L 8 R 3342/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 2076/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 3342/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Für einen Antrag auf vorläufige Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG besteht grundsätzlich kein Rechtsschutzbedürfnis, wenn erstinstanzlich ein Grundurteil ergangen ist und ein Vollstreckungsantrag bisher nicht vorliegt. In dieser (häufigen) Konstellation ist es der Beklagten regelmäßig zumutbar abzuwarten, ob überhaupt ein Vollstreckungsantrag gestellt wird, da sie dann ihre Rechte im Rahmen eines eventuellen Vollstreckungsverfahrens nach den §§ 201, 198 SGG i.V.m. § 891 ZPO und der dort erforderlichen Anhörung geltend machen kann.
2. Die Weigerung des Klägerbevollmächtigten, auf eine vorläufige Vollstreckung aus dem erstinstanzlichen Grundurteil zu verzichten, kann in diesem Zusammenhang nicht mit einem Vollstreckungsantrag gleichgestellt werden.
3. Auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 199 Abs. 2 SGG hat eine Kostenentscheidung entsprechend § 193 SGG zu ergehen.

Der Antrag, die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 24.10.2024 – S 14 R 2076/22 – vorläufig auszusetzen,
wird abgelehnt.

Die Antragstellerin hat der Antragsgegnerin die außergerichtlichen Kosten des Aussetzungsverfahrens zu ersetzen.



Gründe

I.

Die Antragsgegnerin (Ag.; zugleich Klägerin und Berufungsbeklagte) hat den Bescheid der Antragstellerin (Ast.; zugleich Beklagte und Berufungsklägerin) vom 12.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2022, mit dem die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt worden ist, mit der Klage vor dem Sozialgericht Mannheim (SG) angefochten. Das SG hat die angefochtenen Bescheide mit Urteil vom 24.10.2024 aufgehoben und die Ast. verpflichtet, der Ag. eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.09.2022 bis zum 31.01.2027 zu gewähren.

Dagegen richtet sich die Berufung der Ast. vom 19.11.2024, mit der sie zusätzlich die vorläufige Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil gemäß § 199 Abs. 2 SGG beantragt. Zur Begründung ihres Antrags hat sie bei der Einlegung ihres Antrags zunächst lediglich näher dazu vorgetragen, warum aus ihrer Sicht kein Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bestehe.

Ein Vollstreckungsantrag ist nicht aktenkundig. Der Bevollmächtigte der Ag. hat auf Anfrage des Berichterstatters mitgeteilt, zur Rechtswahrung werde im laufenden Berufungsverfahren kein Vollstreckungsverzicht erklärt.

Die Ast. hat auf Anfrage des Vorsitzenden erklärt, dass eine Urteilsrente aus der Entscheidung des SG weder beantragt worden sei noch von ihr aktuell gewährt werde. Auch sei seitens der Ag. nicht die Vollstreckung aus der Entscheidung des SG angekündigt worden. Generell entscheide die Ast. über die Stellung eines Antrags nach § 199 Abs. 2 SGG abhängig vom Einzelfall und den jeweiligen Erfolgsaussichten. Auf der Grundlage des derzeitigen Ermittlungsstandes müsse davon ausgegangen werden, dass die Ag. keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit habe, da bei ihr die medizinischen Voraussetzungen nicht im Vollbeweis nachgewiesen seien.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Gerichtsakten Bezug genommen.


II.

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des SG ist unzulässig.

Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann der Vorsitzende die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen; die §§ 108, 109, 113 der Zivilprozessordnung (ZPO) gelten entsprechend.

Die von der Ast. eingelegte Berufung hat von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, weil die Vollstreckbarkeit von Urteilen der gesetzlichen Regelung entspricht (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Das auf Anfechtungs- und Leistungsklage (Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung) ergangene Urteil des SG ist vollstreckbar, denn die Berufung der Ast. hat keine aufschiebende Wirkung (§§ 199 Abs. 2 Satz 1, 154 Abs. 1 SGG), weil Leistungsklagen keine aufschiebende Wirkung nach § 86a SGG entfalten. Eine gesetzliche Ausnahme hiervon liegt nicht vor, da die Voraussetzungen des § 154 Abs. 2 SGG („Zahlungen vor Erlass der angefochtenen Gerichtsentscheidung“) vorliegend für die nach der Verkündung des SG-Urteils am 24.10.2024 zugesprochenen Leistungen nicht erfüllt sind; die vor diesem Zeitpunkt dem Grunde nach zugesprochenen Leistungen sind indes bereits nach § 154 Abs. 2 SGG derzeit von der Vollstreckbarkeit ausgenommen. Das Urteil des SG hat auch einen vollstreckbaren Inhalt. Hierfür ist allein die Urteilsformel maßgebend (BSG, Beschluss vom 06.08.1999, B 4 RA 25/98 B juris Rn. 13).

Allerdings fehlt es – zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts – an einem Rechtsschutzbedürfnis für den Vollstreckungsschutzantrag. Auch in einem Verfahren des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes ist ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich (Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 86b Rn. 355; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 86b Rn. 26b). Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzung, die bei jeder Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung gegeben sein muss. Aus dem Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses folgt, dass nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung hat (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 04.01.2024 – L 3 AL 81/22 B ER –, Rn. 17, juris). Das Rechtsschutzbedürfnis ist im Eilverfahren gegeben, wenn die gerichtliche Eilentscheidung dem Antragsteller einen tatsächlichen oder rechtlichen Vorteil bringt und der Antragsteller sein Begehren nicht auf einfachere, schnellere und billigere Art durchsetzen kann (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.01.2024 – L 2 AS 1758/23 B ER –, Rn. 25, juris).

