L 2 R 168/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 28 KN 6/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 R 168/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17.12.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger begann nach seinem Realschulabschluss im Sommer 2011 am 01.08.2011 eine dreijährige Ausbildung zur Fachkraft für Lebensmitteltechnik bei der Firma P.. Er war seit dem 09.01.2014 arbeitsunfähig und bezog vom 20.02.2014 bis zum 09.07.2015 Krankengeld und ab dem 10.07.2015 bis zum 08.10.2015 Arbeitslosengeld. Sein Arbeitsverhältnis bei der Firma P. wurde zum 31.08.2014 gekündigt. In seinem Rentenversicherungskonto sind Pflichtbeitragszeiten bis zum 08.10.2015 gespeichert. Nach diesem Zeitpunkt sind keine weiteren Zeiten mehr aufgeführt.

Der Kläger erhält Leistungen aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung in Höhe von ca. 1000,- Euro monatlich. Seit dem 01.04.2019 ist bei ihm der Pflegegrad 1, seit dem 01.06.2020 der Pflegegrad 2 und seit dem 10.12.2020 der Pflegegrad 3 anerkannt.

Vom 25.11.2014 bis zum 19.12.2014 erhielt der Kläger eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der I.Klinik in D.. Nach dem Entlassungsbericht der Klinik war der Kläger noch dazu in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten vollschichtig zu verrichten. Da die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Lebensmitteltechniker vom Kläger nicht mehr dauerhaft ausgeübt werden könne, seien Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben angezeigt. Der Kläger hielt diese Beurteilung nicht für zutreffend. Eine Besserung seines Beschwerdebildes sei durch die Rehabilitationsmaßnahme nicht eingetreten. Er komme wegen seiner Schmerzen und seiner Atemnot nicht zur Ruhe und könne sich deshalb entsprechende Teilhabemaßnahmen erst nach einer Schmerzlinderung vorstellen.

Der Kläger beantragte am 11.03.2015 bei der Beklagten erstmalig die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Er sei seit Dezember 2013 erwerbsgemindert.

Die Beklagte zog den Entlassungsbericht der I.Klinik bei und veranlasste eine ambulante Begutachtung durch den Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin N.. Dieser stellte aufgrund einer am 02.04.2015 durchgeführten ambulanten Untersuchung des Klägers die Diagnosen:

  • Vertebragenes Schmerzsyndrom bei sekundären paravertebralen Myogelosen von HWS, BWS und LWS, laborchemischem HLA B27-Nachweis ohne radiologische Veränderungen im Sinne einer Spondylitis ankylosans und anamnestisch leichtgradiger reaktiver Depression, beginnende somatoforme Schmerzstörung
  • Z.n. undifferenzierter Colitis 05/2014.

In der Zusammenschau der bestehenden Gesundheitsstörungen wurde das Leistungsbild des Versicherten von N. dahingehend beurteilt, dass der Kläger noch körperlich mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung vollschichtig verrichten könne. Die erforderliche Gehstrecke von mindestens 4 x 501 Metern sei dabei nicht eingeschränkt.

Gestützt auf diese medizinische Beurteilung lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 16.04.2015 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 23.04.2015 Widerspruch. Bei ihm liege ein aufgehobenes Leistungsvermögen vor. Dies habe unter anderem auch der Gutachter der Bundesagentur für Arbeit, Z., bestätigt. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2015 zurück. Das Leistungsvermögen des Klägers sei von ihr zutreffend bewertet worden.

Der Kläger hat hiergegen am 15.01.2016 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Detmold erhoben. Zur Begründung hat er geltend gemacht, dass bei ihm nunmehr im Rahmen der durchgeführten Begutachtung bei dem Sachverständigen V. erstmalig die zutreffende Diagnose eines chronischen Fatigue-Syndroms gestellt worden sei. Das entsprechende Krankheitsbild liege bei ihm bereits seit Januar 2014 und auch im Zeitpunkt der Rentenantragstellung am 11.03.2015 vor und führe dazu, dass er bereits seit diesem Zeitpunkt voll erwerbsgemindert sei und damit auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung erfülle. Wegen der Widersprüchlichkeiten zwischen den einzelnen Gutachten werde im Übrigen die Einholung eines Obergutachtens beantragt.

Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.04.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2015 zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung zu zahlen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat die Beklagte insbesondere darauf verwiesen, dass die Diagnose eines chronischen Fatigue-Syndroms rein deskriptiv sei und sich dem Nachweis objektiver Methoden entziehe. Es sei nach wie vor umstritten, ob es sich dabei überhaupt um ein eigenständiges Krankheitsbild handele. Der Leistungseinschätzung von V. könne daher aus sozialmedizinischer Sicht nicht gefolgt werden. Dies werde auch durch das Gutachten der Sachverständigen W. bestätigt. Dem Gutachten des Sachverständigen X. sei ebenfalls nicht zu folgen, weil es diesem nicht gelungen sei, die bestehende Diskrepanz zwischen den Beschwerdeschilderungen des Klägers und den erhobenen somatischen Befunden aufzuklären.

