L 5 KR 1336/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 8 KR 437/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 1336/23
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 3/24 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1.Dem privat krankenversicherten Bezieher einer Altersrente, dessen Ehepartner Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist, ist es nach der geltenden Rechtslage nicht grundsätzlich verwehrt, durch vorübergehende Wahl einer Teilrente nach § 42 SGB VI die beitragsfreie Familienversicherung über den Ehepartner zu erreichen, mit der Folge, dass bei späterer Rückkehr zur Vollrente die obligatorische freiwillige Versicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V eintritt.
2. Zum Grundsatz der vorausschauenden Betrachtungsweise und dem Vorliegen eines regelmäßigen Einkommens bei Bezug einer Teilrente für einen Zeitraum von drei Monaten im Rahmen der Berechnung des Gesamteinkommens für das Bestehen einer Familienversicherung i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V.

Auf die Berufung der Kläger wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 20.04.2023 sowie der Bescheid vom 01.12.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.02.2023 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Kläger zu 1) in der Zeit vom 01.02.2022 bis 30.04.2022 in der Familienversicherung und ab 01.05.2022 in der obligatorischen Anschlussversicherung freiwillig versichert ist.

Die Beklagte hat den Klägern die notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger zu 1) seit dem 01.02.2022 bei der Beklagten über seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), in der gesetzlichen Krankenversicherung familienversichert war und infolgedessen ab dem 01.05.2022 aufgrund der ab dann bezogenen höheren Rente freiwillig krankenversichert ist.

Der 1945 geborene Kläger zu 1) steht im Altersrentenbezug. Zum 31.12.2021 übergab er seine Werbeagentur an D1 und meldete sein Gewerbe ab (Gewerbeabmeldung vom 28.12.2021). Er ist seit dem 22.05.1968 mit der Klägerin zu 2) verheiratet. Die Klägerin zu 2) ist seit dem 01.02.2022 bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Der Kläger zu 1) war bis zum 31.01.2022 bei der G1 privat krankenversichert.

Laut Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 23.12.2021 wurde die bisherige Regelaltersrente des Klägers zu 1) ab dem 01.02.2022 neu berechnet. Ab dem 01.02.2022 werde die „gewählte Teilrente“ gezahlt in Höhe von monatlich 458,16 € zuzüglich eines Zuschusses zum Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 36,43 €, insgesamt 494,59 €. 

Am 11.01.2022 beantragte der Kläger zu 1) die Feststellung der Familienversicherung über seine Ehefrau ab dem 01.02.2022. Als einziges Einkommen wurde die gesetzliche Rente in Höhe von 458,16 € angegeben. Außerdem legten die Kläger den Einkommenssteuerbescheid des Finanzamts G2 vom 23.10.2020 für das Jahr 2019 vor. Daraus ergab sich, dass der Kläger zu 1) über einen Jahresbetrag der Rente in Höhe von 10.901,00 € verfügte.

Unter dem 31.03.2022 übersandte die Beklagte dem Kläger zu 1) eine „Bescheinigung“, die beinhaltete, dass er seit dem 01.02.2022 im Rahmen der Familienversicherung (§ 10 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch <SGB V>) bei der Beklagten versichert sei. Außerdem erinnerte die Beklagte den Kläger zu 1) mit weiterem Schreiben vom 31.03.2022, in dem sie ausführte, dass der Kläger zu 1) seit dem 01.02.2022 über seine Ehefrau familienversichert sei, an die Vorlage einer Bescheinigung über das Versicherungsende bei seiner bisherigen privaten Krankenversicherung.

Seit dem 01.05.2022 bezieht der Kläger zu 1) wieder eine Altersrente in Höhe von 954,50 €.

Mit Schreiben vom 24.10.2022 hörte die Beklagte die Klägerin zu 2) zur beabsichtigten Stornierung der Familienversicherung des Klägers zu 1) rückwirkend zum 01.02.2022 an.

Hiergegen legte die Klägerin zu 2) am 27.10.2022 Widerspruch ein.

Mit an die Klägerin zu 2) gerichtetem Bescheid vom 01.12.2022 stornierte die Beklagte die Familienversicherung des Klägers zu 1) rückwirkend zum 01.02.2022. Zur Begründung führte sie aus, Voraussetzung für den Anspruch auf eine kostenfreie Familienversicherung sei unter anderem, dass der Kläger zu 1) kein Gesamteinkommen habe, das die zur Zeit geltende Einkommensgrenze von monatlich 470 € übersteige. Die Beklagte habe zwischenzeitlich die Information erhalten, dass der Kläger zu 1) in der Zeit vom 01.02.2022 bis 30.04.2022 eine Teilrente bezogen habe und inzwischen wieder eine volle Altersrente beziehe, die über dem Grenzwert liege.

