L 20 SO 248/24 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 28 SO 196/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 SO 248/24 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.08.2024 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vom 00.00.0000 bis zum Ende des Monats der Zustellung der Entscheidung des Senats weitere Leistungen für die Individualbegleitung der Antragstellerin zum Besuch der Kindertagesstätte in einem Umfang von bis zu 17,5 Wochenstunden zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zur Hälfte.

 

Gründe:

I.

 

Die Antragstellerin begehrt im Wege des Eilrechtsschutzes weitere Leistungen für eine Individualbegleitung während des Besuchs einer Kindertagesstätte (Kitaassistenz).

 

Die 0000 geborene Antragstellerin (GdB 50; Merkzeichen „G“) ist seit 00.00.0000 – ihrem dritten Lebensjahr – an Diabetes Mellitus Typ I erkrankt. Das notwendige Insulin erhält sie mittels einer Insulinpumpe über einen Sensor, der auf ihrem Oberschenkel angebracht ist. Die Antragstellerin besucht seit August 2022 eine Städtische Tageseinrichtung für Kinder in E. in einem Umfang von maximal 35 Stunden pro Woche; die vereinbarte Betreuungszeit umfasst 45 Wochenstunden. In der Kita werden ca. 120 Kinder in einem offenen pädagogischen Konzept betreut, d.h. sie können das gesamte Bildungsangebot in der Einrichtung nutzen und sich dort nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen bewegen.

 

Am 13.04.2023 beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner durch ihren Vater eine Assistenzkraft für den Besuch der Kita. Anlässlich der Antragstellung legte er u.a. eine Stellungnahme der Kita zur Notwendigkeit einer Assistenzkraft vom 08.05.2023 sowie (Folge-)Verordnungen über häusliche Krankenpflege für die Zeit ab dem 02.05.2023 vor. Darin werden jeweils dreimal am Tag an fünf Tagen pro Woche Insulininjektionen und Blutzuckermessungen verordnet. Als sonstige Maßnahmen der Behandlungspflege werden in den Verordnungen Krankenbeobachtung und Unterstützung im Diabetes-Manage­ment während der gesamten Kitazeit als Individualleistung für notwendig erachtet.

 

Durch Bescheide vom 09.06.2023 und 21.03.2024 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin für die Zeit vom 00.00.0000 längstens bis zum Schuleintritt heilpädagogische Leistungen in Form der sog. Basisleistung I gemäß § 99, § 113 Absatz 2 Nummer 3, Absatz 3, § 79 SGB IX und § 53 SGB XII. Durch weiteren Bescheid vom 09.06.2023 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin vom 00.00.0000 bis zum 00.00.0000 eine Assistenz zum Besuch einer Kita als individuelle heilpädagogische Leistung im Umfang von regelmäßig 35 Stunden pro Woche durch eine Nichtfachkraft. Der Krankenversicherungsträger beteiligt sich mit einem Betrag von maximal 12,55 € pro Insulingabe für insgesamt drei Insulingaben pro Kitatag an den damit verbundenen Kosten, die er dem Antragsgegner erstattet.

 

Seit 00.00.0000 wird die Kitaassistenz von Frau C., einer Mitarbeiterin des Trägers N. GmbH, geleistet. Die durchschnittliche Wochenstundenzahl der Begleitung belief sich von 00.00.0000 bis 00.00.0000 auf mindestens 16,79 (im 00.00.0000) und höchstens 28,87 (im 00.00.0000).

 

Auf den Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin aus März 2024 gewährte der Antragsgegner mit Bescheid vom 02.05.2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2024 für den Zeitraum vom 00.00.0000 bis 00.00.0000 Leistungen der Individualbegleitung (Kitaassistenz) lediglich noch in einem Umfang von regelmäßig 17,50 Wochenstunden. Grundlage waren ein Bedarfsermittlungsgespräch mit dem Vater der Antragstellerin sowie ein Bericht von zwei Mitarbeiterinnen des Antragsgegners über eine am 00.00.0000 erfolgte Hospitation in der Kita. Auf den Inhalt des Berichts wird Bezug genommen. Die gegen die Bescheide am 04.09.2024 erhobene Klage ist beim Sozialgericht Düsseldorf anhängig.