Das SG hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zunächst gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie L. und eines fachinternistisch-fachrheumatologisch-sozialmedizinischen Gutachtens von U.. U. hat in seinem Gutachten vom 30.04.2016 die Diagnose eines unklaren rheumatologischen Beschwerdebildes bei

  • möglicher pallindromer Symptomatik
  • nicht sicher auszuschließender Vasculitis
  • nicht sicher auszuschließender Mischkollagenose
  • schmerzhaftem Wirbelsäulensyndrom
  • wechselnden Gelenkbeschwerden ohne eindeutige Hinweiszeichen für eine primär entzündliche Gelenkerkrankung
  • unklaren Temperaturanstiegen
  • schwerem Krankheitsgefühl
  • Durchfallneigungen mit Blutbeimengung
  • Mischbild chronifizierter Schmerzen mit körperlichen und seelischen Anteilen
  • unter schmerzdistanzierender und stimmungsaufhellender Medikation (Amitriptylin)
  • Aversion und Phobie gegenüber Tabletteneinnahme

 

gestellt.

Eine sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens sei ihm angesichts des völlig unklaren primären Krankheitsbildes aktuell nicht möglich. Es müsse im Rahmen einer eingehenden stationären Untersuchung zunächst versucht werden, eine eindeutige Diagnose zu stellen. Dabei sei wichtig, den Kläger nicht allein deshalb in eine sogenannte „Psychoecke“ zu drängen, weil seine Beschwerdesymptomatik momentan somatisch nicht erklärbar sei.

Der Sachverständige L. ist in seinem Gutachten vom 14.06.2016 zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger auf seinem Fachgebiet unter einem Schmerzsyndrom der Wirbelsäule ohne Hinweise auf nervenwurzelreizbedingte Reiz- oder Ausfallerscheinungen und ohne Hinweise auf eine primär entzündliche Gelenkerkrankung leide. Eine psychosomatische Überlagerung der Schmerzsymptomatik lasse sich nicht feststellen. Auch kognitive Leistungseinbußen seien bei der durchgeführten neuropsychologischen Testung nicht festgestellt worden. Aus nervenärztlicher Sicht könne keine Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens festgestellt werden.

Nachdem die Beklagte die Durchführung einer weiteren interdisziplinären Rehabilitationsmaßnahme abgelehnt hat, hat das Sozialgericht erneut Beweis erhoben und ein fachorthopädisches Sachverständigengutachten von A. eingeholt. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 26.03.2018 fest, dass der Kläger auf seinem Fachgebiet an keiner erheblichen Krankheit leide. Auch eine wirbelsäulenbedingte Erkrankung liege nicht vor. Es sei allenfalls von einer Schmerzverarbeitungs- bzw. Somatisierungsstörung auszugehen. Eine objektiv vorliegende Leistungseinschränkung lasse sich nicht feststellen. Auch die Gehfähigkeit des Klägers sei nicht eingeschränkt.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das SG daraufhin ein weiteres fachorthopädisches Gutachten von X. eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 17.01.2019 die Diagnosen

  • stressinduziertes Schmerzsyndrom
  • Somatisierungsstörung im Lumbalbereich
  • Tabletten-Phobie

gestellt. Es bestehe eine Diskrepanz zwischen den Beschwerdeschilderungen des Klägers und den erhobenen somatischen Befunden, die sich aus der bestehenden Schmerzstörung erklären lasse. Diese Schmerzstörung schränke das Leistungsvermögen des Klägers im Erwerbsleben erheblich ein. Er könne auch leichte körperliche Tätigkeiten nicht mehr als zwei Stunden täglich verrichten. Die Gehfähigkeit des Klägers sei nicht eingeschränkt. Innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren könne eine Besserung des Leistungsvermögens erreicht werden. Dem Gutachten von A. könne nicht gefolgt werden, weil dieser die beim Kläger bestehende Schmerzverarbeitungsstörung nicht hinreichend berücksichtige. Soweit der Sachverständige L. einen sozialen Rückzug des Klägers verneine, sei dieser anhand der jetzigen Dokumentation definitiv zu bejahen. Allein die Tabletten-Phobie sei zudem eine eindeutige psychische Störung.

Das SG hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme von dem Sachverständigen L. eingeholt. Dieser hat unter dem 01.07.2019 festgestellt, dass er bei seiner Begutachtung keine Hinweise auf ein psychosomatisches Schmerzgeschehen habe finden können. Der Sachverständige X. bewerte fachfremd eine psychogene Störung, ohne sich hierbei an die entsprechenden Leitlinien zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen zu halten. Dem Gutachten sei nicht zu folgen.