Hiergegen legte der Kläger zu 1) am 16.12.2022 Widerspruch ein. Er führte begründend aus, die Beklagte habe sein Gesamteinkommen nicht zutreffend berechnet. Renten könnten als Vollrente und als Teilrente in Anspruch genommen werden (§ 42 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>). Es sei Versicherten insoweit ein bedingungsloses Gestaltungsrecht ohne Vorbehalt eingeräumt. Die Beantragung einer Teilrente stelle keinen Verzicht im Sinne des § 46 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) dar. Eine Teilrente könne daher auch beansprucht werden, wenn dies zu Lasten Dritter, zum Beispiel zu Lasten der Krankenkasse oder unterhaltsberechtigter Personen gehe. Diese Regelungen seien seit 01.07.2017 in Kraft und seien durch Artikel 1 Nr. 16 des Gesetzes zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz) eingefügt worden. Die Flexibilisierung der Teilrenten sei ein Kernstück des Flexirentengesetzes, um den Versicherten eine selbstbestimmte Kombination von Erwerbstätigkeit und Rentenbezug zu ermöglichen. Die Drittbindungswirkung aus dem Bescheid der Rentenversicherung über die Teilrente sei von der Beklagten hinzunehmen und zu beachten. Mit dem Rentenbescheid über den Bezug der Teilrente führe die bei der Entscheidung über das Bestehen einer Familienversicherung am Beginn der Teilrente anzustellende Prognose beim Kläger zu 1) zu der Erkenntnis, dass ein Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V bezogen werde. Die Einkommensverhältnisse vor dem Beginn der Teilrente seien unbeachtlich. Die nachfolgende Erhöhung der Rente führe zu einer zweiten Zäsur. Es sei erneut eine vorausschauende Prognose anzustellen, die dazu führe, dass ein Einkommen oberhalb der Einkommensgrenze des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V bezogen werde. Diese Prognose habe zur Folge, dass die Familienversicherung ende und der Übertritt in die obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V erfolge. Der bis dahin familienversicherte Kläger zu 1) werde dadurch zum Mitglied der Beklagten mit der entsprechenden eigenen Beitragspflicht aus seinem Einkommen.

Mit an den Prozessbevollmächtigten der Kläger gerichtetem Widerspruchsbescheid vom 20.02.2023 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom „24.10.2022“ als unbegründet zurück. Für die Nichtmitgliedschaft des Ehegatten oder Lebenspartners in der gesetzlichen Krankenversicherung sei es unerheblich, ob diese auf Versicherungsfreiheit nach § 6 SGB V, einer Befreiung nach § 8 SGB V oder wegen Nichterfüllung eines krankenversicherungsrechtlich relevanten Sachverhaltes (hier privatversicherter Rentenbezieher) beruhe. Der Kläger zu 1) sei als 77-jähriger Antragsteller und privatversicherter Rentenbezieher weit über der Altersgrenze von 55 Jahren zweifelsohne versicherungsfrei (§ 6 Abs. 3a Sätze 1 und 2 SGB V). Aus diesem Grund finde § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB V Anwendung, weshalb eine kostenfreie Familienversicherung vorliegend ausscheide. Im Übrigen liege der lediglich für drei Monate reduzierten Rentenzahlung des Klägers zu 1) eindeutig die Intension zu Grunde, kurzfristig die Einkommensgrenze der gesetzlichen Familienversicherung zu unterschreiten und somit aus der Privatversicherung zurück in die Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung zu gelangen. Nach § 46 Abs. 2 SGB I sei der Verzicht von Sozialleistungen unwirksam, wenn dadurch andere Personen oder Leistungsträger belastet würden. Es könne nicht im Sinne der Versichertengemeinschaft und auch nicht des Gesetzgebers sein, dass Personen, welche sich in jüngeren, leistungsfähigen Zeiten von der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung abgewandt und diese nicht getragen hätten, im höheren Alter, wenn mehr Krankenversicherungsleistungen benötigt würden, sich wieder unter den Schutz der Solidargemeinschaft begeben könnten. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber in § 6 Abs. 3a SGB V für versicherungspflichtige Arbeitnehmer die Rückkehr von Privatversicherten in die gesetzliche Krankenversicherung nach Vollendung des 55. Lebensjahres ausgeschlossen.

Das am 15.02.2023 beim Sozialgericht Ulm (SG) eingeleitete Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes blieb ohne Erfolg (S 8 KR 312/23 ER).

Am 28.02.2023 haben die Kläger zum SG Klage erhoben. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens und Verweis auf das Urteil des Sozialgerichts München vom 19.01.2023 (S 59 KR 649/22, in juris) haben sie ergänzend ausgeführt, die Beklagte vertrete im Widerspruchsbescheid fälschlicherweise die Ansicht, unter dem 24.10.2022 einen Bescheid (Verwaltungsakt) erlassen zu haben. Unter diesem Datum sei nur ein einfaches Schreiben mit der Überschrift „Anhörung – Familienversicherung Ihres Mannes J1 ab 01.02.2022“ erfolgt, das die gesetzlichen Anforderungen des § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erfülle, jedoch keinen Verwaltungsakt nach § 35 SGB X darstelle. Das Verfahren sei zunächst auszusetzen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat vorgetragen, es sei zutreffend, dass ein Bescheid erst im Bescheid vom 01.12.2022 zu sehen sei. In der Sache scheitere beim Kläger zu 1) eine Familienversicherung nicht (nur) an § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V und dem Gesamteinkommen, sondern auch daran, dass die Familienversicherung bei versicherungsfreien Personen nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB V ausgeschlossen sei.

