S 20 R 1735/20

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 1735/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Bescheid der Beklagten vom 12.03.2019 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2019 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung  ab 01.03.2020  in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte trägt die  notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1987 geborene Kläger beantragte am 26.02.2020 bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente.

Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte mit Bescheid vom
28.04.2020 den Antrag des Klägers ab. Dagegen legte der Kläger am 15.05.2020 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.2020 wurde der Widerspruch nach Einholung eines Gutachtens auf internistisch-hämatologisch-onkologischem Fachgebiet als unbegründet zurückgewie
sen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei dem Kläger noch ein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten mit weiteren Einschränkungen für mindestens 6 Stunden täglich vorliege.

Hiergegen hat der Kläger am 28.12.2020 Klage erhoben. Er führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben sei.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 28.04.2020 in Fassung des Widerspruchbescheides vom 24.11.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung im gesetzlichen Umfang ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.

Das Gericht hat Befundberichte von F und N beigezogen.

Ferner wurden ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei B und ein internistisch- rheumatologisches Zusatzgutachten bei L, sowie
ein immunologisches Gutachten bei K eingeholt.

Nach dem Gutachten von L vom 04.05.2021 bestehen folgende Gesundheits-
störungen:

  1. Arthrose des linken Handgelenks bei Linkshändigkeit, Aktivierung als autoimmune Disregulation bei Diagnose 2
  2. komplexe Variable Immunschwäche (CVID complex variable immundeficency) mit Immunglobulinmangel IgA, IgG, IgM, unter IgG-Substitution
  3. Zustand nach gehäuften Infekten von Nasennebenhöhlen und Mittelohr, dreimalige Operation, wohl im Zusammenhang mit Diagnose 2

4. Fettleber bei Adipositas

Ohne Berücksichtigung der Immunschwäche könne der Kläger vollschichtig Arbeiten auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt, jedoch nur unter 3 Stunden im erlernten Beruf des Land-schaftsgärtners, verrichten. Aufgrund der Immunschwäche sei für die Dauer der COVID Pandemie kein Einsatz im Erwerbsleben ohne zumutbare Gefährdung möglich. Ob eine Impfung möglich oder erfolgversprechend sei, wäre von einem immunologischen Spezialisten zu entscheiden
. Bis zum Ende der Pandemie oder einem ausreichenden Impfschutz sei der Kläger nicht erwerbsfähig.

Nach dem Gutachten von B vom 14.05.2021 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:

Auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet:

  • Schädlicher Gebrauch von Alkohol (bis zu 7 Flaschen Bier am Wochenende, mit Folgeschäden, leichte Ataxie Fettleber), (ICD 10: FIO,.6)
  • Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD 10: F 45. 41)

Strukturdiagnose:

  • Kontrolliert-zwanghafte Bildung der Persönlichkeit mit ausreichender individueller
    Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur

körperliche Diagnosen im Übrigen (übernommen):

  • Immunmangelsyndrom, Erstdiagnose 2018 mit Immundefektarthritis, beziehungsweise Gelenkbeteiligung der linken Handwurzel (links größer als rechts) mit IgG wöchentlich substituiert (siehe Sachverständigengutachten L)
  •  Rezidivierende chronische Sinusitis und Otitis
  •  Alkoholtoxische Fettleber
  • Splenomegalie
  • Allergische Diathese

Der Kläger könne noch körperlich leichte Tätigkeiten von mehr als 6 Stunden täglich ohne
Akkord- und Nachtarbeit und ohne Gefährdung durch Witterungseinflüsse und Reizstoffe mit
nur durchschnittlicher nervlicher Belastung und durchschnittlichem Arbeits- und Zeitdruck
und Konzentrationsvermögen verrichten. Der Gutachter schloss sich der Auffassung des Zu-
satzgutachters an, dass während der Pandemiezeit eine Erwerbsfähigkeit nicht gegeben sei.

Das Gutachten von K vom 02.05.2023 würdigt insbesondere die Erkrankung auf immunologischen Fachgebiet CVID und deren Auswirkungen sowie die daraus
resultierenden Folgeerkrankungen Arthritis und Sinusitis. Aufgrund der Arthritis, insbesondere des linken Handgelenkes sei die Mobilität im Hinblick auf die fehlende Möglichkeit zum Autofahren eingeschränkt
. Aufgrund der Sinusitis sei ein dauerhaftes Tragen einer Schutzmaske nicht zumutbar. Der Kläger sei angehalten, möglichst wenige Kontakte zu anderen Menschen zu haben. Zusätzliche Noxen oder Reizstoffe seien zu vermeiden. Die volle Gebrauchsfähigkeit der Hände sei auch perspektivisch nicht gegeben. Der Kläger sei nicht in der Lage selbstständig Auto zu fahren und wegen des Infektionsrisikos sollten öffentliche Verkehrsmittel gemieden werden. Ebenso sollte Schichtarbeit vermieden werden.