Vom 06.08.2019 bis zum 24.08.2019 befand sich der Kläger zur multimodalen Schmerztherapie in stationärer Behandlung in der Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin Dortmund. Dort wurde eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine Tablettenaversion und rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig, diagnostiziert. Es wurde eine ambulante Psychotherapie sowie die Fortführung von Krankengymnastik und Entspannungsverfahren in Eigenregie empfohlen.

Nachdem der Verdacht einer schleichenden Gadolinium-Vergiftung aufgrund wiederholter MRT-Untersuchungen im Raum stand und die Mutter des Klägers in einer Stellungnahme vom 20.04.2019 mitgeteilt hat, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers nach einem MRT mit Kontrastmittel am 16.01.2019 erheblich verschlechtert habe, er sich nur noch sehr schwer fortbewegen könne, häufig im Bett liege und wie „benommen“ wirke, hat das SG erneut Beweis erhoben und ein weiteres medizinisches Gutachten von V., Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie, eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 21.08.2020 aufgrund einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 03.08.2020 die Diagnose:

  • schweres chronisches Fatigue-Syndrom (CFS)

gestellt. Der Kläger erfülle spätestens seit 2014 die Kriterien dieses Syndroms. Anhand der zahlreichen ärztlichen Befunde seien die Symptome eines CFS ausreichend dokumentiert. Nach dem medizinischen Wissensstand müsse die Diagnose gestellt werden, wenn alle Kriterien der aktuellen Leitlinie erfüllt seien und andere somatische Störungen, pathologische Laborbefunde oder definierte psychische Störungen ausgeschlossen werden können. Da eine Gadolinium Deposition Disease (GDD) bisher nicht als gesicherte Krankheit angesehen werde, müsse diese auch nicht als Ursache des CFS diskutiert werden. Der Kläger könne auch leichte körperliche Arbeiten nur noch maximal zwei bis drei Stunden täglich mit Zwischenpausen verrichten. Diese Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage in Folge des chronischen Fatigue-Syndroms 70 % und bestehe bereits seit dem 11.03.2015. Eine Besserung des Leistungsvermögens sei nicht vorhersehbar.

Das SG hat daraufhin erneut Beweis erhoben und ein psychiatrisches Gutachten von          W. sowie ein neuropsychologisches Zusatzgutachten von der Psychologin B. eingeholt. Letztere hat bei ihrer Untersuchung des im Rollstuhl sitzenden Klägers am 02.03.2021 eine deutliche kognitive Leistungseinschränkung in der Aufmerksamkeit- und Exekutivleistung sowie im verbalen Gedächtnis festgestellt. Es habe sich außerdem eine erhebliche kognitive Verlangsamung und leichte Ermüdbarkeit sowie im Verlauf der Testung ein starkes Absinken der Aufmerksamkeits- und der Konzentrationsfähigkeit gezeigt. Diese Defizite seien durchaus mit den bei einem chronischen Fatigue-Syndrom zu erwartenden kognitiven Beeinträchtigungen zu vereinbaren, könnten aber ggfs. noch durch psychische Faktoren weiter negativ beeinflusst werden. Verglichen mit dem neurologischen Gutachten des Sachverständigen L.  zeige sich nun ein deutlich reduziertes Leistungsvermögen. Da die jetzt durchgeführte neuropsychologische Leistungsprüfung jedoch weitaus umfangreicher sei als die von Herrn L. durchgeführte Testung, sei eine gewisse Abweichung zwar durchaus denkbar, jedoch in diesem Umfang nicht zu erwarten. Zu berücksichtigen sei, dass sich die kognitiven Einschränkungen bei einem Fatigue-Syndrom vor allem bei längerer kognitiver Belastung zeigen würden und deshalb bei weniger umfangreichen Untersuchungen oftmals auch nicht hinreichend erfasst würden. Gegebenenfalls habe aber auch die zunehmende depressive Symptomatik zu einer weiteren Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit beigetragen. Die Sachverständige W. hat in ihrem Gutachten vom 09.06.2021 unter Berücksichtigung des neuropsychologischen Zusatzgutachtens festgestellt, dass aufgrund der von ihr festgestellten Diskrepanzen bei nachweisbaren negativen Antwortverzerrungen nicht mit ausreichender Sicherheit und Wahrscheinlichkeit eine psychische Störung diagnostiziert werden könne. Prinzipiell möglich sei das Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung, der aus Sicht der Sachverständigen aufgrund der passiven Verhaltensweise des Klägers und der nachweisbaren negativen Antwortverzerrungen möglicherweise wunschbedingte Vorstellungen zugrunde liegen könnten. Dabei seien auch bewusstseinsnahe Elemente bei der geltend gemachten Beschwerdesymptomatik gegeben. In der Gesamtschau sei deshalb auch unter Berücksichtigung des neuropsychologischen Untersuchungsbefundes keine quantitative Leistungseinschränkung mit ausreichender Sicherheit zu objektivieren. Den Feststellungen des Sachverständigen V. könne sie sich nicht anschließen, da der Kläger eine außergewöhnliche Erschöpfung außerhalb der Begutachtung bei diesem Sachverständigen zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht habe. Die Diagnose eines chronischen Fatigue-Syndroms könne nicht gestellt werden, weil hier zum einen möglicherweise eine psychische Störung im Sinne einer somatoformen Schmerzstörung vorliege und zum anderen auch eine bewusstseinsnahe negative Antwortverzerrung zu berücksichtigen sei.