 

Am 21.05.2024 hat die Antragstellerin vor dem Sozialgericht Düsseldorf um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und für die Zeit ab Juni 2024 die Ausweitung der Kita-Assistenz auf 45 Stunden pro Woche begehrt. Es sei geplant, dass sie die Kita zukünftig – wie im Betreuungsvertrag mit dem Kitaträger vereinbart – in einem Umfang von 45 Wochenstunden besuche. Zum einen wolle die Mutter der Antragstellerin ihre Arbeitszeit entsprechend ausweiten. Zum anderen solle die Antragstellerin mehr soziale Interaktion erfahren und hierdurch in ihrer Entwicklung profitieren. Die seit Juni 2024 erfolgte Reduzierung der bewilligten Leistungen um 50 % (von 35 auf 17,5 Wochenstunden) sei nicht nachvollziehbar und willkürlich. Nach wie vor könne die Antragstellerin die wegen der Diabeteserkrankung erforderlichen Maßnahmen altersbedingt nicht selbst vornehmen. Im Tagesverlauf träten erhebliche Schwankungen des Blutzuckerspiegels auf. Die Stoffwechsellage sei schwer regulierbar. Es bestehe die Gefahr von Hyper- und Hypoglykämien. Die Mitarbeiter der Kita seien nicht in der Lage, die insoweit erforderlichen Hilfen zu leisten. Abweichend von der Behauptung des Antragsgegners kämen der Antragstellerin keine Fachkraftstunden zugute, welche der Kita als sog. Basisleistung I für Kinder mit erhöhtem Betreuungsaufwand erhalte. Die Kita könne diese Fachkraftstunden aufgrund des offenen Konzepts nicht eigens für die Antragstellerin einsetzen. Dass die in der Vergangenheit bewilligten 35 Stunden / Woche im Monatsmittel nicht immer ausgenutzt worden seien, sei unerheblich. Grund hierfür seien im Übrigen Feier- und Brückentage, Krankheiten sowie Fehlzeiten der Kita-Assistentin. Zudem habe die Antragstellerin während der Kita-Zeit mitunter Termine in der Diabetessprechstunde. Der Erlass der begehrten gerichtlichen Regelung sei eilbedürftig; denn im Hinblick auf die mit einer Unterzuckerung verbundenen Gefahren sei es der Antragstellerin nicht zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Zudem bestehe die Gefahr, dass Frau C., der die Antragstellerin vertraue, bei einer Arbeitszeit von nur 17,5 Stunden pro Woche kündige, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr sicherstellen könne. Zur Glaubhaftmachung ihres Vorbringens hat die Antragstellerin u.a. Stellungnahmen der Kita vom 27.11.2023, der Einrichtungsleiterin Frau R. vom 13.06.2023, der Assistenzkraft Frau C. (ohne Datum) sowie eine eidesstattliche Versicherung der Eltern der Antragstellerin vom 18.06.2024 vorgelegt. Auf den Inhalt der Unterlagen wird Bezug genommen.

 

Die Antragstellerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

 

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab dem 00.00.0000 Leistungen der Individualbegleitung während der Dauer ihres Kita-Besuches in einem Umfang von 45 Stunden pro Woche zu gewähren.

 

Der Antragsgegner hat schriftlich beantragt,

 

den Antrag abzulehnen.

