L 7 SB 37/20

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 29 SB 206/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 7 SB 37/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Der Anwendungsbereich des § 153 Abs 4 SGG ist nicht auf Rechtsfragen beschränkt 2. Beweisanträge sind nach der Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zu wiederholen. Ansonsten haben sie sich erledigt. 3. Voraussetzung für das Merkzeichen �RF� ist, dass der schwerbehinderte Mensch (wenigstens GdB von 80) deshalb nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann, weil er wegen seines Leidens praktisch an das Haus gebunden ist.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens RF (Ermäßigung von der Rundfunkgebührenpflicht) ab 1. November 2018 streitig.

Der am ... 1965 geborenen Klägerin wurden ab 2. März 2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen G und B zuerkannt (Bescheid vom 16. September 2005).

Die Klägerin stellte am 15. Oktober 2018 bei dem Beklagten einen Antrag auf Feststellung des Merkzeichens RF. Sie leide an einer Innenschwerhörigkeit, habe seit 9 Jahren beidseitig Hörgeräte und benötige eine Begleitung für die Teilnahme an Veranstaltungen. Der Beklagte holte Befundscheine von der Fachärztin für HNO-Heilkunde/Allergologie Dr. G. von Dezember 2018 und April 2019, von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. S. vom 10. April 2019, von der Fachärztin für Innere Medizin/Pneumologie Dr. J. von April 2019, von dem Facharzt für Orthopädie Dipl.-Med. N. vom 9. April 2019 und von der Fachpsychologin für Medizin B2 vom 14. April 2019 ein.

Die ärztliche Gutachterin des Beklagten Dr. B1 schlug einen Gesamt-GdB von 60 (chondrodystropischer Minderwuchs GdB von 50, psychische Behinderung GdB von 30, Schwerhörigkeit GdB von 15, Funktionseinschränkung der Wirbelsäule GdB von 10, Funktionseinschränkung rechtes Kniegelenk GdB von 10 und schlafbezogene Atmungsstörung GdB von 10) vor. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. März 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2019 ab. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF lägen nicht vor, da der GdB allein für die Hörbehinderung nicht mindestens 50 betrage. Die Klägerin sei noch in der Lage, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.

Hiergegen hat sich die Klägerin mit der am 2. August 2019 beim Sozialgericht Halle erhobenen Klage gewandt und die Feststellung des Merkzeichens RF ab 1. November 2018 begehrt. Sie hat eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung geltend gemacht. Wegen ihrer psychischen Störungen könne sie nicht ständig an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Sie hat auf das auf Veranlassung des Landessozialgerichts (LSG) Sachsen-Anhalt im Verfahren L 3 RJ 139/03 eingeholte fachpsychiatrische Gutachten von Dr. L. vom 13. Juli 2005 verwiesen.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von Dipl.-Med. S. vom 23. Dezember 2019 eingeholt. Diese hat als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung und einer Alkoholkrankheit (seit 1999 abstinent) mitgeteilt. Die Klägerin sei bei bestehenden Defiziten und der Dauer der Erkrankung dauerhaft „gemindert“, an öffentlichen Zusammenkünften teilzunehmen.

Die Klägerin hat einen Bericht von Dr. K. vom 15. März 2020 vorgelegt. Danach sei sie aufgrund ihrer Beschwerden im Alltag und bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf fremde Hilfe angewiesen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. April 2020 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens RF. Sie sei durch keine ihrer Behinderungen derartig eingeschränkt, dass sie nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen vermöge. Ihr Krankheitsbild rufe keine motorische Unruhe oder lautes Sprechen oder gar aggressives Verhalten hervor, welches geeignet sei, Veranstaltungen dauerhaft zu stören. Vielmehr sei die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen mit Hilfe einer Begleitperson teilzunehmen.