Das SG hat die Klage ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 17.12.2021 abgewiesen, nachdem die Beteiligten zu dieser Verfahrensweise ihr Einverständnis erteilt haben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung lediglich erfüllt seien, wenn der Kläger bereits spätestens seit dem 31.12.2015 voll oder teilweise erwerbsgemindert gewesen sei. Davon könne unter Berücksichtigung der von den Sachverständigen L. und   U. erstellten Gutachten nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden. Dem Gutachten des Sachverständigen X. könne nicht gefolgt werden. Das Gutachten des Sachverständigen V. stütze sich weitgehend auf die subjektiven Angaben des Klägers, ohne diese durch geeignete Verfahren zu objektivieren. Seine Annahme, das chronische Erschöpfungssyndrom habe bereits 2014 vorgelegen, könne zudem nicht nachvollzogen werden. Die von dem Sachverständigen beschriebenen „Müdigkeitserscheinungen“ seien weder in den Vorgutachten noch im Entlassungsbericht über die 2019 durchgeführte stationäre multimodale Schmerztherapie aufgeführt. Unabhängig davon würden auch vor dem Hintergrund der Ausführungen der Sachverständigen W. begründete Zweifel an dem Ausmaß der vorgetragenen chronischen Erschöpfung bestehen.

Gegen das ihm am 10.02.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24.02.2022 Berufung eingelegt. Da er bereits seit 2014 voll erwerbsgemindert sei, sei die Wartezeit nach § 53 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) erfüllt. Dieser Zeitpunkt der Leistungsminderung ergebe sich aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen V.. Die Ausführungen der Sachverständigen U. und A. seien bereits nicht verwertbar, weil es sich dabei um fachfremde Gutachten handele. Der Sachverständige L. bestätige die Diagnose eines CFS zwar noch nicht, weise aber bereits darauf hin, dass es sich bei ihm, dem Kläger, nicht um eine psychische Erkrankung handele, eine weitere Diagnostik aber unbedingt notwendig sei. Aus diesem Gutachten ergebe sich deshalb nicht, dass das CFS zum Zeitpunkt seiner Begutachtung noch nicht vorgelegen habe. Das SG folge im Übrigen ohne nachvollziehbare Begründung den Ausführungen der Sachverständigen W., die sich nicht ansatzweise mit der maßgeblichen CFS-Erkrankung auseinandersetze. Hinsichtlich der Ausführungen des Senats in der mündlichen Verhandlung vom 16.01.2024 werde die Gewährung einer Schriftsatzfrist beantragt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17.12.2021 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.04.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2015 zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Da der Kläger seinen letzten Beitrag zur Rentenversicherung im Oktober 2015 entrichtet habe, seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung nicht mehr erfüllt, wenn der Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung auf den Tag der Untersuchung bei V. festgelegt werden würde. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen L. in seiner ergänzenden Stellungnahme sei zudem davon auszugehen, dass weiterhin ein sechsstündiges Leistungsvermögen des Klägers vorliege.

Der Senat hat zunächst eine ergänzende Stellungnahme von den Sachverständigen L. und U. eingeholt. Der Sachverständige L. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.06.2022 mitgeteilt, dass der Kläger bei seiner Begutachtung über keine Erschöpfungsbeschwerden geklagt habe. Im Übrigen sei die Diagnose eines CFS wenig aussagekräftig. Relevant seien die aus der Gesundheitsstörung resultierenden Einschränkungen in Bezug auf Aktivität und Teilhabe. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang ergänzend auf die aktuellen Leitlinien zur Begutachtung des Post-Covid-Syndroms verwiesen. Bei diesem Syndrom handele es sich um ein sehr ähnliches Krankheitsbild. Auch in diesen Leitlinien werde gefordert, dass adäquate Verfahren zur Objektivierung eingesetzt werden. Dem werde das Gutachten von V. nicht gerecht. Es erschöpfe sich in der Herleitung der Diagnose. Eine weitere Begutachtung durch einen CFS-erfahrenen Sachverständigen sei aus seiner Sicht nicht erforderlich.

