S 33 U 109/24

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 33 U 109/24
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Beruht die Übertragungsgefahr des Covid-19-Virus bei der versicherten Tätigkeit insbesondere auf einer hohen Anzahl an übertragungsgeeigneten Gesprächskontakten, ist im Hinblick auf die für die Anerkennung der BK-Nr.3101 der Anlage zur BKV erforderlichen besonderen Infektionsgefah" gegenüber der allgemeinen Bevölkerung der Stand der Pandemie (insb. das Vorliegen von Ausgangsbeschränkungen) im Inkubationszeitraum ein wesentliches Kriterium."

 

I. Unter Aufhebung des Bescheids vom 12.10.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.02.2024 wird die Covid-19-Infektion der Klägerin, nachgewiesen mit PCR-Test vom 04.01.2021, als BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV festgestellt.

II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.


T a t b e s t a n d :

Streitig war die Anerkennung einer Covid-19-Infektion als BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) ("Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war").
Die am 1980 geborene Klägerin wurde mit PCR-Test vom 04.01.2021 positiv auf das Corona-Virus getestet.
Mit Bescheid vom 12.10.2022 wurde die Anerkennung einer BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV abgelehnt. Eine konkrete Indexperson habe die Versicherte nicht benennen können.
Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2024 zurückgewiesen. Die bloße Möglichkeit einer beruflichen Ansteckung reiche für den Nachweis nicht aus.
Hiergegen ließ die Klägerin am 14.03.2024 Klage erheben.
Die Klägerin sei in einer Apotheke als pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin angestellt und daher einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt gewesen. Es habe zum damaligen Zeitpunkt noch keine Impfung gegeben und das Tragen einer FFP2-Maske sei noch nicht üblich gewesen. Anfang Januar sei die Klägerin an Covid-19 erkrankt. Sie habe sich bis heute nicht davon erholt.
Auf gerichtliche Nachfrage führte die Klägerbevollmächtigte weiter aus, dass die Klägerin bei einigen Ärzten mit Symptomen im Beratungszimmer der Apotheke nur unter Nutzung einer Maske Tests durchgeführt habe.
Auf eine weitere gerichtliche Nachfrage konnten die Ärzte namentlich nicht benannt werden. Die Klägerin habe auch bei der Ausgabe der FFP2-Masken unmittelbaren Kontakt mit den Kunden gehabt. Zwischen dem 15.12.2020 und dem 31.12.2020 sei kein Kontakt mit einer infizierten Person im privaten Umfeld bekannt. Die Weihnachtsfeiertage und Silvester habe die Klägerin mit ihrem Mann zuhause verbracht. Der Ehemann sei damals wegen einer Knie-OP im Krankenstand gewesen und habe das Haus sowieso nicht verlassen können.
Das Verfahren wurde am 21.01.2025 zur mündlichen Verhandlung geladen. Vernommen wurden die Inhaberin der Apotheke, S., sowie der Ehemann der Klägerin, A., als Zeugen. Auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung wird verwiesen.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragte,

den Bescheid vom 12.10.2022 in der Gestalt des Widerspruchbescheids der Beklagten vom 15.02.2024 aufzuheben und festzustellen, dass die Erkrankung der Klägerin (Covid- 19 Infektion) im Januar 2021 eine Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung ist.

Die Beklagtenvertreterin beantragte,

die Klage abzuweisen.

Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Klage war begründet. Ihr war daher stattzugeben.
1. Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht gemäß §§ 87, 90, 92 SGG beim zuständigen Sozialgericht München eingelegt und ist zulässig.
Die Möglichkeit, auch eine (kombinierte Anfechtungs- und) Verpflichtungsklage auf Verpflichtung zur Feststellung einer Unfall- oder Berufskrankheitsfolge oder zur Feststellung eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit durch den Beklagten zu erheben, schließt nach der Rechtsprechung eine (mit einer Anfechtungsklage kombinierte) Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 3 SGG nicht aus (Meyer-Ladewig/Keller Leitherer/Schmidt, SGG Kommentar, 14. Auflage, § 55 Rn. 13c). Der Kläger/die Klägerin kann nach der Rechtsprechung wählen, welche dieser in Betracht kommenden Klagen er/sie erhebt (BSG, Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 31/11 R, Juris Rn. 17).
2. Die Klage war nach Würdigung der Beweisaufnahme vom 21.01.2025 zur Überzeugung der Kammer auch begründet.
Der Bescheid vom 12.10.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.02.2024 ist rechtswidrig und war aufzuheben. Die Covid-19-Infektion der Klägerin, nachgewiesen durch PCR-Test vom 04.01.2021, war als Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII, BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV festzustellen.
Rechtsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 9 Abs. 1 SGB VII i. V. m. der BK Nr. 3101. Der Verordnungsgeber hat die BK 3101 wie folgt bezeichnet: "Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war". Diese Listen-BK ist als Versicherungsfall (§ 7 Abs. 1 SGB VII) festzustellen, wenn Versicherte sie infolge einer Tätigkeit erleiden, die Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründet (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).
Dafür ist nach ständiger Rechtsprechung erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall; stRspr z. B. BSG Urteile vom 30.03.2023, B 2 U 2/21 R, Juris Rn. 12 sowie vom 27.06.2017, B 2 U 17/15 R, Juris Rn. 13). Die Klägerin hatte als Gesundheitserstschäden infolge der Infektion jedenfalls Fieber, einen trockenen Husten, Kopfschmerzen, eine Belastungsdyspnoe und Geruchs- und Geschmackverlust erlitten.
"Gesundheitsdienst" im Sinne der BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV ist der Dienst zum Schutz, zur Erhaltung, Förderung oder Wiederherstellung der Gesundheit gefährdeter Menschen oder zur Pflege unheilbar Kranker oder Gebrechlicher. Die versicherte Tätigkeit der Klägerin in der Apotheke ist eine Tätigkeit, die unzweifelhaft zum "Gesundheitsdienst" im Sinne der BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV gehört (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage, S. 743 ff).
Eine konkrete "Indexperson", d. h. ein sog. intensiver Kontakt mit mind. einer nachweislich infizierten Person, wie es insbesondere für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls grundsätzlich erforderlich ist, konnte für die Infektion der Klägerin nicht ermittelt werden. Dies ist jedoch für den vorliegenden Streitgegenstand einer Anerkennung der BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur BKV auch nicht notwendig.
Eine Berufskrankheit setzt üblicherweise eine konkret fassbare Einwirkung voraus. Dieses Tatbestandsmerkmal wird nach der Rspr. des BSG bei der BK-Nr. 3101 durch das gesonderte, eigenständige Tatbestandsmerkmal "besondere Infektionsgefahr" ersetzt. Es genügt, dass der/die Versicherte einer der versicherten Tätigkeit innewohnenden Infektionsgefahr in besonderem Maße ausgesetzt war (BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 30/07 R und B 2 U 7/08 R; BSG; BSG, Urteil vom 30.03.2023, B 2 U 2/21 R; BSG, Urteil vom 22.06.2023, B 2 U 9/21 R).