Mit Gerichtsbescheid vom 20.04.2023 hat das SG die Klage abgewiesen. Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige Klage sei unbegründet. Da die Stammversicherte hier als Klägerin zu 2) auftrete, sei die ansonsten erforderliche notwendige Beiladung nicht möglich, aber auch nicht erforderlich. Entgegen der Auffassung der Kläger fehle es vorliegend nicht an einem Ausgangsverwaltungsakt und das Verfahren sei nicht auszusetzen. Zwar führten sie zu Recht aus, dass das Schreiben vom 24.10.2022 keinen Verwaltungsakt darstelle. Es handele sich dabei lediglich um eine Anhörung. Allerdings habe die Beklagte mit dem Schreiben vom 01.12.2022 einen Verwaltungsakt erlassen. Die anschließende Widerspruchsbegründung des Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 16.12.2022 sei folglich auch als Widerspruch gegen den Bescheid vom 01.12.2022 auszulegen. Dass die Beklagte den Bescheid fälschlicherweise mit dem Datum 24.10.2022 bezeichnet habe, sei als bloßer Schreibfehler zu werten. Insbesondere habe die Beklagte im Widerspruchsbescheid auch inhaltlich über die Durchführung der Familienversicherung des Klägers zu 1) und nicht über einen (unzulässigen) Widerspruch gegen ein Anhörungsschreiben entschieden. In der Sache habe der Kläger zu 1) keinen Anspruch auf die Aufnahme in die Familienversicherung ab 01.02.2022. Daher habe er auch keinen Anspruch auf Durchführung einer obligatorischen Anschlussversicherung. Eine Familienversicherung des Klägers zu 1) scheitere bereits daran, dass die Familienversicherung bei versicherungsfreien Personen nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB V ausgeschlossen sei. Der 78-jährige Kläger zu 1) sei als privatversicherter Rentenbezieher weit über der Altersgrenze von 55 Jahren zweifelsohne versicherungsfrei (§ 6 Abs. 3a Sätze 1 und 2 SGB V). Im Übrigen folge die Kammer der Begründung im Widerspruchsbescheid und sehe von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab.

Gegen den am 20.04.2023 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 05.05.2023 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens haben sie noch einmal betont, dass es sich bei Wahl einer Teilrente nicht um einen unwirksamen Verzicht nach § 46 Abs. 2 SGB I handele und ausgeführt, dass der Kläger zu 1) nicht nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB V von der Familienversicherung ausgeschlossen sei. Der Kläger zu 1) gehöre nicht zum versicherungsfreien Personenkreis des § 6 Abs. 3a SGB V. Die Versicherungsfreiheit für Personen, die die Altersgrenze von 55 Jahren überschritten hätten, gelte nur für Personen, die versicherungspflichtig würden. Mit der Berechtigung zur Familienversicherung erfülle der Kläger zu 1) keinen Versicherungspflichttatbestand und sei damit nicht versicherungspflichtig. Auch § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V greife nicht ein. Für eine teleologische Reduktion des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V sei kein Raum. In einer Arbeitsgruppe habe die Deutsche Rentenversicherung Mitte Dezember 2022 entschieden, dass die Zahlung einer Teilrente in Höhe von maximal 99,99 % möglich sei. Die Altersrente als Teilrente könne frei gewählt werden und könne in der Höhe zwischen 10,00 % und 99,99 % in Anspruch genommen werden. Sie sei nur eine besondere Ausgestaltung der Altersrente und keine neue Rentenart. An die Tatbestandswirkung der Rentenbescheide sei die Beklagte gebunden. In dem Dokument „Grundsätzliche Hinweise des GKV-Spitzenverbandes Gesamteinkommen im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Familienversicherung“ vom 12.06.2019 werde auf Seite 21 zur Ziffer 2.3.4.1 zum Thema Einkünfte aus Leibrenten ausgeführt. Danach sei der vollständige oder teilweise Verzicht auf eine in- oder ausländische Rente mit dem Ziel, die Einkommensgrenze nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V zu unterschreiten, unwirksam (§ 46 Abs. 2 SGB I). Im Gegensatz dazu sei die Wahl, eine Altersrente nicht in voller Höhe, sondern als Teilrente in Anspruch zu nehmen (§ 42 Abs. 2 SGB VI), kein Verzicht im Sinne des § 46 SGB I. Soweit Angehörige durch die Ausübung dieses Wahlrechts die Einkommensgrenze nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V unterschreiten würden, sei die Familienversicherung möglich, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt würden. Dies sei hier der Fall. Auch ein Verstoß gegen das allgemeine Umgehungsverbot liege nicht vor. Es werde nur das geltende Recht angewandt. Die soziale Schutzbedürftigkeit des Familienangehörigen sei von dessen gegenwärtigem Einkommen abhängig.