Der Sachverständige U. hat in seiner Stellungnahme vom 25.09.2022 ausgeführt, dass er bei seiner jahrzehntelangen hochfrequentierten Tätigkeit als Sachverständiger ca. 10.000 Gutachten erstellt habe und er sich im Fall des Klägers erstmalig nicht dazu in der Lage gesehen habe, das Leistungsvermögen nach sozialmedizinischen Standards zu beurteilen. Grund hierfür sei gewesen, dass beim Kläger eine verschwommene Mischproblematik an Beschwerden vorgelegen habe, die er nicht im erforderlichen Umfang habe abklären können. Das nunmehr von V. diagnostizierte Fatigue-Syndrom gehöre zu den derzeit umstrittensten Krankheitsbildern, weil es eine Vielzahl von Symptomen aufweise, die auch bei zahlreichen anderen Gesundheitsstörungen vorliegen würden. Zurzeit gebe es noch keine belastbaren Messmethoden zur Diagnosesicherung, maßgebend sei letztlich nur die Anamnese mit Ausschlussdiagnostik. Aus seiner Sicht könne die Diagnose eines CFS zwar im Zeitpunkt der Untersuchung durch V. angenommen werden, bei schleichendem Verlauf und wechselnder Symptomatik lasse sich aber eine rückblickende zeitliche Festlegung des Eintritts des aufgehobenen Leistungsvermögens nicht treffen. Diese wäre reine Spekulation. Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens von Ärzten, die sich mit dem CFS befassen, werde nicht für erforderlich gehalten.

Der Senat hat schließlich eine ergänzende Stellungnahme von V. eingeholt. Dieser hat unter dem 10.03.2023 mitgeteilt, dass der Kläger die von ihm im August 2020 festgestellten Kriterien der internationalen Dokumentation zum CFS bereits im Zeitpunkt des Rentenantrags am 11.03.2015 erfüllt habe. Dies ergebe sich aus den vorliegenden Anamneseerhebungen, die bereits seit 2014 mittelschwere bis schwere CFS-Beschwerden in Ruhe und schwere Symptome bei schon geringer psychophysischer Belastung zeigen würden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte. Die Akten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 16.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind

(§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI).

Diese gesetzlichen Vorgaben erfüllt der Kläger nicht, weil bei ihm zwar zwischenzeitlich die medizinischen Voraussetzungen für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vorliegen, er aber die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung nicht erfüllt.

Bereits die allgemeine Wartezeit hat der Kläger nicht zurückgelegt. Die allgemeine Wartezeit beträgt nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI fünf Jahre, wobei nur Kalendermonate mit Beitragszeiten (§§ 51 Abs. 1, 55 SGB VI) und Ersatzzeiten (§ 250f. SGB VI) angerechnet werden (§ 51 Abs. 4 SGB VI). Im Versicherungsverlauf des Klägers sind lediglich vom 01.08.2011 bis zum 08.10.2015 (51 Monate) Beitragszeiten gespeichert. Weitere Zeiten hat der Kläger auch nicht zurückgelegt. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung kann der Kläger demnach nur dann erfüllen, wenn bei ihm die allgemeine Wartezeit nach § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB VI als vorzeitig erfüllt gilt. Die Anwendung dieser Ausnahmevorschrift setzt aber voraus, dass der Versicherte vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden ist und in den letzten zwei Jahren vorher mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat. Diese versicherungsrechtlichen Erfordernisse erfüllt der Kläger letztmalig bei einem im November 2016 eingetretenen Leistungsfall. Nach dem Versicherungsverlauf sind für den Kläger bis zum 19.02.2014 Pflichtbeiträge für berufliche Ausbildung gezahlt worden. Im Anschluss daran sind bis zum 08.10.2015 Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen für den Bezug von Leistungen eines Sozialleistungsträgers (Krankengeld bzw. Arbeitslosengeld) gespeichert. Auch diese sind nach § 53 Abs. 3 Nr. 2 iVm § 3 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI als Pflichtbeitragszeiten zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen für eine vorzeitige Wartezeiterfüllung nach § 53 Abs. 2 SGB VI sind damit letztmalig erfüllt, wenn der Eintritt der Erwerbsminderung spätestens im November 2016 (oder zu einem früheren Zeitpunkt) erfolgt ist. Auch die besonderen versicherungsrechtlichen Bedingungen nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI (Drei/Fünftel-Belegung) wären dann über § 43 Abs. 5 SGB VI erfüllt.

Ein solcher Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung lässt sich aus Sicht des Senats nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen. Für die Durchsetzung eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung ist aber erforderlich, dass die tatsächlichen Umstände, aus denen sich eine Erfüllung der Wartezeit ergibt, zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen (vgl. § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG sowie BSG, Urteil vom 21.10.2021 – B 5 R 1/21 R, Rn. 23 und 25 ff., juris).

Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Demgegenüber ist gem. § 43 Abs. 3 SGB VI nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Dass der Kläger bereits spätestens seit November 2016 nicht mehr dazu in der Lage war, in einem solchen Umfang von mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, lässt sich unter Berücksichtigung der durchgeführten umfangreichen medizinischen Ermittlungen, insbesondere auch der im Berufungsverfahren eingeholten gutachterlichen Stellungnahmen, nicht mit diesem erforderlichen Grad der Gewissheit feststellen. Es spricht vielmehr sehr viel dafür, dass das Leistungsvermögen des Klägers, das zwischenzeitlich auch aus Sicht des Senats als aufgehoben anzusehen ist, im November 2016 noch nicht in rentenbegründender Weise herabgesetzt war.

Auf der Grundlage der Sachverständigengutachten von V. und der Psychologin B. sowie vor dem Hintergrund der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen U. ist zwar davon auszugehen, dass das beim Kläger seit Jahren vorliegende unklare Krankheitsbild als chronisches Fatigue-Syndrom anzusehen ist, es lässt sich aber nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen, dass die mit diesem Krankheitsbild verbundenen Leistungseinschränkungen bereits im November 2016 so schwerwiegend waren, dass der Kläger auch leichte körperliche und geistig einfache Tätigkeiten nicht mehr täglich sechs Stunden und mehr verrichten konnte.

Den entsprechenden Feststellungen des Sachverständigen X., der den Kläger am 17.01.2019 begutachtet hat und zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dieser wegen einer bestehenden Schmerzstörung seit Rentenantragstellung im März 2015 auch leichte körperliche Tätigkeiten nur noch zwei Stunden täglich verrichten könne, kann nicht gefolgt werden. Auch dieser Sachverständige hat in Übereinstimmung mit dem Vorgutachter A. keine maßgeblichen Erkrankungen auf orthopädischen Fachgebiet festgestellt und seine Leistungsbeurteilung allein mit einer Schmerzverarbeitungs- bzw. Somatisierungsstörung begründet, die von dem insoweit eindeutig fachkundigeren Sachverständigen L. ebenso wenig nachvollzogen werden konnte wie von der zuletzt beauftragten psychiatrischen Sachverständigen W.. Auch diese ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine solche Störung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Zu Recht weist der Sachverständige L. hinsichtlich des Gutachtens von   X. zudem in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 01.07.2019 darauf hin, dass der orthopädische Sachverständige X. trotz eines unauffälligen psychischen Befundes und ohne eine Verhaltensbeobachtung schmerzbedingter Beeinträchtigungen fachfremd ein organisch nicht erklärbares Schmerzsyndrom bewertet und die hierfür erforderliche Beschwerdevalidierung nicht vornimmt. Der Einschätzung des Sachverständigen L., dass sich aus diesem orthopädischen Gutachten, das zudem unter weiteren formalen Fehlern, wie einer nicht ICD-konformen Diagnosestellung und einer Begutachtung psychosomatischer Störungen im Beisein von Angehörigen, leidet, keine Änderung der von ihm geschilderten Leistungsbeurteilung ergibt, schließt sich der Senat deshalb an.