Eine besondere Infektionsgefahr ergibt sich auf Grund der Durchseuchung (Prävalenz) des Umfelds der versicherten Tätigkeit und/oder der Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen (BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 30/07 R, Juris Rn. 22 ff). Beide Risikosphären stehen in einer Wechselbeziehung. Je gefährdender die spezifischen Arbeitsbedingungen sind, umso niedrigere Anforderungen sind an den Grad der Durchseuchung zu stellen; je weniger die Arbeitsbedingungen mit dem Risiko der Infektion behaftet sind, umso bedeutsamer ist das Ausmaß der Durchseuchung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage, S. 748 ff).
Positive Covid-19 Fälle im Kollegenkreis der Klägerin, zeitlich vor deren eigener Infektion, gab es nicht. Das haben sowohl die Klägerin als auch die Zeugin und Inhaberin der Apotheke, S., glaubhaft ausgesagt. Das Vorliegen eines Krankheitserregers am Arbeitsplatz kann deshalb aber nicht ausgeschlossen werden. Es ist in diesem Fall vom Durchseuchungsgrad der Gesamtbevölkerung auszugehen.
Für den Durchseuchungsgrad ist der Zeitraum der Inkubationszeit zugrunde zu legen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel vier bis fünf Tage. Aber auch eine Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen ist möglich, wenn auch eher unwahrscheinlich. Gleiches gilt für eine Inkubationszeit von weniger als zwei Tagen. Zu beachten ist allerdings, dass sich die Inkubationszeit seit der Dominanz der Omikron-Varianten verkürzt hat und zum Teil nur noch einen Tag beträgt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage, S. 808 ff). Zum Zeitpunkt der Infektion der Klägerin lag eine Dominanz der Omikron-Variante allerdings noch nicht vor. Am 04.01.2021 verwies das RKI in seinem täglichen Lagebericht auf nur vereinzelte Fälle der Omikron-Variante in Deutschland.
Daher war der mögliche Inkubationszeitraum von 14 Tagen vor dem tatsächlichen Virus-Nachweis vom 04.01.2021, jedenfalls der Zeitraum vom 21.12.2020 bis 04.01.2021, da eindeutige Corona-spezifische Symptome bei der Klägerin vorher nicht feststellbar waren. In diesem Zeitraum sind durch das RKI Inzidenzen in Bayern zwischen Minimum 155/100.000 (Lagebericht vom 30.12.2020) und Maximum 216/100.000 (Lagebericht vom 23.12.2020) dokumentiert. Dieses Spektrum entspricht dem damaligen Grad der Durchseuchung der Gesamtbevölkerung.
Nach den Lageberichten des RKI war seit dem 04.12.2020 ein erneut starker Anstieg der Fallzahlen zu verzeichnen gewesen. Hervorzuheben sei das zunehmend diffuse Infektionsgeschehen, weshalb die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch eingestuft wurde (vgl. Lagebericht RKI vom 20.12.2020).
Im Bericht des RKI vom 26.12.2020 wurde weiter darauf hingewiesen, dass während der Feiertage und zum Jahreswechsel bei der Interpretation der Fallzahlen zu beachten sei, dass zum einen meist weniger Personen einen Arzt aufsuchen, dadurch weniger Proben genommen und weniger Laboruntersuchungen durchgeführt werden. Dies führe dazu, dass weniger Erregernachweise an die zuständigen Gesundheitsämter gemeldet werden. Zum anderen könne es sein, dass nicht alle Gesundheitsämter und zuständigen Landesbehörden an diesen Tagen an das RKI übermitteln.
Nach dem Bericht des RKI vom 30.12.2020 wurden in KW 52 (21.12.2020 bis 27.12.2020) im Vergleich zu den Vorwochen deutlich weniger PCR-Tests durchgeführt. Es sei zu vermuten, dass dies einerseits mit der Schließung vieler Arztpraxen, andererseits auch mit einer geringeren Frequenz von Arztbesuchen in den Feiertagswochen zu begründen ist. Daher sei auch anzunehmen, dass im Vergleich zu den Vorwochen eine geringere Anzahl von Personen mit leichter bis mittelschwerer Symptomatik und lediglich Personen mit deutlicher Symptomatik, während der Feiertage einen Arzt aufgesucht haben.