Gegen das ihr am 20. Mai 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am selben Tag Berufung beim LSG Sachsen-Anhalt eingelegt. Sie leide unter Demenz und innerer Unruhe, unter dem Verlust intellektueller Fähigkeiten des Gedächtnisses und unter Persönlichkeitsveränderungen. Begleiterscheinungen seien epileptische Anfälle, die eine Teilnahme an Veranstaltungen durch die Gefahr der Störung ausschlössen. Sie sei ständig auf Hilfe angewiesen. Eine Begleitperson stehe nicht zur Verfügung, da ihre Tochter in P. wohne. Das ausweislich des Arztbriefes des Krankenhauses M. H. vom 5. Dezember 2020 diagnostizierte obstruktive Schlafapnoesyndroms sei die Ursache ihrer inneren Unruhe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 23. April 2020, Az.: S 29 SB 206/19, und den Bescheid des Beklagten vom 13. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2019 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Merkzeichen RF festzustellen,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil und seinen Bescheid für zutreffend.

Der Senat hat Befundberichte eingeholt. Die Fachpsychologin für Medizin B2 hat unter dem 16. August 2020 als Diagnosen Angst/Depression, posttraumatische Belastungsreaktionen mit Fehlentwicklung und Alkoholerkrankung (abstinent lebend) mitgeteilt. Die Klägerin neige nicht zu unkontrolliertem Sozialverhalten. Sowohl der Handlungsspielraum als auch der Erlebensspielraum sowie die Teilhabe an verschiedenen Freizeitangeboten seien eingeschränkt. Dipl.-Med. S. hat unter dem 19. August 2020 eine Verschlechterung des psychischen Befundes im April 2020 mit Zunahme der beklagten Schlafstörungen, mit Antriebsminderung, psychomotorischer Unruhe und fehlender Belastbarkeit mitgeteilt. Seit 1999 seien keine epileptischen Anfälle mehr aufgetreten.

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat den Facharzt für Psychiatrie/Psychotherapie Dr. L. das Gutachten vom 29. Januar 2023 auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 25. Juli 2022 erstatten lassen. Diese habe angegeben, am Vormittag einkaufen zu gehen. Sie habe auch viele Arzttermine und gehe viel spazieren. Einmal wöchentlich werde sie von ihrer Schwester bei der Körperpflege unterstützt, ansonsten bei körperlich anstrengenden Hausarbeiten. Im Alltag versorge sie sich selbst. Sie brauche Unterhaltung, sonst falle ihr die Decke auf den Kopf. Zum Aufsuchen ihres Arztes in S. nutze sie die öffentlichen Verkehrsmittel. Bei weiteren Fahrten brauche sie Hilfe. Kino interessiere sie nicht. Seitdem sie alleine sei, unternehme sie nichts mehr und gehe auch nicht zu Konzerten oder ins Theater. An Familienfeierlichkeiten (mit rund 40 Teilnehmern) nehme sie teil. Dr. L. hat mitgeteilt, das Untersuchungsgespräch habe in normaler Zimmerlautstärke geführt werden können. Bei der Klägerin lägen als Erkrankungen chondrodysplastischer Minderwuchs, chronisch depressives Syndrom (derzeit in Teilremission), Alkoholabhängigkeit (stabile Abstinenz seit 2001), Schwerhörigkeit (versorgt mit Hörgeräten), chronisch-rezidivierendes cervicales und lumbales Schmerzsyndrom sowie chronisch-obstruktive Schlafapnoesyndroms (versorgt mit CPAP-Therapie mit allenfalls leichter Tagesmüdigkeit ohne imperatives Einschlafen) vor. Aktuell bestünden allenfalls leichte kognitive Einschränkungen. Ein Demenzverdacht werde nicht begründet. Die Klägerin sei durch die Gesundheitsstörungen nicht an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gehindert. Aufgrund ihrer selbstunsicheren und ängstlichen Primärpersönlichkeit, aber auch infolge depressionsbedingten Interessenmangels suche sie seit Jahren keine öffentlichen, kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen mehr auf. Die Klägerin vermisse eine Begleitung.