Er geht – wie der Sachverständige V. und der Sachverständige U. – davon aus, dass das Krankheitsbild des Klägers nicht als Schmerzsyndrom zu bewerten ist, sondern dieser an dem von V. im Rahmen seiner gutachterlichen Untersuchung am 03.08.2020 diagnostizierten chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) leidet. Diese Diagnose hat der Sachverständige aus den aktenmäßig dokumentierten subjektiven Beschwerden des Klägers unter Berücksichtigung der internationalen Konsenskriterien und der zahlreichen dokumentierten ärztlichen Befunde nachvollziehbar hergeleitet. Er beschreibt das CFS als eine durch eine belastende Müdigkeit charakterisierte Erkrankung, die von einer Vielzahl von Symptomen, wie z.B emotionale, kognitive, körperliche und Verhaltensaspekte, begleitet wird und nicht durch andere Erkrankungen, Substanzen oder Belastungen aufgeklärt werden kann. Seine Diagnose wird durch das neuropsychologische Gutachten der Sachverständigen B., die bei ihrer Untersuchung des Klägers im März 2021 eine deutliche kognitive Leistungsminderung festgestellt hat, bestätigt. Soweit der Sachverständige im Anschluss daran zu der Beurteilung gelangt, dass der Kläger die entsprechenden Kriterien, wie anhaltende Müdigkeit, Abgeschlagenheit und ausgeprägte Antriebslosigkeit, Unmöglichkeit von Hausarbeit, Sport und Berufsausübung, vegetative Beschwerden (Stechen in der Brust), psychische Symptome wie Angst, innere Unruhe und depressive Stimmungslage, zunehmende Angst und Hoffnungslosigkeit sowie ausgeprägte persistierende Erschöpfung, spätestens seit 2014 erfüllt und die sich daraus ergebende Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit mindestens seit Rentenantragstellung vorliegen, kann sich der Senat dieser Einschätzung nicht anschließen und hält diese Feststellungen zum Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung für spekulativ. Er stützt sich dabei zunächst auf die Ausführungen des sozialmedizinisch äußerst erfahrenen Sachverständigen U., der in seiner ergänzenden Stellungnahme ausführlich und nachvollziehbar ausgeführt hat, dass sich nicht hinreichend sicher feststellen lässt, dass die sich aus Erkrankung ergebende Leistungsminderung bereits Ende 2016 einen rentenrelevanten Grad erreicht hat. Hiervon könne erst im Zeitpunkt der Begutachtung durch den Sachverständigen V. ausgegangen werden. Diese Einschätzung des Sachverständigen U. hält der Senat auch deshalb für zutreffend, weil die rückschauende Beurteilung einer im Untersuchungszeitpunkt festgestellten Leistungsminderung grundsätzlich schwierig ist und eine eingehende und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den Vorgutachten und den medizinischen Befunden, insbesondere mit den im Gegensatz zur eigenen Untersuchung zeitnah erstellten Gutachten, erfordert. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie hier – zwischen dem Zeitpunkt der Untersuchung und dem Zeitpunkt, zu dem die rentenrelevante Leistungsminderung spätestens eingetreten sein muss, ein Zeitraum von mehr als dreieinhalb Jahren liegt. Eine entsprechende Auseinandersetzung mit den Vorbefunden ist durch den Sachverständigen V. nicht erfolgt. Der Sachverständige begründet seine Beurteilung im Wesentlichen damit, dass bereits bei Rentenantragstellung ein (damals noch unerkanntes) CFS vorlag. Diese Begründung ist aber schon deshalb nicht ausreichend, weil es sich bei dem CFS um eine Erkrankung mit schleichendem Verlauf und wechselnder Symptomatik handelt und sich deshalb rückblickend außerordentlich schwierig feststellen lässt, wann eine dadurch bedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit in einem solchen Maße besteht, dass auch leichte körperliche Arbeiten nicht mehr sechs Stunden täglich und mehr verrichtet werden können. Dies macht U. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25.09.2022 eindrücklich deutlich und gelangt deshalb zu Recht zu dem Ergebnis, dass die von V. vertretene Auffassung, beim Kläger sei bereits 2015 ein aufgehobenes Leistungsvermögen gegeben gewesen, reine Spekulation sei. Auch der Sachverständige V. führt hinsichtlich des von ihm diagnostizierten CFS selbst aus, dass entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Leistungsvermögens nicht die Diagnose, sondern die Ausprägung der Einschränkung ist, wird dieser eigenen Vorgabe aber nicht gerecht, weil er sich nicht damit auseinandersetzt, dass sich nach den vorliegenden Befunden der Schweregrad des CFS und die sich hieraus ergebenden Leistungseinschränkungen im Verlauf der Erkrankung deutlich verschlechtert haben.

Auch der Sachverständige L. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.06.2022 nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, dass allein die Diagnose eines CFS wenig aussagekräftig sei und nur die resultierenden Einschränkungen in Bezug auf die Aktivität und Teilhabe für eine Leistungsbeurteilung maßgeblich sein können. Dabei müsse, auch wenn es sich möglicherweise um eine organische Gesundheitsstörung handele, gewährleistet sein, dass die üblichen Kriterien der sozialmedizinischen Begutachtung auf dem neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet gewahrt seien. Es sei deshalb zu fordern, dass die sich aus der Gesundheitsstörung resultierenden Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe herausgearbeitet und adäquate Verfahren zur Objektivierung eingesetzt werden, mit denen kognitive Beeinträchtigungen, aber auch Erschöpfungs- und Ermüdungserscheinungen im zeitlichen Verlauf dokumentiert werden. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang ergänzend auf die aktuellen Leitlinien zur Begutachtung des Post-Covid-Syndroms verwiesen. Bei diesem Syndrom handele es sich um ein sehr ähnliches Krankheitsbild. Auch in diesen Leitlinien werde gefordert, dass adäquate Verfahren zur Objektivierung eingesetzt werden.