Trotz intensiver therapeutischer Bemühungen sei zwar eine Stabilisierung jedoch keine zu-
friedenstellende Verbesserung über mehrere Jahre erzielt worden. Es sei daher nicht von
einer Besserung des Leistungsvermögens auszugehen, sondern wegen der nicht gänzlich zu beh
andelnden Ursache von einer schleichenden Verschlechterung. Auch hinsichtlich des Antikörpermangels ergäben sich keine zusätzlichen therapeutischen Optionen. Eine Tätigkeit als Verpacker sei aufgrund der gestörten Feinmotorik nicht zumutbar. Eine dauerhafte Belastung beider Hände sollte vermieden werden. Eine Tätigkeit als Telefonist bei adäquatem Arbeitsweg, besser Home Office, mit entsprechender technischer Ausrüstung sei denkbar. Es
sei aber darauf hinzuweisen, dass die Infektanfälligkeit zu gehäuften Fehlzeiten führe, so
da
ss der Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt allein durch diese Tatsache kaum möglich erscheine.

Die genannten Einschränkungen beständen ab September 2017.

Dem Gericht liegen ferner diverse ergänzende Stellungnahmen vor (von B vom 12.07.2021 und 27.09.2021, von L vom 11.07.2021 und 17.09.2021, von K (Eingang) vom 24.07.2023).

Zu den Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und
Beklagten
akten verwiesen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten dieser Verfahrensweise zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Klage ist zulässig.

Die Klage ist auch begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. voll erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung entrichtet haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gelten in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und sind erfüllt.

Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Der Kläger leidet unter Erkrankungen vor allem auf orthopädischem und internistischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben.

Die Kammer folgt insoweit den Feststellungen des Gutachters K, da dieser über eine besondere spezifische Sachkunde für das Krankheitsbild des Klägers verfügt.  Nach dessen Feststellungen liegt den Leistungseinschränkungen des Klägers ein schwerer Immundefekt zugrunde. Bei den Folgen des genetisch nachgewiesenen schweren Immundefektes handelt es sich um ein heterogenes Krankheitsbild, das zu häufigen Infekten  aufgrund der Immundysregulation führt und das mit Autoimmunphänomenen verschiedenster Natur verbunden ist. So unterbleibt aufgrund der fehlenden bzw. unzureichenden Antikörperbildung weitgehend die Schutzwirkung von Impfungen (siehe Befundbericht von F vom September 2021 (Bl.206ff der Akte), die auch auf die sehr hohe Mortalitätsrate  (über 50%) von Patienten hinweist, die aufgrund ihrer Immunschwäche trotz Covid-Impfung mit mRNA-Impfstoff erkrankten.) Die Autoimmunphänomene lassen zusätzlich bleibende Organschäden befürchten. Da nur eine Substitution mit IgG-Antikörpern möglich ist, verbleibt eine Infektneigung, insbesondere für respiratorische Infektionen, weil die Schleimhautimmunität gestört ist. Hinzu kommt bei dem  Kläger eine Autoimmunarthritis, die sich durch eine dauerhafte Schwellung und Schmerzen im Bereich des linken Handgelenks bei Linkshändigkeit mit ausgeprägter Einschränkung des täglichen Lebens manifestiert. Diese Einschränkung führt nach Auffassung des Gutachters dazu, dass der Kläger nicht mehr in der Lage ist, einen PKW selbstständig zu führen, wegen des Infektionsrisikos sind darüber hinaus öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Zwar sei eine Tätigkeit im Home Office als Telefonist mit entsprechender technischer Aufrüstung denkbar, aufgrund der gehäuften Fehlzeiten erscheine aber ein Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum möglich.

Die Kammer hält die Feststellung des Gutachters aufgrund der spezifischen Kenntnisse im Bereich der Immunologie für nachvollziehbar und überzeugend und ist der Auffassung, dass insoweit bei den abweichenden Leistungseinschätzungen der Gutachter L und B die Komplexität der Leistungseinschränkungen nicht in vollem Umfang gewürdigt werden konnte. Dass zur Einschätzung des Krankheitsbildes eine besondere immunologische Sachkunde erforderlich ist, wird schon an dem Hinweis von L deutlich, der zur Einschätzung, ob Impfungen z.B. gegen COVID 19 erfolgversprechend oder möglich seien, auf eine entsprechende immunologische Facheinschätzung verweist.

Die vom Gutachter K genannten Leistungseinschränkungen haben die Folge, dass normativ nicht mehr von einer Leistungsfähigkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen auszugehen ist.

