nicht allein auf die Kniebeugefähigkeit gestützt werden. Hier gingen die Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt deutlich über das Beugedefizit hinaus. Die Funktionsstörungen seien vergleichbar mit einer muskulär nur unzureichend kompensierten Bandinstabilität des Kniegelenkes, die nach den Erfahrungswerten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. beurteilt werde.

Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme des Arztes für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. W. vom 7. April 2020 eingeholt, Er hat u. a. ausgeführt, der Tiefstand der Kniescheibe sei eher durch die Verkürzung der gerissenen Sehne als durch die Schwäche der Oberschenkelmukulatur bedingt. Jedenfalls könne der Kläger sich nach einer Kniebeugung von 90° wieder zum Stand aufrichten. Die (auch) im Kniehauptgelenk vorhandene Arthrose sei nicht dem Unfall, sondern dem Übergewicht anzulasten. Die Schwäche der Oberschenkelmukulatur dürfe neben der Bewegungseinschränkung nicht nochmals bewertet werden.

Mit seinem Urteil vom 18. Juni 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die unfallbedingten Gesundheitsschäden erreichten keine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H.. Eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X i. V. m. § 73 Abs. 3 SGB VII sei insoweit nicht notwendig, weil die Beklagte die Verletztenrente zuvor lediglich befristet als vorläufige Entschädigung geleistet habe. Das Gericht folge den Beratungsärzten der Beklagten Dres. C. und W.. Unter Berücksichtigung der Erfahrungswerte in Rechtsprechung und Literatur ergebe sich keine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H.. Denn die Beweglichkeit des betroffenen rechten Kniegelenkes sei mit zumindest 5°/0°/120° mitgeteilt worden, während sie für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. stärker auf mindestens 0°/0°/90° beschränkt sein müsse. Der Einschätzung von Dr. B. sei daher nicht zu folgen.

Die vom Sachverständigen Dr. K. zur Begründung angeführte Instabilität des Gelenks rechtfertige das Ergebnis ebenfalls nicht, weil sie aus seinen Untersuchungsbefunden ebenso wenig ableitbar sei, wie aus den Befunden Dr. B.s. Die nach Darstellung des Klägers nur im Einzelfall auftretenden Fälle eines Einknickens rechtfertigten auch nicht die Diagnose einer nicht muskulär kompensierbaren Knieinstablität, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. begründen könne.

Gegen das Urteil hat der Kläger am 15. Juli 2020 Berufung eingelegt. Er stützt sich weiterhin auf die Gutachten des Sachverständigen Dr. K. und der Vorgutachter mit Ausnahme von Dr. C..

Der Kläger beantragt,

 das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 18. Juni 2020 und den Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. April 2018 an Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

 die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung fest und das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

Das Gericht hat eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. K. vom 16. Februar 2021 zu der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. eingeholt, wegen deren Einzelheiten auf Bl. 144 – 148 d. A. Bezug genommen wird. Dr. K. hat der Stellungnahme von Dr. W. keine Gesichtspunkte entnommen, die ihn zur Änderung seiner Beurteilung veranlassten. Er hat ergänzend darauf hingewiesen, er habe eine vergleichende Röntgenaufnahme beider Kniegelenke nicht für erforderlich gehalten, da auch das linke Kniegelenk von einem Bänderriss betroffen gewesen und damit kein nützlicher Vergleichsmaßstab sei.

Das Gericht hat einen Befundbericht der D-Arzt-Ambulanz der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des Klinikums B. in H. vom 30. März 2023 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 189 – 195 d. A. Bezug genommen wird. Danach lag auch bei der letzten Untersuchung zwei Tage zuvor kein Anhalt für eine Störung (Insuffizienz) des Kniestreckapparates vor.

Das Gericht hat ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C., Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie vom 4. September 2023 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 221 – 240 d. A. Bezug genommen wird. Der Sachverständige ist im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, die Minderung der Erwerbsfähigkeit aus dem Unfall belaufe sich seit dem 1. April 2018 auf 10 v. H.. Die Beweglichkeit habe die Einschränkungen einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit stets überschritten. Eine Kreuz- oder Seitenbandinstabilität habe niemals durch Befunde untersetzt werden können. Klinisch seien die verminderte Beweglichkeit der rechten Kniescheibe bei vernarbtem Kniescheibenband und geringem Kniescheibentiefstand von einem Zentimeter sowie Muskelmassenminderung des Beines von bis zu vier Zentimetern im Oberschenkel festzustellen. Im Bereich des Gelenkes sei das Knie geschwollen. Eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit sei nach den aktuellen Beurteilungsempfehlungen zur verbleibenden Beweglichkeit des Kniegelenks nicht zu begründen.