Die Kläger beantragen – sachgerecht gefasst –,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 20.04.2023 und den Bescheid der Beklagten vom 01.12.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.02.2023 aufzuheben und festzustellen, dass der Kläger zu 1) in der Zeit vom 01.02.2022 bis 30.04.2022 familienversichertes Mitglied der Beklagten und seit 01.05.2022 Mitglied in der obligatorischen Anschlussversicherung ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Unstreitig sei für sie zwischenzeitlich, dass es sich bei der Teilrente nicht um einen Verzicht handele. Eine hausinterne Klärung habe auch ergeben, dass Personen, die vor Bezug einer Rente privat versichert gewesen seien und deren volle Altersrente unter der für die Familienversicherung maßgeblichen Einkommensgrenze liege, bei ihr kostenfrei familienversichert werden könnten, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Familienversicherung vorlägen. Hier handele es sich aber nicht um einen gleichgelagerten Sachverhalt. Eine Familienversicherung des Klägers zu 1) scheitere an § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V (Gesamteinkommen) und daran, dass die Familienversicherung bei versicherungsfreien Personen nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB V ausgeschlossen sei. Nach § 6 Abs. 3a Sätze 1 und 2 SGB V würden nach dem eindeutigen Wortlaut zwar lediglich Personen, die versicherungspflichtig seien, erfasst. Dies wäre möglicherweise nicht zu Ende gedacht, da, hier zweifelsfrei eine buchstabengetreue Anwendung der Norm dazu führen würde, dass der vom Gesetz verfolgte Zweck in sein Gegenteil verkehrt würde. Es bestünde hier die Möglichkeit an eine teleologische Reduktion des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu denken. Darüber hinaus könne ein Verstoß gegen das allgemeine Umgehungsverbot vorliegen. Die nach § 3 Satz 3 SGB V beitragsfreie Familienversicherung setze grundsätzlich die Schutzbedürftigkeit der von ihr erfassten Familienangehörigen voraus. Im vorliegenden Fall sei die Schutzbedürftigkeit des Rentners, der sich bewusst für eine Teilrente entscheide, um in die gesetzliche Krankenversicherung zu gelangen, nicht ersichtlich. Insoweit sei der Wortlaut des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu weit gefasst. Mit der Regelung des § 42 SGB VI habe der Gesetzgeber einen ganz anderen Zweck verfolgt. Die Regelung habe darauf abgezielt, einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu ermöglichen. Soweit Versicherte daher lediglich eine Teilrente bezögen, um die gesetzliche Hürde (faktische soziale Schutzbedürftigkeit) des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu umgehen, könne darin eine missbräuchliche Rechtsgestaltung liegen. Rundschreiben des GKV-Spitzenverbands seien lediglich Handlungsempfehlungen zum Zeitpunkt der Erstellung. Sie seien nicht verbindlich und könnten die Rechtslage und die aktuelle Rechtsprechung nicht „aushebeln“. Ergänzend hat die Beklagte zur Untermauerung ihres Vorbringens auf eine weitere Entscheidung des Sozialgerichts München vom 06.07.2023 (S 15 KR 923/22, in juris) verwiesen.

Der (frühere) Berichterstatter hat den Sach- und Streitstand mit den Beteiligten am 10.07.2023 erörtert.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe


Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

1. Die Berufung der Kläger ist gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

a) Streitgegenstand ist das Bestehen von (beitragsfreier) Familienversicherung des Klägers zu 1) während der Zeit von Februar bis April 2022 und die anschließende obligatorische Anschlussversicherung des Klägers zu 1) nach § 188 Abs. 4 SGB V.

b) Kläger sind sowohl die Klägerin zu 2) (als Stammversicherte und diejenige, an die der Ausgangsbescheid gerichtet war; zur Klagebefugnis des Stammversicherten vgl. BSG, Urteil vom 29.06.1993 - 12 RK 48/91 -; Urteil vom 29.02.2012 - B 12 KR 4/10 R -; Urteil vom 29.06.2021 - B 12 KR 2/20 R -, alle in juris) als auch der Kläger zu 1). Letzterer ist Angehöriger (zur Klagebefugnis des Angehörigen vgl. BSG, Urteil vom 18.03.1999 - B 12 KR 8/98 R -, in juris) und war
ausweislich der Widerspruchschrift vom 16.12.2022 Widerspruchsführer, wobei sich die Klägerin zu 2) auch bereits mit Schreiben vom 27.10.2022 an die Beklagte gewandt und der im Rahmen der Anhörung angekündigten Stornierung widersprochen hatte. Der Widerspruchsbescheid, der, nachdem auch die Klägerin zu 2) den Prozessbevollmächtigten mandatiert hatte, an die Rechtsvertretung beider Kläger gerichtet wurde, ist – auch wenn dies von der Beklagten ausdrücklich nicht so formuliert wurde – dahingehend auszulegen, dass der Widerspruchsbescheid an beide Kläger ergangen ist. Bezüglich der obligatorischen Anschlussversicherung ist der Kläger zu 1) allein in seinen Rechten verletzt.

c) Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig
(dazu BSG, Urteil vom 28.03.2000 - B 8 KN 10/98 KR R -, in juris). Die Kläger wenden sich mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gegen den Bescheid vom 01.12.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.02.2023, mit denen die Beklagte das Nichtbestehen von Familienversicherung während dieser Zeit festgestellt hat. Außerdem wollen sie, da die Familienversicherung und auch die Anschlussversicherung bei Vorliegen der Voraussetzungen ohne entsprechende Feststellung kraft Gesetzes eintritt (siehe hierzu Felix in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. § 9 SGB V, Stand: 21.12.2023, Rn. 8.1), im Wege der Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) das Bestehen von Familienversicherung und obligatorischer Anschlussversicherung klären lassen. Soweit das BSG in seinem Urteil vom 29.06.2021 (- B 12 KR 2/20 R -, in juris) eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage als Klageart zugrunde gelegt hat, handelte es sich um einen anderen Sachverhalt. Streitgegenständlich war dort ein Bescheid, mit dem die Feststellung der Familienversicherung wegen mangelhafter Mitwirkung versagt wurde. Hier ist nur die Feststellung der Familienversicherung und der obligatorischen Anschlussversicherung im Streit.