Auch diese Ausführungen des RKI sind bei dem Grad der damaligen Durchseuchung zu berücksichtigen, weshalb aus Sicht der Kammer tendenziell von einer Inzidenz am oberen Rand des Spektrums auszugehen war.
Die Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen richtet sich nach dem spezifischen Übertragungsweg der Infektionskrankheit sowie der Art und Häufigkeit und Dauer der verrichteten gefährdenden Tätigkeit, d. h. den potenziell übertragungsgeeigneten Kontakten, aber auch nach einem besonders hohen Verletzungs-/Inokulationsrisiko bei diesen Tätigkeiten.
Das Virus wird überwiegend über Tröpfchen oder Aerosol übertragen und dringt in die Schleimhäute des Nasen-Rachen-Bereichs ein (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage, S. 802 ff). Insofern sind grundsätzlich Gespräche im Nahbereich besonders risikobehaftet.
Die anfänglich klägerseitig vorgetragene eigenhändige Testung von Ärzten hat zum damaligen Zeitraum nicht stattgefunden. Das wurde von der Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung klargestellt.
Dahingestellt lässt es die Kammer, ob die Klägerin tatsächlich im Beratungszimmer dabei war, als sich Ärzte, die zuvor einen Test gekauft hatten, dort selbst testeten. Die Zeugin S. wusste von einer solchen Praxis nicht zu berichten. Die Angabe der Klägerin, dass sie den Ärzten die Durchführung der Tests erklären musste, da sie zum damaligen Zeitpunkt nicht für jeden Test eine Erklärung mitgeben konnte, war für die Kammer nicht ganz schlüssig. Aus Sicht der Kammer wäre eine Erklärung auch möglich gewesen, ohne selbst unmittelbar beim Test anwesend sein zu müssen. Warum die Klägerin in der damals verschärften Pandemiesituation (insbesondere noch keine Impfungen) und den erhöhten Schutzmaßnahmen, es Ärzten erlaubt haben sollte, im eigenen Beratungszimmer Tests durchzuführen, war für die Kammer nicht nachvollziehbar. Allerdings wirkte die Klägerin bei ihren Angaben keinesfalls unglaubwürdig, sodass die Kammer das dargestellte Vorgehen nicht ausschließen möchte. Auch steht ein gewisses regelwidriges Verhalten der Anerkennung eines Versicherungsfalls grundsätzlich nicht entgegen, vgl. § 7 Abs. 2 SGB VII. Berücksichtigt wurde die Anwesenheit bei Selbsttests von Ärzten bei der zu beurteilenden Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen vorliegend jedoch nicht. Die Kammer konnte sich von diesem Sachverhalt nicht mit der notwendigen an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überzeugen.
Als maßgeblich für die angenommene deutlich erhöhte Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen erachtete die Kammer aber Folgendes:
Die Klägerin hatte im Rahmen ihrer versicherten Tätigkeit im maßgeblichen Zeitraum eine Vielzahl und auch im Vergleich zur üblichen Tätigkeit in einer Apotheke eine deutlich erhöhte Anzahl an potenziell übertragungsgeeigneten Kontakten.
Laut Bundesgesundheitsministerium (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/schutzmv.html) konnten sich über 60-Jährige sowie Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen oder Risikofaktoren ab dem 15. Dezember (Dienstag) drei kostenlose FFP2-Schutzmasken (oder vergleichbar) in der Apotheke abholen. Dazu genügte die Vorlage des Personalausweises oder die nachvollziehbare Eigenauskunft über die Zugehörigkeit zu einer der Risikogruppen.
