L 15 R 948/24 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 51 R 858/23
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 R 948/24 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22.11.2024 wird zurückgewiesen.

Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die wegen der begehrten Herabsetzung der Vergütung um 642,59 Euro auf 2.100,95 Euro nach Maßgabe von § 4 Abs. 3 Satz 1 JVEG statthafte und auch im Übrigen zulässige, namentlich am 03.12.2024 formgerecht (§ 4b JVEG i.V.m. § 65d i.V.m. § 65a Abs. 3 SGG) eingelegte Beschwerde der Landeskasse, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat und über die der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache in der Besetzung mit drei Berufsrichtern ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entscheidet (§ 4 Abs. 7 Satz 2, 3 JVEG), ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die dem Antragsteller für sein im Verfahren S 51 R 858/23 erstattetes medizinisches Sachverständigengutachten vom 03.10.2024 zustehende Vergütung zu Recht entsprechend der Rechnung des Antragstellers vom 03.10.2024 auf 2.734,54 Euro festgesetzt.

 

1. Die dem Antragsteller stehende Vergütung nach Zeitaufwand gemäß §§ 8 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 9 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG in der seit dem 01.01.2021 geltenden Fassung beträgt, wie das Sozialgericht zutreffend erkannt hat, 2.160,00 Euro. Zwischen den Beteiligten ist dabei zu Recht unstreitig, dass die vom Antragsteller als benötigter Zeitaufwand angegebenen 18 Stunden als erforderlich im Sinne von § 8 Abs. 2 JVEG anzusehen sind. Anhaltspunkte dafür, dass der erforderliche Zeitaufwand geringer anzusetzen ist, sind nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat das Sozialgericht darüber hinaus zu Recht die Honorargruppe M 3 gemäß der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG in der seit dem 01.01.2021 geltenden und, soweit hier relevant, unveränderten Fassung und dementsprechend einen Stundensatz von 120 Euro zugrunde gelegt.

 

a) aa) Nach der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG in der seit dem 01.01.2021 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts (Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 – KostRÄG 2021) vom 21.12.2020 (BGBl I 3229) fällt unter die Honorargruppe M 2 eine „Beschreibende (Ist-Zustands-)Begutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einfacher medizinischer Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad, insbesondere Gutachten

  1. in Verfahren nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch,    
  2. zur Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit in Verfahren nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch,

…“

 

Der Honorargruppe M 3 unterfallen demgegenüber „Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad (Begutachtungen spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostischer Probleme und/oder Beurteilung der Prognose und/oder Beurteilung strittiger Kausalitätsfragen), insbesondere Gutachten    

  1. zum Kausalzusammenhang bei problematischen Verletzungsfolgen,

20. zur Anerkennung von Berufskrankheiten, Arbeitsunfällen, zu den daraus folgenden Gesundheitsschäden und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch,

…“

 

In der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG hieß es demgegenüber zur Honorargruppe M 2: „Beschreibende (Ist-Zustands-)Begutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einfacher medizinischer Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad, insbesondere Gutachten

  •  in Verfahren nach dem SGB IX,
  •  zur Minderung der Erwerbsfähigkeit und zur Invalidität,

…“

 

Die Honorargruppe M 3 war wie folgt beschrieben: „Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad (Begutachtungen spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostischer Probleme und/oder Beurteilung der Prognose und/oder Beurteilung strittiger Kausalitätsfragen), insbesondere Gutachten    

  •    zum Kausalzusammenhang bei problematischen Verletzungsfolgen,
  • zu Berufskrankheiten und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit bei besonderen Schwierigkeiten,

…“

 

bb) Nach dem bis zum 31.12.2020 geltenden Recht hat der Senat die Abgrenzung zwischen den Honorargruppen M 2 und M 3 in ständiger Rechtsprechung nach dem Schwierigkeitsgrad vorgenommen. Nur ein hoher Schwierigkeitsgrad rechtfertigt den Ansatz der Honorargruppe M 3. Darüber hinaus soll die Honorargruppe M 2 beschreibenden Begutachtungen ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge vorbehalten sein, wohingegen die Honorargruppe M 3 einschlägig ist, wenn schwierige Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostische oder ätiologische Probleme zu klären sind (vgl. zum Ganzen den Beschluss des Senats vom 20.02.2015 - L 15 KR 376/14 B -, juris Rn. 30; ebenso bereits LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.02.2005 - L 4 B 7/04 -, juris Rn. 19).

 

Diese Rechtsprechung hat der Senat auch unter dem seit dem 01.01.2021 geltenden Recht unverändert fortgeführt.

 

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen haben sich in der Rechtsprechung des Senats Fallgruppen herausgebildet, wonach bestimmte wiederkehrende Fragestellungen in medizinischen Sachverständigengutachten regelhaft in die Honorargruppe M 3 oder die Honorargruppe M 2 einzuordnen sind.