Die Klägerin ist der Einschätzung des Gutachters nicht gefolgt und hat Einwände gegen das Gutachten erhoben. Bereits wegen ihres Minderwuchses und der damit verbundenen Gefahr, deswegen gehänselt zu werden, nehme sie an öffentlichen Veranstaltungen nicht teil.

Die Klägerin hat am 13. März 2023 beantragt, Dr. L. zur mündlichen Verhandlung zu laden. Sie hat die Fragen 1) bis 22) formuliert. Insoweit wird auf Bl. 207 bis 209 und 238 bis 239 der Gerichtsakte Bezug genommen. Ferner hat sie am 6. April 2023 beantragt, ihre Tochter als Zeugin zu vernehmen. Mit Schreiben vom 11. April und 11. August 2023 hat Dr. L. die Fragen 1) bis 22) beantwortet. Insoweit wird auf Bl. 246 bis 249 und 259 bis 261 der Gerichtsakte verwiesen.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 17. Oktober 2023 ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtige, nach § 153 Abs. 4 SGG zu verfahren. Dem Beklagten ist eine Abschrift des Anschreibens übersandt worden.

Die Klägerin hat geltend gemacht, Dr. L. sei kein Facharzt für HNO-Heilkunde und damit hinsichtlich Feststellungen zur Hörfähigkeit nicht kompetent. Die Voraussetzungen des § 153 Abs. 4 SGG seien nicht gegeben, da auch über materielles Recht zu entscheiden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

II.

Der Senat konnte durch Beschluss über die Berufung entscheiden und diese zurückweisen, weil sie nach der Beurteilung aller beteiligten Richter unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist sowie die Beteiligten vorher gehört worden sind (§ 153 Abs. 4 Satz 1 SGG).

Der Senat berücksichtigt hierbei insbesondere, dass über die Berufung ohne Schwierigkeiten nach Aktenlage unter Beachtung des medizinischen Beweisergebnisses entschieden werden kann. Der Anwendungsbereich des § 153 Abs. 4 SGG ist nicht auf Rechtsfragen beschränkt (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., 2023, § 153 Rn. 13a).

Der Senat konnte auch im Hinblick auf das der Klägerin gemäß § 116 Satz 2, § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 397 Abs. 2, 402, 411 Abs. 4 Zivilprozessordnung (ZPO) zustehende Fragerecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und einer Ladung des Sachverständigen Dr. L. zu einem Verhandlungstermin absehen. Dem Recht der Klägerin auf Anhörung des Gutachters ist vorliegend nachgekommen worden, da Dr. L. mit Schreiben vom 11. April und 11. August 2023 die Fragen der Klägerin vollumfänglich schriftlich beantwortet hat (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2000, B 9 VS 2/99 R; Beschluss vom 27. September 2018, B 9 V 14/18 B). Im Übrigen hat die rechtskundig vertretene Klägerin den Antrag auf Anhörung von Dr. L. nach Erhalt der Anhörungsmitteilung vom 17. Oktober 2023 zum Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG nicht wiederholt. Dies wäre aber notwendig gewesen (BSG, Urteil vom 18. Dezember 2000, B 2 U 336/00 B; Urteil vom 11. Juni 2015, B 13 R 151/15 B). Dies gilt auch für den Beweisantrag der Klägerin vom 6. April 2023, als Zeugen ihre Tochter zu vernehmen, den diese nach der gerichtlichen Anhörungsmitteilung vom 17. Oktober 2023 nicht nochmals gestellt hat.

Die gemäß § 143 SGG statthafte und auch in der Form und Frist des § 151 SGG eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs. 1, 56 SGG) zu Recht als unbegründet abgewiesen.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens RF ab 1. November 2018.