Unter den "üblichen Bedingungen" i.S. des § 43 SGB VI ist das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, d.h. unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Hierzu gehören sowohl rechtliche Bedingungen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche und tarifvertragliche Vorschriften, als auch tatsächliche Umstände, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz (vgl. z.B. Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung - SGB VI, a.a.O. Rn 86 ff, Stand September 2009). Üblich sind Bedingungen, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Anzahl (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R –, BSGE 109, 189-199, SozR 4-2600 § 43 Nr 16, Rn. 29). So hat das BSG entschieden, dass das Risiko einer häufigen Arbeitsunfähigkeit dann zu einer Erwerbsminderung führen kann, wenn feststeht, dass die (vollständige) Arbeitsunfähigkeit so häufig auftritt, dass die während eines Arbeitsjahres zu erbringenden Arbeitsleistungen nicht mehr den Mindestanforderungen entsprechen, die ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ zu stellen berechtigt ist, so dass eine Einstellung oder Weiterbeschäftigung eines solchen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen ist und dies somit den „unüblichen Arbeitsbedingungen“ zugeordnet werden kann. (Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 8 (Stand: 27.06.2022), Rn. 39 m.w.N.) Verallgemeinert bedeutet dies, dass jedenfalls dann, wenn ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ einen solchen Arbeitnehmer aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwartenden quantitativen und qualitativen Minderleistungen oder fehlender Integrationsfähigkeit in die üblichen betrieblichen Abläufe entweder gar nicht erst einstellen würde oder aber berechtigt wäre, ihn (weil die fehlende Leistungsfähigkeit oder das Verhalten nicht subjektiv vorwerfbar, sondern behinderungsbedingt sind) personenbedingt sozial gerechtfertigt zu kündigen, eine Leistungsfähigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr vorliegt.(SG Nordhausen, Urteil vom 15. Dezember 2022 – S 20 R 956/19 –, Rn. 36, juris).

Im vorliegenden Fall ist aufgrund der erhöhten Infektanfälligkeit in einem Ausmaß von häufigen Kurzzeiterkrankungen auszugehen, die einem vernünftig und billig denkenden Arbeitgeber nicht mehr zumutbar sind.

Zu dem gleichen Ergebnis kommt man unabhängig von dem Vorliegen häufiger Kurzzeiterkrankungen auch unter dem Gesichtspunkt einer „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen.“

Das Merkmal der "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" trägt dem Umstand Rechnung, dass auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen und Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen - ohne im Einzelnen oder auf den ersten Blick ungewöhnlich zu sein - das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. In diesen Fällen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche mindestens sechsstündige Tätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb überhaupt einsetzbar ist. Eine Verweisungstätigkeit ist daher in solchen Fällen zu benennen (so. z.B. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 09. September 2010 – L 10 KN 5/06 –, Rn. 78, juris).

Anerkannt sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts z. B. besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz sowie in Verbindung mit anderen Einschränkungen, etwa Beschränkungen der Arm- und Handbewegungen oder das Erfordernis, zwei zusätzliche Arbeitspausen von je 15 Minuten einzulegen oder halbstündig zwischen Sitzen und Gehen zu wechseln. Maßstab sind dabei die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere die dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen (so z.B. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 09. September 2010 – L 10 KN 5/06 –, Rn. 77 - 78, juris unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG).

Eine Summierung von ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen ist vorliegend allein schon durch den Umstand bedingt, dass der Kläger gehalten ist, den Kontakt mit anderen Menschen weitgehend zu meiden und durch die sehr eingeschränkte Einsatzbarkeit seiner linken Hand bei Linkshändigkeit. Aufgrund der letztgenannten Einschränkung kann der Kläger die benannte Verweisungstätigkeit „Verpacker von Kleinteilen“ nicht mehr ausüben.  Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang dass, dass eine solche Tätigkeit mit einer dauerhaften Belastung beider Hände verbunden ist, die von dem Gutachter K ausgeschlossen wurde. 

Zwar hat der Gutachter K mitgeteilt, dass Tätigkeiten eines Telefonisten im Home Office grundsätzlich denkbar sind, die von der Beklagten gewählte Verweisungstätigkeit eines Telefonisten sowie die zugrundeliegende Tätigkeitsbeschreibung genügt den Anforderungen an eine Verweisungstätigkeit nicht.