 

Er hat die Auffassung vertreten, die Antragstellerin habe schon nicht glaubhaft gemacht, dass ihr über die zuerkannten Leistungen von 17,5 Stunden pro Woche hinaus weitere Leistungen der Individualbetreuung zustünden (= Anordnungsanspruch i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Kita erhalte zur Abgeltung von Personal- und Sachkosten pro Kind eine sog. Kindpauschale, die für Kinder mit einer (drohenden) Behinderung – wie die Antragstellerin – um mindestens 100% erhöht sei. Darüber hinaus erhalte die Kita für die Antragstellerin und drei weitere Kinder die sog. Basisleistung I, also insgesamt 48 zusätzliche Fachkraftstunden (zwölf Fachkraftstunden pro Kind). Für die Antragstellerin stünden somit 29,50 Std./Woche (zwölf Fachkraftstunden zuzüglich der zuerkannten 17,5 Stunden Kita-Assistenz) an zusätzlicher Betreuung zur Verfügung. Da die Antragstellerin bisher im Durchschnitt nur 22,78 Stunden pro Woche, also 65 % der bewilligten Stunden an zusätzlicher Betreuung in Anspruch genommen habe, sei davon auszugehen, dass ihr Bedarf mit den zuerkannten Leistungen gedeckt sei. Ein höherer Bedarf ergebe sich auch nicht aus der am 00.00.0000 erfolgten Hospitation in der Kita durch zwei Mitarbeiterinnen des Antragsgegners. Folglich sei es der Antragstellerin auch zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (= Anordnungsgrund i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG), zumal nicht erkennbar sei, dass sich der künftige Bedarf deutlich ändere.

 

Durch Beschluss vom 22.08.2024 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragstellerin habe nicht glaubhaft gemacht, während des Kita-Besuchs neben der erhöhten Kindspauschale und der Basisleistung I (12 Stunden pro Woche) eine Individualbegleitung in einem Umfang von mehr als 17,5 Stunden pro Woche beanspruchen zu können (= Anordnungsanspruch i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Schon der Betreuungsvertrag über eine Betreuungszeit von 45 Stun­den pro Woche in der Kita sei seitens der Antragstellerin bislang nicht annähernd ausgenutzt worden. Bei der Hospitation am 00.00.0000 sei zudem deutlich geworden, dass die Antragstellerin am täglichen Kita-Ablauf teilnehme. Bei Aktivitäten außerhalb der Einrichtung werde häufig ein Bollerwagen verwendet, in dem die Antragstellerin Platz nehmen und sich ausruhen könne, falls eine Unterzuckerung drohe. Zudem sei von den Hospitantinnen festgehalten worden, dass die Antragstellerin sich mitunter noch freier in den Räumen der Kita bewegen könnte und ihr nicht immer eine konkrete Person folgen müsse. Sofern die Kita die zwölf Fachkraftstunden pro Woche nicht für die Begleitung der Antragstellerin nutze, rechtfertige dies keinen höheren Bedarf gegenüber dem Antragsgegner. Ob und in welchem Umfang die Mutter der Antragstellerin die wöchentliche Arbeitszeit erhöhen werde, sei im Übrigen noch völlig ungewiss. Auch die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung sei nicht glaubhaft gemacht (Anordnungsgrund i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe der Entscheidung Bezug genommen.

 