Gerade vor dem Hintergrund dieser Feststellungen ist aber eine Beschwerdevalidierung, die der Sachverständige V. nicht in ausreichendem Maße vorgenommen hat, zwingend erforderlich. Dies gilt insbesondere auch für eine rückwirkende Feststellung der Leistungsminderung, wenn sich – wie hier – aus dem dokumentierten Krankheitsverlauf deutliche Hinweise für eine Verschlechterung der bestehenden Symptomatik ergeben. Diesbezüglich haben bereits die vom Kläger selbst geschilderten Einschränkungen im Verlauf des seit 2016 geführten Klage- und Berufungsverfahrens gegenüber den verschiedenen Sachverständigen deutlich zugenommen. Der gegenüber V. geschilderte ausgeprägte soziale Rückzug, der Zustand tagelanger Bewegungsunfähigkeit und ständiger Erschöpfung wird in den Vorgutachten, insbesondere in dem zeitnah vor November 2016 erstellten Gutachten des Sachverständigen L., nicht in vergleichbarer Weise beschrieben. Auch die Mutter des Klägers beschreibt in einer Stellungnahme vom 20.04.2019, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers nach einem MRT im Januar 2019 erheblich verschlechtert habe. Bei ihm ist daraufhin erstmalig ab dem 01.04.2019 der Pflegegrad 1 anerkannt worden ist, der zum 01.06.2020 auf den Pflegegrad 2 und zum 10.12.2020 auf den Pflegegrad 3 erhöht worden ist. Erst seit Dezember 2020 wird vom Kläger zudem nach eigenen Angaben ein Rollstuhl und ein Rollator benutzt, zuvor soll beim Verlassen des Hauses der Rollator oder Rollstuhl des Großvaters ausgeliehen worden sein. Die Nutzung entsprechender Hilfsmittel wird aber erstmalig von den Sachverständigen B. und W. beschrieben. In allen Vorgutachten wird die Nutzung eines entsprechenden Hilfsmittels nicht dokumentiert. Auch eine Einschränkung der Wegefähigkeit wird erstmalig von V. festgestellt. In allen Vorgutachten, auch in dem Gutachten des Sachverständigen X. aus Januar 2019 wird eine solche Einschränkung ausdrücklich verneint. Auch über eine bestehende Antriebslosigkeit berichtet der Kläger gegenüber dem Sachverständigen L. gerade nicht. Die neuropsychologische Testung erbrachte im Rahmen dieser Begutachtung noch keine kognitiven Leistungseinbußen, die die Sachverständige B. bei ihrer umfangreichen neuropsychologischen Untersuchung, die allerdings erst mehrere Jahre später erfolgte, feststellen konnte. Die hierdurch nach ihrer Beurteilung aktuell bestehende deutliche Reduzierung der geistigen Leistungsfähigkeit und Allgemeinbelastbarkeit kann nach Aussage der Sachverständigen aber unter anderem auch auf einer zunehmenden depressiven Symptomatik und einer hierdurch bedingten Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit beruhen. Es spricht deshalb viel dafür, dass sich jedenfalls der Schweregrad des CFS und damit auch die sich hieraus ergebenden Leistungseinschränkungen im Verlauf der Erkrankung deutlich verschlechtert haben. Auf welcher Grundlage V. dennoch davon ausgeht, dass die von ihm im Rahmen seiner Untersuchung festgestellten Einschränkungen, die sich in vergleichbarer Weise auch nicht in dem Bericht der Schmerz- und Palliativklinik Dortmund zeigen, in unveränderter Weise bereits seit Rentenantragstellung vorgelegen haben, wird von ihm – auch in der vom Senat im Berufungsverfahren eingeholten ergänzenden Stellungnahme – nicht mit der erforderlichen Konkretisierung begründet. V. hat lediglich darauf verwiesen, dass sich aus der Anamneseerhebung ergebe, dass der Kläger bereits seit 2014 mittelschwere bis schwere CFS-Beschwerden habe und praktisch an das Haus oder Bett gefesselt gewesen sei. Dies ergibt sich aus den Angaben des Klägers im damaligen Zeitpunkt und aus den aktenkundigen Befunden aber gerade nicht.

Weitergehende Ermittlungen, insbesondere die Einholung eines weiteren Gutachtens durch einen CFS-erfahrenen Sachverständigen hält der Senat nicht für erforderlich. Er stützt sich dabei auf die Stellungnahmen der Sachverständigen L. und U. und geht davon aus, dass ein solches Gutachten keine weiteren Erkenntnisse für die hier allein maßgebliche Frage erbringen kann, ob der Kläger bereits 2016 erwerbsgemindert war.

Dem vom Kläger hilfsweise gestellten Antrag, ihm einen Schriftsatz nachzulassen, war nicht zu entsprechen, weil seinem Anspruch auf rechtliches Gehör bereits durch die umfangreiche Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung hinreichend Rechnung getragen worden ist und die Beteiligten darüber hinaus im Vorfeld dieser Verhandlung ausreichend Gelegenheit dazu hatten, sich zu den im Berufungsverfahren eingeholten ärztlichen Stellungnahmen schriftlich zu äußern. Der Inhalt dieser Stellungnahmen war neben den sonstigen aktenkundigen Vorgängen maßgeblich für die vom Senat getroffene Einschätzung. Der Gewährung einer weiteren Schriftsatzfrist bedurfte es deshalb nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.

Rechtskraft
Aus
Saved