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf das Merkzeichen RF ist § 152 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX). Demnach treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX. Nach § 152 Abs. 5 SGB IX in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ist in den Schwerbehindertenausweis auf der Rückseite das Merkzeichen RF einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

Nach § 4 Abs. 2 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages, dieser verkündet als Art. 1 des Fünfzehnten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (15. Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 15. Dezember 2010, bekannt gemacht als Anlage zum Vierten Medienrechtsänderungsgesetzes vom 12. Dezember 2011 (GVBl. LSA S. 824), tritt eine Ermäßigung auf ein Drittel für folgenden Personenkreis ein:

blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung,

hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist, und

behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Die Voraussetzungen von 1. und 2. erfüllt die Klägerin offensichtlich nicht. Weder der Sachverständige Dr. L. noch die behandelnden Ärzte oder die Klägerin selbst haben Hinweise auf eine Sehminderung mitgeteilt. Zudem hat Dr. L. in seinem Gutachten vom 29. Januar 2023 keine wesentlichen Einschränkungen des Hörvermögens der beidseitig mit Hörgeräten versorgten Klägerin festgestellt. Die verbale Kommunikation ist bei Zimmerlautstärke ohne Störung möglich gewesen. Darüber hinaus hat die Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. G. in dem Befundschein von April 2019 die Frage einer ständigen Verhinderung der Klägerin an der Teilnahme von öffentlichen Veranstaltungen verneint. Die Klägerin habe bei der letzten Hörgerätekontrolle in feinem Schallfeld bei 65dB ein 80-prozentiges Einsilbenverstehen gezeigt. Die Ärztin hat eine Kontrolle und neue Justierung beim Akustiker empfohlen, sofern die Klägerin mit den Hörgeräten insbesondere im Störlärm nicht zurechtkommen sollte.

Auch die Voraussetzungen von 3. sind nicht gegeben. Dr. L. hat überzeugend ausgeführt, dass bei der Klägerin kein Leiden vorliegt, welches die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen dauerhaft ausschließt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15, BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der schwerbehinderte Mensch wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist. Der schwerbehinderte Mensch muss praktisch an das Haus gebunden sein. Es kommt nicht darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen.

Die Klägerin ist nicht im Sinne der Rechtsprechung des BSG an das Haus gebunden. Sie kann insbesondere nach dem Gutachten von Dr. L. vom 29. Januar 2023 und dessen Schreiben vom 11. April und 11. August 2023 eigenständig am öffentlichen Leben teilhaben.

Die Klägerin besucht seit der Trennung von ihrem Lebensgefährten 2018 nach ihren eigenen Angaben keine öffentlichen Veranstaltungen mehr. Sie beteiligt sich aber an Familienfeiern mit rund 40 Teilnehmern. Darüber hinaus sucht sie Ärzte auf, geht spazieren und nutzt öffentliche Verkehrsmittel. Sie ist daher keinesfalls praktisch ans Haus gebunden. Vielmehr nimmt sie Kontakt zu Dritten außerhalb ihres Wohnumfeldes auf. Die Tatsache, dass sie nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten - mangels Begleitung - keine öffentlichen Veranstaltungen aufsucht, schließt ihre objektive Möglichkeit, derartige Veranstaltungen aufzusuchen, gerade nicht aus.

Dr. L. hat schwere Bewegungsstörungen verneint. Das chronisch-rezidivierende zervikale und lumbale Schmerzsyndrom stellt kein Hindernis für die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen dar. Die Klägerin ist hinreichend mobil. Sie benutzt keine Hilfsmittel wie Rollator oder Rollstuhl. Sie versorgt ihren Haushalt im Wesentlichen allein. Sie bedarf nach ihren Angaben einmal wöchentlich der Hilfe bei der Körperpflege und bei körperlich anstrengenden Hausarbeiten. Seit 1999 treten auch keine epileptischen Anfälle mehr auf, die zu Störungen der Umgebung führen könnten.