Gegen den ihrem Bevollmächtigten am 23.08.2024 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 04.09.2024 Beschwerde eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, behinderungsbedingt eine Individualbegleitung beim Besuch der Kita im Umfang von bis zu 45 Stunden pro Woche beanspruchen zu können. Im Juni 2024 habe Frau C. die Antragstellerin durchschnittlich 29,75 Wochenstunden, im Juli 2024 33,94 Wochenstunden, im August 2024 30,5 Wochenstunden und im September 17,5 Wochenstunden in der Kita begleitet. Aus welchen Gründen sich der Bedarf bei der jetzt 4,25 Jahre alten Antragstellerin ab Juni 2024 halbiert haben solle, sei nicht ersichtlich und werde auch vom Antragsgegner nicht vorgetragen. Nach dem Ergebnis der Hospitation vom 00.00.0000 bestehe bei der Antragstellerin vielmehr aktuell unstreitig ergänzender sozialer Teilhabebedarf, insbesondere als Folge ihrer körperlichen Diabeteserkrankung. Bis sich die Antragstellerin auf Grundlage ihrer kognitiven und motorischen Fähigkeiten ausreichend selbst versorgen könne, sei weiterhin Anleitung durch eine Bezugsperson erforderlich. Unterstützungsbedarf entfalle vor allem auch auf die Überwachung, Kontrolle und Einstellung der Blutzuckerwerte. Zudem sei die Antragstellerin altersbedingt einer besonderen Risikogruppe für Hypoglykämien zuzuordnen und der Gefahr bleibender Hirnschädigungen ausgesetzt. Nur eine einzige schwere Hypoglykämie, aber auch stark schwankende Blutzuckerwerte könnten bei Kindern mit noch nicht ausgereiftem Gehirn nach internationalen Studien zu bleibenden Schäden in den kognitiven Funktionen führen. Eine Hypoglykämie bahne zudem den Weg für weitere Hypoglykämien. Viele Hypoglykämien reduzierten die hormonelle Gegenregulation sowie die Wahrnehmung, so dass das Risiko für Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen und schwere Hypoglykämien steige. Unerheblich sei, dass der Antragsgegner die Kosten der Individualbegleitung der Antragstellerin teilweise aus dem „Topf“ für Fachkraftstunden (Basisleistung I) finanzieren wolle; denn diese Fachkraftstunden stelle die Kita tatsächlich nicht für die Individualbegleitung der Antragstellerin zur Verfügung. Unerheblich sei, ob es sich bei der begehrten Assistenz (auch) um Behandlungspflege i.S.v. § 37 Abs. 2 SGB V handele. Da der Antragsgegner den Antrag auf eine Kita-Assistenz nicht binnen zwei Wochen an den Krankenversicherungsträger oder die Stadt E. als zuständiger Leistungserbringer der Basisleistung I weitergeleitet habe, sei er nach §§ 14, 15 SGB IX als erstangegangener Rehabilitationsträger sachlich und örtlich für die Leistungserbringung zuständig. Im Übrigen sei der Antragsgegner ohnehin für Folgeanträge zuständig, wenn er – wie hier – schon über den Erstantrag entschieden habe.

 

Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.08.2024 zu ändern und

 

1. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen der Individualbegleitung für den gesamten Kita-Besuch bis zu 45 Stunden/Woche zu gewähren.

 

2. hilfsweise,

die Stadt E. (nach Beiladung) im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen der Individualbegleitung in einem Umfang von zwölf Stunden/Woche (sog. Basisleistung I) während des Kita-Besuches der Antragstellerin zu gewähren, sowie

 

3. höchst hilfsweise,

die O. Krankenkasse (nach Beiladung) im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen der Individualbegleitung in einem Umfang von 27,5 Stunden/Woche (45 Wochenstunden abzgl. der vom Antragsgegner zuerkannten 17,5 Wochenstunden) während des Kita-Besuchs der Antragstellerin zu gewähren.

 

Der Antragsgegner beantragt schriftlich,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Er hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

 

II.

 

Die zulässige Beschwerde ist in dem tenorierten Umfang begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht vollumfänglich abgelehnt. Die Antragstellerin kann von dem Antragsgegner vom 00.00.0000 bis zum Ende des Monats der Zustellung der Entscheidung des Senats – über die zuerkannten 17,5 Wochenstunden hinaus – weitere Leistungen der Individualbegleitung für die Zeit des Besuchs der Kita in einem Umfang von bis zu (weiteren) 17,5 Stunden pro Woche, höchstens also für 35 Wochenstunden beanspruchen.

 

1. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich sind danach die Glaubhaftmachung (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) eines sog. Anordnungsanspruchs (d.h. des geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruchs) sowie eines sog. Anordnungsgrundes (i.S. einer Eilbedürftigkeit für eine gerichtliche Regelung). In der Regel findet eine summarische Prüfung statt; können jedoch ohne Eilrechtsschutz schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung des Anordnungsanspruchs vorzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 24 f.). Bleibt der Ausgang einstweilen offen, muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, welche die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG, a.a.O. Rn. 26).