In der mündlichen Verhandlung und bei der Beratung haben neben den Gerichtsakten die Verwaltungsakten der Beklagten – Az. 2016M0033002 – vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist begründet.

Der Kläger wendet sich mit einer Anfechtungsklage gegen die Änderung der Feststellung der Unfallfolgen gegenüber dem Bescheid der Beklagten vom 28. September 2017. Im Übrigen verfolgt er mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage den Anspruch auf Verletztenrente auf unbestimmte Zeit.

Der Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2019 beschwert den Kläger im Sinne von § 157 i. V. m. § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil die Beklagte darin zu Unrecht die Bezeichnung der Unfallfolgen geändert und die Zahlung einer Verletztenrente abgelehnt hat.

Grundlage für eine Änderung der Feststellung der Unfallfolgen beim Kläger gegenüber dem Bescheid vom 28. September 2017 können nur die §§ 45 und/oder 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X – i. d. F. d. Bekanntmachung v. 18.1.2001, BGBl. I S. 130) sein. Denn in der Neufeststellung liegt zugleich eine schlüssige Aufhebung der früheren Feststellung, weil diese angesichts der Neubezeichnung der Unfallfolgen keinen Fortbestand mehr haben kann und soll.

Eine Sonderregelung hinsichtlich der Feststellung der Unfallfolgen ergibt sich nicht aus § 62 Abs. 2 S. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII – G. v. 7.8.1996, BGBl. I S. 1254). Denn die danach nicht zu prüfende Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X betrifft nur den von § 62 SGB VII betroffenen Themenbereich des Anspruchs auf Verletztenrente. Nur für diesen Anspruch kann offenbleiben, ob eine abweichende Feststellung für die Zukunft auf einem von Anfang an bestehenden Fehler beruht, der die vorherige Gewährung einer vorläufigen Rente ggf. auch rechtswidrig im Sinne von § 45 Abs. 1 S. 1 SGB X macht, oder ob die neue Feststellung durch eine Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X veranlasst wäre.

Darauf beschränkt sich die Feststellung der Unfallfolgen nicht, weil sie sogar vorrangig den Heilbehandlungsanspruch begrenzt, der nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII nur im Hinblick auf den durch den Versicherungsfall verursachten Gesundheitsschaden besteht.

Die Verhältnisse anlässlich der Feststellung der Unfallfolgen im Bescheid vom 28. September 2017 haben sich vor der Neufeststellung durch den angefochtenen Bescheid nicht im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X geändert. Denn die mitgeteilten Befunde und Funktionsstörungen, die nach dem ersten Gutachten von Dr. B. als Unfallfolgen Eingang in den Bescheid vom 28. September 2017 Eingang gefunden haben, entsprechen deckungsgleich den von ihm bezeichneten Unfallfolgen in seinem Folgegutachten. Dr. B. weist auch im Übrigen auf keine Änderung hin, während Dr. C. sich in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme mit der Bezeichnung der Unfallfolgen nach dem Gutachten überhaupt nicht befasst.

Die Unfallfolgen in dem Bescheid vom 28. September 2017 sind auch nicht durch sachliche Unrichtigkeit von Anfang an rechtswidrig im Sinne von § 45 Abs. 1 S. 1 SGB X festgestellt. Kein am Verfahren beteiligter Mediziner hat behauptet, dass die gutachterlichen Ergebnisse Dr. B.s hinsichtlich der Bezeichnung der Unfallfolgen unzutreffend gewesen seien. Vielmehr schließt sich der Sachverständige Dr. K. seinen Ausführungen vollständig an. Auch der Sachverständige Dr. C. wendet sich gegen das Gutachten ausschließlich hinsichtlich der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Lassen sich damit weder eine von Anfang an bestehende Unrichtigkeit noch eine danach eingetretene wesentliche Änderung der festgestellten Unfallfolgen feststellen, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Neufeststellung der Unfallfolgen schon wegen der Begründungs- und Anhörungsmängel aufzuheben ist, weil die genannten Aufhebungsvorschriften in beiderlei Hinsicht keinerlei Rolle im Verfahren gespielt haben.

Der Kläger hat auch gem. § 56 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 SGB VII Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit bei ihm sich über den 31. März 2018 hinaus auf 20 v. H. beläuft. Dieser Einschätzung von Dr. B. und von dem Sachverständigen Dr. K. schließt das Gericht sich an.

Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist eine rechtliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung unter Berücksichtigung der in Rechtsprechung und im einschlägigen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze trifft, die in Form von Tabellenwerten oder Empfehlungen zusammengefasst sind. Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend. Sie bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und sind die Basis für den Vorschlag, den der medizinische Sachverständige dem Gericht zur Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit unterbreitet (vgl. nur BSG, Urteil vom 18. März 2003 – B 2 U 31/02 R – Breithaupt 2003, 565).

Soweit Dr. K. seine Beurteilung auf eine Parallele der Funktionsminderung beim Kläger zu einer muskulär nicht stabilisierten Bandinstabilität im Knie stützt, die nach allgemeinen Erfahrungssätzen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. bedingt (so Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 3/21, Anh. 12 J 034, Schönberger/Mehrens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 653), schließt das Gericht sich dieser Beurteilung als nachvollziehbar und überzeugend an. Denn der Sachverständige erläutert in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 16. Februar 2021 auf die dagegen erhobenen Einwände den Einfluss des Kniescheibentiefstandes im Zusammenwirken mit der Muskelschwäche und -verschmächtigung auf die Stabilität des Knies, die mit einer Bandschwäche vergleichbar ist. Er weist darauf hin, dass sich die Geometrie der an der Kniescheibe ansetzenden Zugkräfte durch die Verwachsung und deren Übertragung auf das Kniegelenk ändert und damit auch zu einer Instabilität beiträgt. Diese werde durch die Verschmächtigung der Kniestreckmuskulatur verstärkt. Die daraus auch hervorgehende Instabilität werde durch die Prüfung der Bandstabilitäten nicht widerlegt. Diese Ausführungen bestreitet Prof. Dr. C. nicht.

Dem Vergleich mit einer Bandinstabilität lässt sich insbesondere nicht entgegenhalten, der Kläger selbst schildere das Wegknicken nur als gelegentlichen Vorgang. Denn die Voraussetzung einer unvollständigen Kompensation (so Mehrtens, a. a. O.), aber auch einer nicht bestehenden Kompensation (Schönberger u. a., a.a.O.) enthält ein häufiges Einknicken nicht. Kompensiert ist eine Bandschwäche erst dann, wenn der Zustand eines gesunden Bandes erreicht ist, der ein verlässlich stabiles Fortbewegen ermöglicht. Dass der Kläger diese Verlässlichkeit nicht empfindet, zeigt die Schonung seines rechten Beines, die sich in einer über Jahre nicht veränderten Muskelverschmächtigung äußert.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beim Kläger erschöpft sich insbesondere nicht in der Beurteilung der Funktionsfolgen durch die Bewegungseinschränkung des Kniegelenks. Denn sowohl Dr. B. als auch Dr. K. beschreiben mehrere Schäden im Knie- und Beinbereich, die sich trotz ihres geringen Einflusses auf die Beweglichkeit des Knies in Streckung und Beugung funktionell deutlich auswirken. So schont der Kläger in allen Standarten das rechte Bein, vermeidet Hocken und Knien und empfindet eine Unsicherheit vor allem beim Abwärtsgehen, wie er nicht nur anlässlich der Begutachtung angegeben hat. Denn dieselben Ausfälle haben auch schon die stufenweise Wiedereingliederung verhindert und sind Gegenstand von ärztlichen Funktionsbeschreibungen anlässlich der folgenden Rehabilitatonsbemühungen gewesen. Schon Dr. B. gibt dafür die Erklärung in einer eingeschränkten Beweglichkeit der Kniescheibe, die sich aus einer verbackenen Verheilung des Kniescheibengleitlagers zum Oberschenkel und dem Tiefstand der Kniescheibe durch Verkürzung der Sehne ergibt. Der dabei entstehende Druck auf die Gelenkknochen zeigt sich in einer beginnenden posttraumatischen Arthrose im patellofemoralen Gelenkraum, die sich klinisch in erheblicher und schmerzhafter Krepitation beim Durchbewegen im Kniegelenk äußert. Dies findet einen radiologischen Beleg in diskreten osteophytären Anbauten im Bereich der retropatellaren Gelenkfläche, wie bereits im Befund der Röntgenbilder des rechten Kniegelenks vom 8. August 2017 des BG Klinikums B. beschrieben ist. Eine Bestätigung der schmerzhaften Kniegelenksveränderungen findet sich auch in dem durchgehend nur rechts positiven Zohlen-Zeichen. Die Beschreibung der funktionellen Zusammenhänge, die Dr. K. insbesondere in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 16. Februar 2021 abgegeben hat, stimmt damit vollständig überein.