 

a) Bereits zu dem bis zum 31.12.2020 geltenden Recht hat der Senat entschieden, dass in Verfahren auf Feststellung eines Grades der Behinderung grundsätzlich nur die Honorargruppe M 2 zur Anwendung kommen kann. Er hat dabei ergänzend auf den Wortlaut der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG abgestellt (vgl. z.B. Beschluss des Senats vom 02.10.2019 - L 15 SB 285/19 B -, juris Rn. 3 f.). Diese Argumentation hat der Senat in weiteren Beschlüssen zu dem seit dem 01.01.2021 geltenden Recht aufgegriffen und ausgeführt, dass in Verfahren auf Feststellung eines Grades der Behinderung schon nach dem eindeutigen Wortlaut der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG grundsätzlich nur die Honorargruppe M 2 angesetzt werden kann, weil Streitsachen nach dem SGB IX nur unter der Honorargruppe M 2 und nicht unter der Honorargruppe M 3 aufgeführt sind (vgl. zuletzt den Beschluss des Senats vom 01.08.2023 - L 15 SB 144/23 B - ).

 

b) Bei Gutachten zur Feststellung einer Erwerbsminderung im Sinne von § 43 SGB VI hat der Senat nach dem bis zum 31.12.2020 geltenden Recht ebenfalls im Grundsatz den Ansatz der Honorargruppe M 2 für sachgerecht erachtet, denn in der Regel sind hier keine schwierigen ätiologischen oder differenzialdiagnostischen Probleme zu behandeln. Es geht vielmehr für die Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen in der Regel allein darum, die krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen der Versicherten herauszuarbeiten und damit um eine Zustandsbegutachtung (siehe z.B. den Beschluss des Senats vom 13.04.2021 - L 15 R 213/21 B -). In Ausnahmefällen hat der Senat jedoch die Honorargruppe M 3 angesetzt, z.B. wenn das Krankheitsbild der versicherten Person schwierig einzuordnen war und davon – ausgehend von den gutachterlichen Ausführungen – das Vorliegen einer Erwerbsminderung abhing (vergleiche z.B. den Beschluss des Senats vom 21.10.2022 - L 15 R 247/22 B -). Ergänzend hat der Senat insoweit in einer Entscheidung ausgeführt, es habe sich um ein „Gutachten … zur Minderung der Erwerbsfähigkeit bei besonderen Schwierigkeiten“ im Sinne des 16. Spiegelstrichs der Honorargruppe M 3 im Sinne der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG gehandelt (Beschluss vom 06.08.2020 - L 15 R 390/20 B -).

 

Hieran anknüpfend hat der Senat ausdrücklich offengelassen, ob der Ansatz der Honorargruppe M 3 bei Gutachten zur Feststellung einer Erwerbsminderung nach dem SGB VI nach der ab dem 01.01.2021 geltenden Fassung der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG überhaupt noch möglich ist. Hierzu hat er ausgeführt, dies könnte im Hinblick darauf, dass Gutachten zur Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit in Verfahren nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch nunmehr nur noch in der Honorargruppe M 2 (Ziffer 2) genannt sind und unter der Honorargruppe M 3 nur noch Gutachten zur Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (Ziffer 20) explizit erwähnt werden, bezweifelt werden (Beschluss vom 21.10.2022 - L 15 R 247/22 B -).

 

c) Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist auch nach dem ab dem 01.01.2021 geltenden Recht der Ansatz der Honorargruppe M 3 bei Sachverständigengutachten zur Feststellung einer Erwerbsminderung im Sinne des SGB VI in besonderen Einzelfällen möglich. Soweit Äußerungen des Senats in der Vergangenheit in eine andere Richtung gedeutet haben sollten, wird hieran nicht festgehalten.

 

Bereits der Wortlaut der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG in der ab dem 01.01.2021 geltenden Fassung zu den Honorargruppen M 2 und M 3 („insbesondere“) macht deutlich, dass es sich bei den genannten Gegenständen medizinischer Sachverständigengutachten nicht um zwingende Zuordnungen, sondern um Regelbeispiele handelt. Dies impliziert, dass eine vom Regelbeispiel abweichende Zuordnung im Einzelfall durchaus möglich sein soll. Hierfür spricht auch, dass der thematischen Aufzählung jeweils eine abstrakte Umschreibung der Gegenstände der Begutachtung vorangestellt ist, über die die Zuordnung zu den Honorargruppen normativ verbindlich zu erfolgen hat. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch aus der Systematik der Anlage 1 nicht, dass für die unter der Honorargruppe M 2 aufgeführten Begutachtungsgegenstände eine Zuordnung zur Honorargruppe M 3 von vornherein ausscheiden soll.