d) Die angefochtenen Bescheide haben eine Geldleistung i.S.d. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG nicht zum Gegenstand, so dass die Berufung ungeachtet der Höhe ggf. zu zahlender Beiträge (von vornherein) nicht der Zulassung bedarf. Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und daher auch gemäß § 151 SGG zulässig.

2. Die Berufung führt für die Kläger auch inhaltlich zum Erfolg. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 01.12.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.02.2023 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Sie sind deshalb ebenso aufzuheben wie der sie bestätigende Gerichtsbescheid des SG. Gleichzeitig ist festzustellen, dass der Kläger zu 1) in der Zeit vom 01.02.2022 bis 30.04.2022 familienversichertes Mitglied der Beklagten war und seit 01.05.2022 im Rahmen der obligatorischen Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V bei der Beklagten versichert ist.

a) Regelungsgegenstand des angefochtenen Bescheids der Beklagten vom 16.12.2022 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 20.02.2023 war die „Stornierung“ der Familienversicherung des Klägers zu 1). Dies beinhaltete die Feststellung, dass eine Familienversicherung in diesem Zeitraum tatsächlich nicht bestanden hat. Dies war ohne besondere Voraussetzungen (insbesondere nach §§ 45, 48 SGB X möglich), da ein vorheriger Bescheid über das Bestehen einer Familienversicherung nicht ergangen war (vgl. BSG, Urteil vom 07.12.2000 - B 10 KR 3/99 R -, in juris). Insbesondere stellen die Bescheinigung und das Schreiben der Beklagten jeweils vom 31.03.2022 keinen derartigen Verwaltungsakt dar. Zu den Gründen für die fehlende Verwaltungsaktqualität einer Mitgliedsbescheinigung hat das BSG bereits in seiner Entscheidung vom 27.06.2012 (B 12 KR 11/10 R, in juris) umfangreich ausgeführt. So spricht gegen einen Regelungswillen der Behörde auch im hier zugrundeliegenden Fall insbesondere, dass die äußere Form der Bescheinigung nicht auf einen Regelungswillen der Beklagten hindeutet. Die Formulierung enthält keine Erklärung zum versicherungsrechtlichen Status, sondern trifft nur eine Aussage zur Krankenkassenmitgliedschaft. Ihr fehlt auch eine Rechtsmittelbelehrung. Das Schreiben vom 31.03.2022 ist ebenfalls nicht mit Bescheid, sondern Erinnerung überschrieben. Gegenstand des Schreibens ist die Anmahnung weiterer Unterlagen, um die Familienversicherung überhaupt durchführen zu können. Es handelte sich um eine reine Vorbereitungshandlung für die tatsächliche Durchführung des Versicherungsverhältnisses im Falle der Vorlage einer Bescheinigung über das Versicherungsende bei der bisherigen privaten Krankenversicherung. Im Zeitpunkt der Erklärung der Beklagten war – ohne die Bestätigung des Versicherungsendes – noch völlig offen, ob das Versicherungsverhältnis bei der Beklagten überhaupt zur Entstehung gelangen würde. In diesem Kontext ist auch die am gleichen Tag ausgestellte Mitgliedsbescheinigung zu sehen.

Die vom Kläger zu 1) begehrte sog. obligatorische Anschlussversicherung im Sinne von § 188 Abs. 4 SGB V tritt sodann qua Gesetz ein, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, so dass es eines feststellenden Verwaltungsaktes der Beklagten und auch eines Vorverfahrens nicht bedarf.

b) Beklagte ist nur die gesetzliche Krankenkasse und nicht auch die bei der Beklagten errichtete Pflegekasse. Die Klage richtete sich nur gegen die Krankenkasse. Außerdem begehrten die Kläger nur die Feststellung des Klägers zu 1) in der Familienversicherung und in der obligatorischen Anschlussversicherung. Auch das SG hat nur die gesetzlichen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Familienversicherung und der obligatorischen Anschlussversicherung mit Blick auf die Krankenversicherung geprüft. Dies haben die Kläger nicht beanstandet.

c) Versicherungspflichtig ist in der Familienversicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V der Ehegatte, wenn dieser Familienangehörige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (Nr. 1), nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 2a, 3 bis 8, 11 bis 12 SGB V oder nicht freiwillig versichert ist (Nr. 2), nicht versicherungsfrei oder nicht von der Versicherungspflicht befreit ist; dabei bleibt die Versicherungsfreiheit nach § 7 SGB V außer Betracht (Nr. 3), nicht hauptberuflich selbständig erwerbstätig ist (Nr. 4) und kein Gesamteinkommen hat, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV überschreitet; bei Abfindungen, Entschädigungen oder ähnlichen Leistungen (Entlassungsentschädigungen), die wegen der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses in Form nicht monatlich wiederkehrender Leistungen gezahlt werden, wird das zuletzt erzielte monatliche Arbeitsentgelt für die der Auszahlung der Entlassungsentschädigung folgenden Monate bis zu dem Monat berücksichtigt, in dem im Fall der Fortzahlung des Arbeitsentgelts die Höhe der gezahlten Entlassungsentschädigung erreicht worden wäre; bei Renten wird der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt (Nr. 5).

Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger zu 1) in der Zeit von Februar bis April 2022.

aa) Er war im streitgegenständlichen Zeitraum der Ehemann der Klägerin zu 2), hatte seinen Wohnsitz im Inland, war nicht mehr hauptberuflich selbständig tätig und war nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 2a, 3 bis 8, 11 bis 12 SGB V und auch nicht freiwillig versichert. Darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

bb) Der Kläger zu 1) war auch weder versicherungsfrei noch von der Versicherungspflicht befreit. Insbesondere war der Kläger zu 1), was insoweit allein streitig ist, nicht versicherungsfrei nach § 6 Abs. 3a SGB V. Nach § 6 Abs. 3a SGB V sind Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, versicherungsfrei, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert waren. Weitere Voraussetzung ist, dass diese Personen mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 SGB V nicht versicherungspflichtig waren. Diese Voraussetzungen erfüllt der 1945 geborene Kläger zu 1) insoweit als er das 55. Lebensjahr seit langem vollendet hat und er war weit über fünf Jahre auch nicht gesetzlich versichert und war gleichzeitig versicherungsfrei gewesen. Jedoch gilt die Versicherungsfreit nach § 6 Abs. 3a SGB V nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut nur für Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres „versicherungspflichtig werden“. Dies ist hier nicht der Fall. Versicherungspflichttatbestände sind in § 5 SGB V geregelt. Die dort in Nr. 1 bis 13 geregelten Tatbestände lagen in der streitigen Zeit beim Kläger zu 1) nicht vor. Bei der hier streitigen Familienversicherung nach § 10 SGB V handelt es sich um keinen Versicherungspflichttatbestand. Zwar begründet § 10 SGB V eine eigene, rechtlich selbständige Versicherung der Angehörigen; diese ist jedoch abhängig von der Stammversicherung des Mitglieds. Sie führt nicht zu einer Mitgliedschaft bei der Krankenversicherung; insoweit ist zwischen Mitgliedschaft einerseits und Versicherung andererseits zu unterscheiden (
siehe hierzu Felix in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. § 9 SGB V, Stand: 21.12.2023, Rn. 9, 12). Für den Fall dass der Altersvollrentner, der vor Bezug einer Rente privat versichert gewesen ist und dessen volle Altersrente unter der für die Familienversicherung maßgeblichen Einkommensgrenzen liegt, wendet im Übrigen auch die Beklagte § 6 Abs. 3a SGB V nicht an und führt eine kostenfreie Familienversicherung durch, sofern die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für eine Familienversicherung vorliegen. Dies hat auch in der vorliegenden Konstellation zu gelten.

cc) Ebenso wenig hatte der Kläger zu 1) ab Februar 2022 prognostisch ein Gesamteinkommen, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV, das sich im Jahr 2022 auf 470 € belief, überschritt.