Sowohl die Klägerin als auch die Zeugin S. gaben an, dass ab Mitte Dezember Unmengen an Leuten anstanden, um sich FFP2-Masken abzuholen. Maßgeblich war auch hier der mögliche Inkubationszeitraum vom 21.12.2020 bis 04.01.2021 (vgl. obige Ausführungen). Die Klägerin arbeitete grds. immer Montag bis Donnerstag von 08.30 Uhr bis ca. 18.00 Uhr. Am 24.12.2020 hatte die Klägerin frei, sodass die Klägerin vom 21.12.2020 bis 23.12.20 (Montag bis Mittwoch) und - Heiligabend, die beiden Weihnachtsfeiertage und Neujahr sowie den 27.12.2020 (Sonntag) ausgenommen - vom 28.12.2020 bis 31.12.2020 (Montag bis Donnerstag) arbeitete, wobei ihr Arbeitstag am 31.12.2020 um 13.45 Uhr endete. Da hiernach aufgrund Neujahr und dem Wochenende der 04.01.2021 (Montag) der erste Arbeitstag gewesen wäre, kommen also als Arbeitstage, an denen sich die Klägerin angesteckt haben könnte, der 21.12.2020 bis 23.12.2020 und der 28.12.2020 bis 31.12.2020 in Betracht, mithin sieben Tage mit weit überwiegend vollzeitiger Arbeitstätigkeit, bei der ein deutlich frequentierter Kontakt mit potenziell übertragungsgeeigneten Personen stattgefunden hat, insbesondere auch aufgrund der damals notwendigen Maskenausgabe.
Die deutlich erhöhte Frequenz der Kontakte erfolgte nach der glaubhaften Aussage der Klägerin und der Zeugin S. in der Regel ohne die Einhaltung des zum Schutz vor Infektionen empfohlenen Mindestabstands von 1,5 Metern, u. a. bei der Übergabe von Masken, Medikamenten sowie der Entgegennahme der jeweiligen Personalausweise. Plexiglasscheiben waren an dem Tisch der Ausgabe noch nicht montiert. Eine FFP2-Maskenpflicht bestand zum damaligen Zeitpunkt noch nicht (in Bayern an bestimmten Orten erst ab dem 18.01.2021). Damit war von einer erheblichen Anzahl an Kunden auszugehen, die einen einfachen Mund-Nasenschutz bzw. teilweise auch gar keinen Mund-Nasenschutz trugen, wenn sie ein entsprechendes Attest vorlegen konnten. Auch dies haben die Klägerin und die Zeugin S. glaubhaft und nachvollziehbar angegeben.
Zur von der Klägerin und der Zeugin S. geschilderten Situation der Maskenausgabe vermochte die Kammer im Hinblick auf die offene Tür des Seitengangs und der offenen Tür des Haupteingangs keinen ausreichenden Durchzug und möglichen Luftaustausch erkennen: Die Luft konnte nicht in zwei Richtungen entweichen. Die Klägerin und die Zeugin S. berichteten nachvollziehbar, dass die Kunden Schlange, auch innerhalb des Hausflurs von Haupteingang bis zur Tür des Seitengangs, standen. Demzufolge stauten sich zum Teil innerhalb des Hausflurs ungeimpfte Kunden (teilweise mit FFP2-Maske, teilweise mit einfachem Mund-Nasen-Schutz, teilweise gänzlich ohne Mund-Nasen-Schutz). Die Impfkampagne begann erst am 27.12.2020 und richtete sich zunächst ausschließlich an Personengruppen, die ein hohes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf hatten (z. B. Personen ab 80 Jahre oder Pflegeheimbewohner/innen) oder einem hohen Expositionsrisiko ausgesetzt waren (z. B. Personen in medizinischen Berufen) (vgl. Robert Koch-Institut. Monitoring des COVID-19-Impfgeschehens in Deutschland. Monatsbericht vom 06.04.2023. Online verfügbar unter: www.rki.de/covid-19-impfbericht).
Kommt - wie hier - eine Infektion in Betracht, ist im Wege einer Gesamtbetrachtung der Durchseuchung und der Übertragungsgefahr festzustellen, ob sich im Einzelfall eine Infektionsgefahr ergibt, die nicht nur geringfügig erhöht ist, sondern in besonderem Maße über der Infektionsgefahr in der Gesamtbevölkerung liegt. Entscheidend ist immer die Gesamtwürdigung der das Arbeitsumfeld und die versicherte Tätigkeit betreffenden beiden Risikobereiche unter Berücksichtigung des spezifischen Übertragungsmodus und Verbreitungsgrades der jeweiligen Infektionskrankheit (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2023, B 2 U 9/21 R, Juris Rn. 22).
Vorliegend war eine tätigkeitsbezogene besonders erhöhte Infektionsgefahr für die Kammer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in der Allgemeinbevölkerung war zum damaligen Zeitpunkt wesentlich geringer (vgl. auch BSG, Urteil vom 30.03.2023, B 2 U 2/21 R, Juris Rn. 22 ff). Diese Überzeugung folgt neben den oben dargestellten Ausführungen zur Tätigkeit der Klägerin folgenden Überlegungen:
Es war vor allem der damalige Stand der Pandemie zu beachten:
Seit dem 16.12.2020 waren Einzelhandel und Dienstleistungsbetriebe mit Ausnahme von Einzelbranchen wie z. B. Friseure geschlossen. Die Schulen wurden geschlossen, die Präsenzpflicht war ausgesetzt. Selbiges erfolgte bei den Kindertagesstätten. Es wurde lediglich eine Notfallbetreuung sichergestellt. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber waren angehalten zu prüfen, ob die Betriebsstätten entweder durch Betriebsferien oder großzügige Home-Office- Lösungen vom 16.12.2020 bis 10.01.2021 geschlossen werden können. Private Zusammenkünfte waren nach dem Beschluss der Bundesregierung vom 13.12.2020 auf den eigenen und einen weiteren Haushalt, jedoch in jedem Falle auf max. fünf Personen zu beschränken.
Die Kontakte der Allgemeinbevölkerung wurden damit auf ein nötiges Minimum beschränkt, während die Klägerin, auch im Vergleich zu einem üblichen Betrieb einer Apotheke, aufgrund der FFP2-Maskenausgabe einer deutlich erhöhten Anzahl an nahen Kontakten ausgesetzt war.
Liegen eine durch die versicherte Tätigkeit bedingte besonders erhöhte Infektionsgefahr und die Infektionskrankheit vor, nimmt der Verordnungsgeber typisierend an, dass die Infektion während und wegen der Gefahrenlage erfolgte und die Erkrankung wesentlich verursacht hat. Diese Typisierung gilt nur dann nicht, wenn ausgeschlossen ist, dass die Infektion während oder aufgrund der versicherten Tätigkeit eingetreten sein kann. Letzteres ist vorliegend nicht der Fall (vgl. obige Ausführungen).
Ein regelhafter Schluss von einer berufsbedingt erhöhten Infektionsgefahr auf eine berufliche Ursache der festgestellten Krankheit ist ferner nur gerechtfertigt, wenn neben der Gefährdung durch die versicherte Tätigkeit keine anderen, dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Infektionsrisiken bestanden haben. Kommen sowohl berufliche als auch außerberufliche Verrichtungen als Infektionsquelle in Betracht, von denen aber nur eine allein die Krankheit ausgelöst haben kann, muss entschieden werden, ob sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine der unter Versicherungsschutz stehenden Handlungen als Krankheitsursache identifizieren lässt. Dann verbleibt es insofern beim Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen solcher außerberuflichen Umstände müssen im Vollbeweis nachgewiesen sein. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung tragen insoweit die objektive Beweislast (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30.3.2023, B 2 U 2/21 R, Juris Rn. 27).
Eindeutige außerberufliche Infektionsquellen waren nicht ermittelbar. Die Klägerin hat angegeben, dass ihre Kontakte im Privaten auf das Einkaufen unter Einhaltung der damals geltenden Schutzmaßnahmen beschränkt war. Die Klägerin und ihr Ehemann haben weiter glaubhaft versichert, dass sie Weihnachten und Silvester allein zuhause verbracht haben und keine Besuche stattfanden. Da der Ehemann weiter glaubhaft versicherte, aufgrund seiner Knie-OP nicht aus dem Haus gegangen zu sein und später als die Klägerin erste Symptome angab, ist es deutlich wahrscheinlicher, dass die Klägerin den Ehemann und nicht umgekehrt angesteckt hat.
Für die Kammer war damit das Merkmal der haftungsbegründen Kausalität unzweifelhaft gegeben. Es sprach deutlich mehr für eine berufliche als eine private Ansteckung, sodass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die berufliche Tätigkeit der Versicherten als Ursache der Infektion vom 04.01.2021 anzunehmen war.
3. Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG und folgt der Klagestattgabe in der Hauptsache.

 

Rechtskraft
Aus
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