 

a) Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, von dem Antragsgegner über die bereits zuerkannten Leistungen der Individualbegleitung in einem Umfang von 17,5 Stunden hinaus – je nach Anwesenheitszeit in der Kita – Leistungen für maximal weitere 17,5 Stunden pro Woche beanspruchen zu können (= Anordnungsanspruch i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

aa) Bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung ist der Antragsgegner zumindest im Außenverhältnis gegenüber der Antragstellerin sachlich und örtlich für die Leistungserbringung zuständig, was von ihm auch nicht in Abrede gestellt wird. Die Zuständigkeit des Antragsgegners als erstangegangener Rehabilitationsträger dürfte sich bereits aus § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX ergeben, weil er den Antrag auf Weiterbewilligung der Kitaassistenz vom 19.03.2024 nicht innerhalb von zwei Wochen an einen anderen, aus seiner Sicht zuständen Träger weitergeleitet hat. Selbst wenn es sich bei dem Antrag auf Kitaassistenz nicht zumindest auch um einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe i.S.v. § 14 Abs. 1 SGB IX, sondern (ausschließlich) um einen Antrag auf Behandlungspflege i.S.v. § 37 Abs. 2 SGB V handeln sollte (vgl. hierzu im Einzelnen u.a. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 09.01.2019 – L 9 SO 219/18 B ER Rn. 6 ff.; Sozialgericht Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 14.07.2023 – S 5 KR 3247/22 Rn. 31 ff.; Sozialgericht Freiburg, Beschluss vom 05.12.2022 – S 9 SO 3201/22 ER Rn. 21 ff.), für den der ggf. im Hauptsacheverfahren beizuladende Träger der Krankenversicherung zuständig wäre, ist der Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin auf Leistungen der Individualbegleitung im Übrigen ein Folgeantrag für die Zeit ab Juni 2024, der – vorbehaltlich einer abschließenden Prüfung im Hauptsacheverfahren – als einheitlicher Leistungsfall vom ursprünglich leistenden Träger, hier also dem Antragsgegner, zu bescheiden sein dürfte (vgl. Ulrich in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., § 14 SGB IX <Stand: 01.10.2023>, Rn. 58 m.w.N.; Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 03.09.2020 – L 1 KR 95/20 B ER Rn. 9 ff.). Denn der Antragsgegner hatte der Antragstellerin auf deren (Erst-)Antrag aus April 2023 bereits für die vorausgegangene Zeit (vom 00.00.0000 bis zum 00.00.0000) entsprechende Leistungen (wenn auch in einem Umfang von damals noch 35 Stunden pro Woche) bewilligt (vgl. den Bescheid vom 09.06.2023 und 21.03.2024) und sich im Übrigen schon seinerzeit als überörtlicher Träger der Eingliederungshilfe nach § 94 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 1 Abs. 1 AG-SGB IX NRW auch (intern) für zuständig erachtet.

 

bb) Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Antragstellerin gemäß §§ 99, 102 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX dem Grunde nach auch über Mai 2024 hinaus Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Kita-Assistenz hat. Die Antragstellerin ist aufgrund ihrer Diabeteserkrankung und darauf beruhenden Einschränkungen ihrer Teilhabe i.S.v. § 99 SGB IX i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich behindert. Die begehrte Leistung ist – sei es gemäß § 113 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. 79 SGB IX als heilpädagogische Leistung oder nach § 113 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 78 SGB X als Assistenzleistung – grundsätzlich geeignet, die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen, und auch nach Auffassung des Antragsgegners ist sie jedenfalls in einem Umfang von 17,5 Wochenstunden erforderlich.

 

cc) Anders als der Antragsgegner meint, hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass ihr über die zuerkannte Individualbegleitung von 17,5 Stunden pro Woche hinaus – je nach tatsächlicher Dauer des Besuchs der Tagesstätte – ab dem 00.00.0000 weiterhin bis zu 17,5 weitere Wochenstunden Kita-Assistenz zustehen. Da der Antragsgegner für die Leistungserbringung im Außenverhältnis insgesamt, also auch für einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach §§ 27 Abs. 1 und 2 Nr. 4 i.V.m. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V, zuständig ist (s.o.), kann insofern offenbleiben, ob und ggf. in welchem Umfang es sich bei der begehrten Individualbegleitung um Leistungen der sozialen Teilhabe oder um häusliche Krankenpflege handelt, für welche (im Innenverhältnis) der Krankenversicherungsträger leistungspflichtig ist. Denn es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin einer Begleitung behinderungsbedingt während des gesamten Kitabesuchs bedarf.