Die eingeschränkte Verweisbarkeit erfordert, dass mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet werden muss. Es muss ein typischer Arbeitsplatz benannt werden, einzelne Arbeiten oder Arbeitsvorgänge anzugeben, genügt nicht. Die typisierende Beschreibung des Arbeitsinhalts muss erkennen lassen, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten der Versicherten gestellt werden. So muss z.B. für den Bereich der Kontroll- und Überwachungstätigkeiten die Art der zu kontrollierenden Gegenstände, die zu überwachenden Vorgänge und die Gestaltung des jeweiligen Arbeitsplatzes genau beschrieben werden. Die Tätigkeiten in diesem Bereich sind zu unterschiedlich, als dass mit allgemeinen Formeln auf einen ganzen Komplex von Tätigkeiten verwiesen werden kann. Auch die Verweisung auf Tätigkeiten nach einer bestimmten Vergütungsgruppe z.B. des TVÖD (früher BAT) reicht nicht aus. (Nazarek in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 240 SGB VI (Stand: 01.04.2021), Rn. 99, siehe SG Nordhausen, Urteil vom 15. Dezember 2022 – S 20 R 1915/18 –, Rn. 16 - 29, juris). Die Tätigkeitsbeschreibung beruft sich auf berufskundliche Erkenntnisse aus den Jahren vor 2002, die mittlerweile über 20 Jahre alt sind vergleiche Blatt 395 der Akte) und dem organisatorischen und technischem Wandel der Arbeitswelt nicht ausreichend Rechnung tragen.  Ob das Berufsbild, bei dem der wesentliche Arbeitsinhalt das Bedienen von Fernsprechnebenstellenanlagen zur Herstellung der Verbindung zwischen Amtsleitung und Nebenstellen ist, wie in der Tätigkeitsbeschreibung dargestellt, noch im nennenswerten Maß der Realität entspricht, erscheint zweifelhaft. Nicht jeder Arbeitnehmer, der ein Telefon im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit bedient, ist ein Telefonist. Die genannten Tätigkeiten sind z.B. im Bereich der Justiz auch Teiltätigkeiten der Geschäftsstellen und der Wachtmeisterei. Teilweise werden die Tätigkeiten auch von Call-Center Mitarbeitern ausgeführt. Dieser Beruf ist aber nicht benannt worden und zudem hinsichtlich der Anforderungen sehr heterogen. Unklar ist in diesem Zusammenhang, welche weiteren Fachkenntnisse im diesem Zusammenhang notwendig und welche Ausbildung oder Einarbeitungszeit jeweils erforderlich ist. Es reicht insoweit nicht, den Kläger auf ein diffuses Berufsfeld zu verweisen, in dessen Rahmen möglicherweise einige Arbeitsplätze leidensgerecht sein könnten. Von der Benennung eines Verweisungsberufs ist nach Auffassung der Kammer zu fordern, dass die Verweisung hinreichend konkret ist, um einerseits dem Rentenantragsteller eine Orientierung für eine konkret anzustrebende berufliche Tätigkeit zu geben und andererseits im gerichtlichen Rechtsschutz eine Überprüfung der Angemessenheit der Verweisungstätigkeit zu ermöglichen.  Vor diesem Hintergrund ist auch zu fordern, dass eine konkrete Bezeichnung benannten Tätigkeit, im Sinne eines feststehenden Begriffs existiert, die die geforderte Überprüfung und Orientierung zulässt, d.h. dass eine Subsumtion der Tätigkeitsbeschreibung und der Anforderungen unter den Begriff der benannten Tätigkeit möglich ist.

Sofern sich eine konkrete andere Verweisungstätigkeit nicht aufgrund gerichtsbekannter Umstände aufdrängt, ist es nach Auffassung der Kammer nicht Aufgabe des Gerichts, im Wege umfangreicher berufskundlicher Beweiserhebungen das gesamte Spektrum beruflicher Tätigkeiten  dahingehend abzuprüfen, ob eine Verweisungstätigkeit in ausreichender  Zahl an  Arbeitsstellen existiert. Mit der rechtlichen Aufgabenzuweisung der Gerichte zur Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen ist eine umfassende Ersatzvornahme behördlicher Aufgaben nicht vereinbar.

Da bei dem immunologischen Krankheitsbild eine Besserung nicht zu erwarten ist, da außer über die IgG Substitution hinaus eine die Ursachen der immunologischen Erkrankung bekämpfende Therapie nach dem gegenwärtigen Wissenschaftsstand nicht zur Verfügung steht und darüber hinaus weitere Organschäden und Verschlechterungen zu befürchten sind, besteht keine konkrete Möglichkeit der Besserung des Leistungsvermögens. Da diese unwahrscheinlich ist, ist die Rente unbefristet zu gewähren. Die Leistungseinschränkungen lagen auch zum Zeitpunkt der Antragstellung vor, zumal zu diesem Zeitpunkt der Kläger durch die Coronapandemie einer erheblich gesteigerten Gefahr einer tödlichen Erkrankung ausgesetzt war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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