Die mit diesen Funktionsminderungen einhergehende Minderbelastung des rechten Beins des Klägers zeigt sich durchgehend von der Erstbegutachtung bei Dr. B. am 20. April 2017 bis zum Gutachten von Prof. Dr. C. in einer Muskelminderung um vier Zentimeter in der Höhe von 20 cm oberhalb des Kniegelenkspalts. Eine solche Muskelminderung ist funktionell nicht bedeutungslos, wie die Einbeziehung des Ausmaßes der Muskelminderung in die Beurteilung der Funktionseinschränkung des Hüftgelenks verdeutlicht (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., 2017, S. 625, Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Erg.-Lfg. 7/23, Anhang 12, J 027).

Die Einordnung durch Dr. B. und Dr. K. passt auch zu weiteren Fallgruppen allgemeiner Erfahrungssätze für Funktionsstörungen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H..

Eine Vergleichbarkeit der beschriebenen Funktionsstörungen besteht insoweit etwa mit einer deutlichen Coxarthrose, bei der bei einer insgesamt noch nicht deutlichen Bewegungseinschränkung im – dort – Hüftgelenk eine Muskelminderung von zwei Zentimetern vorliegt und eine leichte Gangbehinderung besteht. Dies ist trotz des bei gutachterlichen Untersuchungen zunächst unauffälligen Gangbildes auch beim Kläger der Fall, weil er jedenfalls sein rechtes Bein ausweislich der Muskelminderung beim Gehen nicht voll belastet. Die hier zum Vergleich herangezogene Fallgruppe bedingt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. (Mehrtens, a.a.O., J 027, Schönberger u. a., a.a.O., S. 625).

Ebenso besteht wegen der Beeinträchtigung der Kniescheibenbewegung eine Vergleichbarkeit mit einer straffen und ohne Funktionsbehinderung des Streckapparates vorliegenden Kniescheibenpseudarthrose, die ebenfalls eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um bis zu 20 v. H. bedingt (Mehrtens, a.a.O., J 032c, J 034). Denn auch insoweit beschränkt die Verwachsung der Kniescheibe beim Kläger diesen in ähnlicher Weise beim Knien und Hocken und in der Sicherheit der Kniefunktion.

Schließlich ist die Beurteilung des Sehnenrisses der Kniescheibe selbst dem Fall des Klägers vergleichbar. Führt nämlich dort die fehlende Steuerung der Kniefunktion über die nur im narbigen Bindegewebe ausgeheilte Sehne zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. (Schönberger et al., a.a.O., S. 438, Mehrtens, a.a.O., J 035), so hat beim Kläger die durch Verwachsung in ihrer gesteuerten Bewegung begrenzte Kniescheibe ähnliche Ausfälle zur Folge.

Die beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen nach dem anerkannt unfallbedingten Riss der Kniescheibensehne gehen über vorrangig durch Streckung und Beugung bedingte Funktionseinschränkungen hinaus. Diese schätzt der Sachverständige Prof. Dr. C. als solche folgerichtig mit der Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 v. H. ein, indem er die von Prof. Dr. Dr. H. bei der Untersuchung vom 28. März 2023 gemessene Beweglichkeit in Streckung und Beugung von 0°/0°/120° beurteilt (vgl. Mehrtens, a. a. O., J 034, Schönberger u. a., a. a. O., S. 685). Entgegen seiner Auffassung ergibt sich aus den allgemeinen Erfahrungssätzen keine „bindende Zugrundelegung der … dokumentierten Beweglichkeiten am Kniegelenk“, die eine höhere Einschätzung ausschließt.

Der gleiche Rückbezug allein auf die Bewertungstabelle für das Maß von Streckung und Beugung des Knies findet sich auch in der beratenden Stellungnahme von Dr. C.. Ähnlich kommt er bei Dr. W. zum Ausdruck, der der unzutreffenden Auffassung ist, eine Einschätzung anderer Gesichtspunkte wie einer Muskelminderung über die bloße Beweglichkeit hinaus führe dazu, dass „nochmals“ eine Bewertung vorgenommen werde.

Die Kostenentscheidung folgt gem. § 193 SGG aus dem Unterliegen der Beklagten.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nach § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht vor, weil es sich um eine Anwendung bestehender Rechtssätze aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auf den Einzelfall handelt.

Rechtskraft
Aus
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