 

Nach den von der Antragstellerin vorgelegten medizinischen Unterlagen (vgl. u.a. die laufenden ärztlichen Verordnungen) sowie vor allem dem Bericht der Individualbegleiterin Frau C. benötigt die Antragstellerin aufgrund ihres Alters während des gesamten Kitaalltags nach wie vor eine engmaschige Überwachung und Kontrolle sowie eine Unterstützung bei den insofern notwendigen Maßnahmen. So ist bei Über- oder Unterzuckerung ein sofortiges Handeln notwendig. Bei hohen Blutzuckerwerten muss die Antragstellerin oft über einen längeren Zeitraum sportlich beschäftigt werden; bei Unterzuckerung benötigt sie neben Ruhephasen zur Stabilisierung Traubenzucker oder Apfelsaft. Frühstück und Mittagessen müssen abgewogen werden, um je nach Stand des Blutzuckers Insulin zuzuführen. Aufgrund altersbedingt stark schwankender Blutzuckerwerte bedarf es ca. im Viertelstundentakt einer Blutzuckerwertkontrolle auf dem Smartphone. Bei Toilettengängen benötigt die Antragstellerin Hilfe beim Anziehen, damit der auf dem Oberschenkel angebrachte Sensor und der Katheter nicht abfallen (vgl. im Einzelnen den Bericht der Individualbegleiterin Frau C.). Gerade wegen des offenen, pädagogischen Konzepts der Kita, in der die Antragstellerin das gesamte Angebot an Bildungsangeboten in der Einrichtung nutzen und sich im gesamten Haus nach ihren Wünschen und Bedürfnissen bewegen kann, ist es plausibel, dass sie ständiger Beobachtung und Begleitung durch eine Assistenzkraft bedarf (vgl. dazu auch die Stellungnahme der Kitaleiterin R. vom 13.06.2024).

 

Eine abweichende Beurteilung lässt sich der individuellen Bedarfsermittlung des Antragsgegners für die Zeit von 00.00.0000 bis 00.00.0000 nicht entnehmen. Insbesondere wird nicht erkennbar, woraus sich die bewilligte Wochenstundenzahl von nunmehr nur noch 17,5 Stunden an notwendiger Assistenz herleitet. Gleiches gilt für den Bericht über die Hospitation in der Kita vom 00.00.0000. Darin wird der reduzierte Assistenzumfang im Wesentlichen damit begründet, dass dem Unterstützungsbedarf der Antragstellerin bereits durch die erhöhte KiBiz-Pauschale und die Basisleistung I Rechnung getragen werde. Insofern muss der Senat einstweilen nicht entscheiden, ob die Kita – wie der Antragsgegner meint – verpflichtet ist, die zusätzlichen zwölf Fachkraftstunden pro Woche aus der Basisleistung I für die Individualbegleitung der Antragstellerin einzusetzen. Denn eine derartige (bloße) Verpflichtung verringert den Bedarf der Antragstellerin nicht; entscheidend ist vielmehr, ob der Bedarf tatsächlich gedeckt wird (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII). Nach den Angaben der Kita vom 27.11.2023 und der eidesstattlichen Versicherung der Eltern der Antragstellerin kommt die Basisleistung I der Antragstellerin im Rahmen des Kita-Besuchs aber bisher tatsächlich nicht im Sinne einer individuellen Begleitung zugute. Die Kita hat insofern in der Stellungnahme vom 27.11.2023 ausdrücklich ausgeführt, dass die Ressourcen für eine umfassende Unterstützung durch eine pädagogische Fachkraft nicht vorhanden seien, weil die pädagogischen Mitarbeiter der Einrichtung während des Tagesverlaufes die Verantwortung für alle Kinder trügen und mit zahlreichen anderen Aufgaben betraut seien.