 

Dies folgt vor allem auch aus der Begründung des Gesetzentwurfs zum KostRÄndG 2021. Hier heißt es (BT-Drucks 19/23484, S. 72 f. zu Teil 2 der Anlage 1):

 

„Die zu den einzelnen Honorargruppen aufgelisteten Regelbeispiele für medizinische und psychologische Gutachten wurden in Zusammenarbeit mit den Landesjustizverwaltungen und unter Anhörung der Kammern und betroffener Verbände aktualisiert.

 

Die unter den einzelnen Stufen aufgeführten Beispiele stellen Regelbeispiele dar. Im Einzelfall können Gutachten schwieriger oder weniger schwierig sein als der entsprechende Regelfall und damit in eine höhere, aber auch in eine niedrigere Honorargruppe fallen. Es bedarf somit stets einer einzelfallbezogenen Beurteilung, in welche Honorargruppe die erbrachte Leistung einzuordnen ist.“

 

Diese Ausführungen zeigen, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des Teils 2 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG keine grundlegende Neugestaltung beabsichtigt hat. Das Prinzip der Zuordnung der Honorargruppe nach dem Schwierigkeitsgrad des Begutachtungsgegenstandes, das auch der Senat in ständiger Rechtsprechung anwendet, sollte unverändert bleiben. Dementsprechend blieb auch die abstrakte Beschreibung der Begutachtungsgegenstände in den einzelnen Honorargruppen unverändert. Die Neufassung der Regelbeispiele diente allein dazu, eine Einordnung im Regel- oder Normalfall zu erleichtern.

 

Vor diesem Hintergrund ergibt sich aus der Gegenüberstellung der aktuellen und der historischen Fassung der Anlage 1 kein anderes Ergebnis. Die regelbeispielhafte Zuordnung von Gutachten zur Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit in Verfahren nach dem SGB VI zur Honorargruppe M 2 stellt streng genommen keine Abweichung von dem Regelbeispielkatalog der Anlage 1 in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung dar. Die vom historischen Gesetzgeber gewählte Formulierung „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ knüpfte an die Begrifflichkeit des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung an. Hierfür spricht auch, dass sowohl im 2. Spiegelstrich zur Honorargruppe M 2 („Invalidität“) als auch im 16. Spiegelstrich zur Honorargruppe M 3 („Berufskrankheiten“) Begriffe aus dem öffentlichen und privaten Unfallversicherungsrecht genannt sind. Gutachten zur Erwerbsminderung im Sinne des SGB VI wurden dementsprechend in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG nicht ausdrücklich erwähnt. Die genannten regelbeispielhaften Aufzählungen ließen lediglich eine entsprechende Anwendung für Gutachten zu § 43 SGB VI zu.

 

Es bleibt dementsprechend nach der Neufassung der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG in der ab dem 01.01.2021 geltenden Fassung dabei, dass für Gutachten zur Erwerbsminderung in Verfahren nach dem SGB VI in der Regel die Honorargruppe M 2 anzusetzen ist, weil es sich regelmäßig um eine Zustandsbegutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge handeln wird. Sind jedoch ausnahmsweise schwierige differenzialdiagnostische und/oder ätiologische Probleme zu behandeln, um das Vorliegen einer Erwerbsminderung im Sinne von § 43 SGB VI zu beurteilen, und kommt dies in den gutachterlichen Ausführungen zum Ausdruck, ist eine Zuordnung zur Honorargruppe M 3, wie auch nach dem bis zum 31.12.2020 geltenden Recht, ausnahmsweise möglich.

 

d) Das Sozialgericht hat ausführlich und überzeugend begründet, dass und warum der Antragsteller im vorliegenden Einzelfall schwierige differenzialdiagnostische Fragen zu behandeln hatte. Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung den Ausführungen des Sozialgerichts an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf sie Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI hängt nach den Ausführungen des Sachverständigen wesentlich davon ab, ob bei dem Kläger eine schwere depressive Episode vorliegt. Dies hat der Sachverständige unter anderem deshalb bejaht, weil bei dem Kläger noch weitere psychische Erkrankungen vorlägen (Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität mit Beginn in der Kindheit und Jugend und ein Asperger-Syndrom), die unter anderem dazu geführt hätten, dass bislang noch keine stationär-psychiatrische Behandlung durchgeführt worden sei. Die Begutachtung betraf deshalb durchaus schwierige differenzialdiagnostische Probleme.

 

2. Darüber hinaus kann der Antragsteller gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 JVEG Schreibgebühren für den erforderlichen Text (96.575 Zeichen), d.h. in Höhe von 145,50 Euro (97 x 1,50 Euro), und gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 JVEG die abzuführende Umsatzsteuer (438,00 Euro) verlangen.

 

3. Der Vergütungsanspruch des Antragstellers beträgt damit insgesamt 2.743,54 Euro.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 4 Abs. 8 JVEG.

 

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG, § 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG).

 

Rechtskraft
Aus
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