Die Anwendung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V erfordert grundsätzlich eine vorausschauende Betrachtungsweise (BSG, Urteil vom 07.12.2000 - B 10 KR 3/99 R -, in juris; so auch Grundsätzliche Hinweise des GKV-Spitzenverbandes zu Gesamteinkommen im Sinne der Regelungen über die Familienversicherung vom 29.09.2022, Seite 27); dies erfordert eine Prognose unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Veränderungen. Im Einzelnen hat sich das BSG mit den Anforderungen an die Prognose jüngst in seiner Entscheidung vom 18.10.2022 (B 12 KR 2/21 R, in juris m.w.N.) befasst. Danach ist das regelmäßige monatliche Gesamteinkommen (Summe der Einkünfte im Sinn des Einkommensteuerrechts) aufgrund einer Prognose für die Zukunft festzustellen. Bei Statusentscheidungen im Sozialversicherungsrecht ist – so das BSG – grundsätzlich eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt. Das gelte im Besonderen für die Beurteilung des monatlichen Gesamteinkommens im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Teilsatz 1 SGB V. Schon der Begriff „regelmäßig“ setze eine gewisse Stetigkeit, Dauer und Gesetzmäßigkeit voraus. Er beschreibe einen laufend wiederkehrenden Umstand, auf dessen Eintreten üblicherweise Verlass sei, der also die Prognose erlaube, dass er wieder eintreten werde. Auch die Zielsetzung der beitragsfreien Familienversicherung als Maßnahme des sozialen Ausgleichs zur Entlastung der Familie erfordere eine vorausschauende Betrachtung. Durch § 10 SGB V werde die Last der die Krankenversicherung umfassenden Unterhaltsansprüche von Familienangehörigen gegen den Stammversicherten in die Verantwortung der Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen. Dem entspreche es, nur solche Familienangehörige beitragsfrei mitzuversichern, die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft bedürftig seien und blieben. Schließlich trage, so das BSG weiter, eine bei Statusentscheidungen regelmäßig gebotene Entscheidung im Wege einer Prognose dem Grundsatz der Vorhersehbarkeit sozialversicherungs- und beitragsrechtlicher Tatbestände Rechnung. Das Postulat der Vorhersehbarkeit präge das Recht der Pflichtversicherung in der Sozialversicherung und umfasse auch die Familienversicherung des § 10 SGB V. Auch beitragsfreie Familienversicherte hätten grundsätzlich schon zum fraglichen Beginn des Versicherungsverhältnisses ein Klärungsbedürfnis und nicht erst bei Inanspruchnahme von Leistungen. Diese Erwägungen würden auch für rückwirkende Entscheidungen über die Familienversicherung gelten. In diesem Fall sei die kraft Gesetzes gebotene vorausschauende Betrachtung nachträglich anzustellen. Grundlage dafür seien die im zurückliegenden Zeitraum für die Beklagte erkennbaren oder ermittelbaren Umstände. Insoweit sei zu fragen, ob der jeweilige Erkenntnisstand hinreichend Anlass für eine neue Prognose gegeben habe. Eine Prognoseentscheidung treffe per se eine in die Zukunft gerichtete vorausschauende Einschätzung des zu beurteilenden Lebenssachverhalts. Dafür bedürfe es einer ausreichenden Erkenntnisgrundlage. Sachgerechte Prognosen beruhten in der Regel auf Daten und Fakten aus der Vergangenheit, auf deren Basis unter Berücksichtigung zu erwartender Veränderungen eine Vorausschau für die Zukunft getroffen werde. Relevanten Einkommensentwicklungen sei ggf. durch eine neue Prognose angemessen Rechnung zu tragen. Allerdings sei eine von den Verhältnissen in der Vergangenheit abweichende Einschätzung erst dann geboten, wenn Umstände dargelegt würden, die das Erzielen hiervon abweichender Einkünfte nahelegen würden. Eine ausreichende Grundlage böten insoweit nicht allein Einkommensteuerbescheide. Maßgebend sei insbesondere der aufgrund der Angaben des Mitglieds und der familienversicherten Angehörigen verfahrensfrei ermittelte Kenntnisstand der Behörde. Das Mitglied hat nach § 10 Abs. 6 Satz 1 SGB V die für die Durchführung der Familienversicherung notwendigen Angaben zu melden. Für Renten sieht darüber hinaus das Gesetz in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Halbsatz 3 SGB V selbst vor, dass der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt wird.

Nach diesen Kriterien hat die Beklagte im Falle des Klägers zu 1) zu Unrecht die Überschreitung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V festgelegten Einkommensgrenze ab Februar 2022 prognostiziert.

Der Beklagten war aufgrund des von den Klägern ausgefüllten Fragebogens für die Aufnahme in die Familienversicherung vom 11.01.2022 bekannt, dass der Kläger zu 1) ab dem 01.02.2022 eine Teilrente in Höhe von 458,16 € beziehen würde. Bestätigt wurde dies durch den dem Fragebogen beigefügten Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 23.12.2021, wonach ab 01.02.2022 eine Teilrente in der besagten Höhe gewählt worden sei. Dem ebenfalls eingereichten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2019 vom 23.10.2020 war zu entnehmen, dass sich der Jahresbetrag der Rente auf 10.901,00 € und mithin der Monatsbetrag auf 908,42 € belaufen hatte. Ausweislich einer Aktennotiz vom 22.02.2022 wurde der Bezug der Teilrente in Höhe von 458,16 € der Beklagten telefonisch sowohl von der Deutschen Rentenversicherung Bund als auch von einer von den Klägern bevollmächtigten Versicherungsgesellschaft bestätigt. Ausweislich eines Schreibens der Beklagten vom 24.10.2022 war der Beklagten „zwischenzeitlich“ bekannt geworden, dass der Kläger zu 1) ab 01.05.2022 wieder eine volle Altersrente in Höhe von 908,42 € monatlich bezog.  

Vorliegend war von der Beklagten damit bei der von ihr zu treffenden Prognoseentscheidung nicht nur der Einkommensteuerbescheid vom 23.10.2020 für das Jahr 2019, anhand dessen sich eine monatliche Rente des Klägers zu 1) in Höhe von 908,42 € ergab, in die Prognoseentscheidung miteinzubeziehen. Mitheranzuziehen war vielmehr aufgrund der Angaben der Kläger und des der Beklagten vorliegenden Rentenbescheids vom 23.12.2021 auch, dass sich diese Renteneinkünfte zukünftig ändern würden und der Kläger zu 1) ab 01.02.2022 nur noch eine Rente in Höhe von 458,16 € beziehen würde. Dies war der Beklagten auch von der Deutschen Rentenversicherung im Februar 2022 noch einmal bestätigt worden.