 

Dass das Auskleiden – so der Hospitationsbericht – „sicherlich“ auch bei dem einen oder anderen gesunden Kind begleitet werden muss, ist im Übrigen eine reine Vermutung der beiden Hospitantinnen. Der Unterstützungsbedarf der Antragstellerin beim An- und Auskleiden bzw. bei einem Toilettengang beruht jedenfalls auf der Behinderung der Antragstellerin, weil der Sensor und der Katheter für die Insulingabe am Oberschenkel angebracht sind (s.o.) und daher beim Umkleiden besondere Sorgfalt geboten ist. Die weitere Überlegung im Hospitationsbericht, die Fachkräfte der Kita – ggf. aus Mitteln der Basisleistung I – im Umgang mit einer Diabeteserkrankung zu schulen, mag durchaus berechtigt sein. Solange eine solche Schulung jedoch nicht erfolgt ist, kann die Antragstellerin auch hierauf nicht verwiesen werden. Eine Übergabe technischer Hilfsmittel (etwa des Smartphones) an andere Betreuer zur Überwachung der Insulinwerte, wenn die Antragstellerin einen Raum wechselt, scheidet daher gegenwärtig ebenfalls von vornherein aus.

 

dd) Einen über den Umfang von 35 Wochenstunden hinausgehenden Anspruch auf Individualbegleitung hat die Antragstellerin hingegen nicht glaubhaft gemacht. Es ist zwar für den hier in Rede stehenden Zeitraum ab 00.00.0000 nicht entscheidungserheblich, dass die Antragstellerin die bis 00.00.0000 zuerkannten Leistungen – wegen geringerer Anwesenheitszeiten in der Kita – nicht ausgeschöpft hat. Bislang besucht die Antragstellerin die Kita jedoch lediglich in einem Umfang von maximal 35 Wochenstunden. Die bloße Absicht, den Kitabesuch auf 45 Wochenstunden zu erweitern, etwa weil die Mutter der Antragstellerin ihre Erwerbstätigkeit zu einem aktuell noch ungewissen Zeitpunkt ausweiten will und/oder der Antragstellerin mehr soziale Teilhabe ermöglicht werden soll, begründet noch keinen Anspruch auf eine entsprechende Individualbegleitung. Leistungen für die (naturgemäß ungewisse) Zukunft können im Wege eines Eilverfahrens nicht zugesprochen werden.

 

b) Die Antragstellerin hat schließlich glaubhaft gemacht, dass es ihr unzumutbar ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund i.S.v. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Eilbedürftigkeit ergibt sich bereits daraus, dass die Antragstellerin sich im Alter von ca. 4,25 Jahren in einer wichtigen Entwicklungsphase befindet, in der soziale Interaktion mit anderen Kindern von erheblicher Bedeutung ist. Es ist dem Träger N. GmbH zudem nicht zumutbar, die Begleitung der Antragstellerin über die vom Antragsgegner finanzierten 17,5 Wochenstunden hinaus bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin ohne Gegenleistung zu erbringen, zumal der Träger nach dem glaubhaften Vorbringen der Antragstellerin bereits angekündigt hat, die Assistenz bei negativem Ausgang des Eilverfahrens einzustellen.

 

c) Der Senat beschränkt die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners auf das Ende des Monats der Zustellung der gerichtlichen Entscheidung, damit etwaigen Änderungen der Sach- und Rechtslage Rechnung getragen werden kann. Er geht jedoch davon aus, dass der Antragsgegner die einstweilen zuerkannten Leistungen bei unveränderter Sach- und Rechtslage – bzw. bei Ausweitung des Kitabesuchs auch weitergehende Leistungen – bis zu einem Umfang von 45 Wochenstunden über jenen Zeitpunkt hinaus erbringt. Anderenfalls ist es der Antragstellerin unbenommen, erneut einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

 

2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

3. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

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