Es bestehen auch keine psychischen Erkrankungen, die die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausschließen. Der Sachverständige Dr. L. hat aufgezeigt, dass bei der Exploration am 25. Juli 2022 eine innere Unruhe der Klägerin weder anamnestisch geschildert noch von ihm klinisch beobachtet worden ist. Er hat in den Schreiben vom 11. April und 11. August 2023 herausgearbeitet, dass keine störungsbedingten Einschränkungen der Klägerin existieren, um überhaupt an Veranstaltungen teilnehmen zu können. Ursache für die Nichtteilnahme an Veranstaltungen durch die Klägerin sind Interessemangel und Antriebsstörungen im Rahmen einer depressiven Restsymptomatik. Bei der Klägerin liegt eine stabile Alkoholabstinenz seit 2001 vor. Eine von der Klägerin ausgehende Geruchsbelästigung durch vegetative Störungen (Schwitzen) als Alkoholfolgekrankheiten hat er verneint. Die Tatsache, dass die Klägerin ausweislich des Gutachtens von Dr. L. vom 13. Mai 2005 nur beruflichen Tätigkeiten ohne Publikumsverkehr aus gesundheitlichen Gründen nachgehen könne, schließt den Besuch öffentlicher Veranstaltungen nicht aus. Der Sachverständige hat schlüssig dargelegt, dass die Fähigkeit zur zielgerichteten Kommunikation, Konzentration und Umstellung, sozialen Kompetenz, auch zur Einnahme einer professionellen Rolle im Kundenkontakt beim Besuch von Veranstaltungen nicht maßgeblich ist. Er hat Hinweise für eine dementielle Erkrankung bei der Begutachtung am 25. Juli 2022 verneint. Er hat ausdrücklich aufgezeigt, dass die soziale Isolation der Klägerin kein Indiz für die Unfähigkeit zur Teilnahme an Veranstaltungen darstellt. Ein primär gestörtes Selbstwertgefühl hat der Gutachter als psychische Erkrankung verneint. Als entscheidend für die Nichtteilnahme an Veranstaltungen hat er die fehlende Motivation der Klägerin angesehen.

Dazu stehen die Befundberichte von Dipl.-Med. S. vom 23. Dezember 2019 und 19. August 2020 nicht in Widerspruch. Die von der Klägerin beklagte Antriebsminderung, psychomotorische Unruhe und fehlende Belastbarkeit sind Ausdruck der von Dr. L. aufgezeigten Restsymptomatik der rezidivierenden depressiven Störung. Sie stehen der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen jedoch nicht entgegen. Vielmehr hat der Gutachter die Teilnahme an Veranstaltungen wie Konzert, Kino oder Theater aus psychischer Sicht für sinnvoll erachtet.

Letztlich schließt auch das chronisch-obstruktive Schlafapnoesyndroms die Klägerin nicht von öffentlichen Veranstaltungen aus. Bei ihr besteht unter der CPAP-Therapie allenfalls eine leichte Tagesmüdigkeit.

Soweit die Klägerin darauf verweist, dass sie durch ihren Minderwuchs Blicke auf sich ziehe und gehänselt werden könnte, kommt es hierauf nicht an und führt nicht zur Feststellung des Merkzeichens RF. Der auf die gesellschaftliche Teilhabe gerichtete Zweck des Merkzeichens würde nämlich in sein Gegenteil verkehrt, wenn es mit dem Ziel zuerkannt werden könnte, besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen und damit Behinderte quasi wegzuschließen, also gerade ihre Teilhabe zu verhindern. Deshalb steht das Merkzeichen auch besonders empfindsamen Behinderten nicht allein deshalb zu, weil sie die Öffentlichkeit um ihrer Mitmenschen willen meiden (vgl. BSG, Beschluss vom 18. August 2021, B 9 SB 23/21 B, juris, Rn. 9, sowie Beschluss vom 9. November 2017, B 9 SB 35/17 B, juris, Rn. 14). Im Übrigen widerlegt der Umstand, dass die Klägerin früher an sozialen Veranstaltungen teilgenommen hat, die Annahme, dass sie aufgrund des Minderwuchses daran gehindert wäre.

Weitere Ermittlungen des Senats kamen nicht in Betracht. Insbesondere konnte der Senat in Anbetracht der Befundscheine von Dr. G. von der Einholung von weiteren Befunden auf HNO-ärztlichem Gebiet absehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Entscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.

Rechtskraft
Aus
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