Bei der Ausübung des Wahlrechts nach § 42 Abs. 1 SGB VI handelt es sich nicht um einen Verzicht nach § 46 SGB I. Der Gesetzgeber hat explizit die Möglichkeit geschaffen, nur eine Teilrente mit niedrigerer Rentenhöhe in Anspruch zu nehmen. Darüber besteht zwischen den Beteiligten zwischenzeitlich auch kein Streit mehr. Die sich aus der Wahl ergebenden versicherungsrechtlichen Folgen sind nach Ansicht des Senats (wie auch in den Konstellationen anderer Gestaltungsrechte) zu akzeptieren. Diese Änderung hatte die Beklagte bei der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen. Denn dies stellte eine mit hinreichender Sicherheit zu erwartende Veränderung dar. Ob der Kläger zu 1) beabsichtigte, die Rente künftig wieder aufzustocken, war der Beklagten zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Ausdrücklich danach gefragt hat sie die Kläger nicht.

Dass die Kläger bei Antragstellung bereits planten, die Rente wiederaufzustocken, ist aus Sicht des Senats nicht zu bezweifeln; dies führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis. Zu einer Wiederaufstockung war der Kläger zu 1) nach § 42 SGB VI berechtigt. Auf die Motivation des Rentners, weshalb er (vorübergehend) nur eine Teilrente in Anspruch nimmt, kommt es nicht an. Ob die Kläger insoweit schon konkrete Pläne hatten, kann nach Ansicht des Senats deshalb ebenso wie die Frage, ob die Kläger hinsichtlich dieser inneren Tatsache auch ohne entsprechende Nachfrage der Beklagten eine Offenbarungspflicht traf oder ob sie nur verpflichtet waren, die Änderung der Angaben und die Wiederaufstockung der Beklagten gem. § 10 Abs. 6 SGB V zu melden, dahingestellt bleiben. Ein entsprechender Plan ändert nichts daran, dass der Kläger zu 1) lediglich die explizit gesetzlich zugelassene Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Rentenhöhe wahrnahm. Ein Verstoß gegen das allgemeine Umgehungsverbot, eine missbräuchliche Rechtsgestaltung oder eine auslegungsbedürftige Gesetzeslücke sind nicht erkennbar. Abgesehen davon hätte auch ein Plan der Kläger, die Rente nach drei Monaten wieder aufzustocken, nichts daran geändert, dass damit für die Zeit der Inanspruchnahme der geringeren Rente ein regelmäßiges Einkommen von lediglich 458,16 € vorgelegen hätte. Denn nach den Grundsätzlichen Hinweisen des GKV-Spitzenverbandes zu Gesamteinkommen im Sinne der Regelungen über die Familienversicherung vom 29.09.2022, Seite 29 sind für drei Monate erzielte Einkünfte als regelmäßige Einkünfte anzusehen. Der Kläger zu 1) hatte aufgrund der Inanspruchnahme der Teilrente prognostisch ab Februar 2022 ein regelmäßiges monatliches Gesamteinkommen von lediglich 458,16 € und verfügte damit über ein Gesamteinkommen, das regelmäßig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV nicht überstieg. Die ab Mai 2022 erfolgte Wiederaufstockung stellte dann eine Änderung in rechtlich relevantem Umfang dar, aufgrund derer eine andere zukunftsbezogene Prognose, mit dem Ergebnis, dass der Kläger zu 1) ab Mai 2022 nicht mehr familienversichert war, anzustellen war, die aber nichts daran ändert, dass der Kläger zu 1) von Februar bis April 2022 familienversichert war.

dd) Ab Mai 2022 kam für den Kläger zu 1) sodann eine obligatorische Anschlussversicherung zu Stande.

Nach § 188 Abs. 4 SGB V setzt sich für Personen, deren Versicherungspflicht oder Familienversicherung endet, die Versicherung mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder mit dem Tag nach dem Ende der Familienversicherung als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, das Mitglied erklärt innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeiten seinen Austritt. Liegen die Voraussetzungen für diese obligatorische Anschlussversicherung vor, beginnt die damit verbundene freiwillige Mitgliedschaft im unmittelbaren Anschluss an den Wegfall der Versicherungspflicht oder der Familienversicherung. Die freiwillige Versicherung schließt sich lückenlos „mit dem Tag“ nach der beendeten Pflicht- oder Familienversicherung an. Die nach dieser Vorschrift konstruierte Anschlussversicherung setzt sich unabhängig von einem darauf gerichteten Willen des Mitglieds kraft Gesetzes fort. Es handelt sich um eine Pflichtkrankenversicherung in Form der freiwilligen Versicherung, nicht aber um eine Versicherung „aus freien Stücken“ (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2022 - B 12 KR 13/20 R -, in juris). Das Ende der Familienversicherung löst die obligatorische Anschlussversicherung nur beim Wegfall der persönlichen Voraussetzungen für eine Familienversicherung, nicht aber schon dann aus, wenn die Familienversicherung nur wegen der beendeten Mitgliedschaft des Stammversicherten nicht mehr besteht (BSG, Urteil vom 29.03.2022 - B 12 KR 15/20 R -, in juris).

Die Familienversicherung des Klägers zu 1) hat im Sinne des Satzes 1 des § 188 Abs. 4 SGB V geendet. Seine Familienversicherung endete zum 30.04.2022 nicht deshalb, weil seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), nicht mehr stammversichert war, sondern weil er ab Mai 2022 wieder eine Vollrente bezog und er damit die Einkommensgrenze des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V überschritt. Seinen Austritt aus der Versicherung hat er nicht erklärt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

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