Hier fehlt es bisher an einem Vollstreckungsantrag der Ag., so dass völlig ungewiss ist, ob eine Vollstreckung vor Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache beantragt werden wird. Der hier durch den Bevollmächtigten der Ag. verweigerte Verzicht auf eine Vollstreckung aus dem Urteil kann nicht mit einem Vollstreckungsantrag gleichgesetzt werden, da der Antrag der Vollstreckung ein förmliches Verfahren darstellt, das Gerichtskosten (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, 14. Aufl. 2023, SGG § 201 Rn. 4) und Anwaltsgebühren (hierzu Schneider, ASR 2021, 5) auslöst. Eine Absicht der Vollstreckung ist jedenfalls aktuell weiterhin nicht erkennbar. Die Praxis zeigt, dass eine Vielzahl von erstinstanzlich erfolgreichen Klägern nicht den unsicheren Weg der Vollstreckung eines mit der Berufung angegriffenen Urteils geht, was angesichts der drohenden Rückzahlungspflicht auch objektiv nachvollziehbar erscheint.

Es widerspricht zudem dem Gedanken der Prozessökonomie, einstweiligen Rechtsschutz präventiv „für den Fall der Fälle“ zu gewähren. Nach der bisherigen Erfahrung des Senats stellt die Ast. Vollstreckungsschutzanträge wie im vorliegenden Fall schematisch mit der Einlegung der Berufung, häufig auch ohne weitere Begründung oder ohne eine konkrete Bezugnahme auf den Einzelfall. Hierdurch werden in der Rechtsprechung erhebliche Ressourcen gebunden. Dem Senat sind bisher andererseits jedoch kaum Vollstreckungen aus Grundurteilen bekannt geworden.

Zum anderen ist die Ast. bei einer Verneinung ihres Rechtsschutzbedürfnisses im aktuellen Verfahrensstadium auch nicht schutzlos, weil ein Vollstreckungsschutz nach § 199 Abs. 2 SGG für den – nach den Erkenntnissen des Senats – Ausnahmefall, dass eine vorläufige Vollstreckung tatsächlich beantragt wird, immer noch zu einem späteren Zeitpunkt vollumfänglich und im Sinne des gebotenen effektiven Rechtsschutzes gewährt werden kann. Dies gilt jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen auf eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG („befristet bis zum 31. Januar 2027, eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren“) ergangen ist. Die Vollstreckung von Grundurteilen erfolgt nach § 201 SGG (BSG, Beschluss vom 06.08.1999 – B 4 RA 25/98 B), weil es sich im Kern trotz der Bezeichnung als (auch) Leistungsklage um die Auferlegung einer Verpflichtung handelt (so auch B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 201 Rn. 2 m.w.N.), für deren Ausführung regelmäßig ein vorgeschalteter bewilligender Leistungs-Verwaltungsakt erforderlich ist. Da die Höhe der Rente berechnet und festgestellt werden muss, ist ein ausführender Rentenbescheid zu erlassen (Adolf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 154 SGG [Stand: 15.06.2022], Rn. 36). Grundurteile sind insofern ausschließlich hinsichtlich des Erlasses dieses ausführenden Verwaltungsaktes vollstreckungsfähig. Eine vollstreckungsfähige andere Leistung ist nicht vorhanden, da das Gericht bei einem Grundurteil dem Leistungsträger gerade die Konkretisierung der Leistungshöhe durch einen Verwaltungsakt überlässt (Söhngen in Hennig, SGG, Loseblatt, Stand 10/2020, § 199 Rn. 5). Es handelt sich insoweit um „verkappte Verpflichtungsbescheidungsurteile“ (zitiert nach BSG a.a.O. juris Rn. 22).

Die Vollstreckung dieser Verpflichtung nach § 201 SGG erfolgt ausschließlich durch die Androhung eines Zwangsgeldes mit gesetzlich vorgeschriebener Fristsetzung, so dass im Rahmen der nach § 198 Abs. 1 SGG i.V.m. § 891 ZPO erforderlichen Anhörung und Fristsetzung nach § 201 SGG immer noch ausreichende Zeit für die Stellung eines – dann ggf. tatsächlich veranlassten – Antrags auf Vollstreckungsschutz nach § 199 Abs. 2 SGG besteht. Zudem kann die Behörde auch gegen den Androhungsbeschluss und Zwangsgeldbeschluss des SG noch Beschwerde erheben, die nach § 175 S. 1 SGG aufschiebende Wirkung hat (Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, SGG § 201 Rn. 10, beck-online).

Für diese Interpretation spricht neben der Prozessökonomie und dem allgemeinen Erfordernis eines Rechtsschutzbedürfnisses auch der Wortlaut „kann … die Vollstreckung … aussetzen“ in § 199 Abs. 2 SGG. Die Vollstreckung erfolgt nach § 201 SGG ausschließlich auf Antrag. Vor einem Antrag gibt es aber keine Vollstreckung, die ausgesetzt werden kann (vgl. zur insoweit ähnlichen Problematik, dass es für den Eilrechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage oder eines Widerspruchs zunächst einer Klage oder eines Widerspruchs bedarf, deren/dessen aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann, Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Stand 11.12.2024, Rn. 139).

Der Gesetzgeber hat auch nicht die Formulierung „kann … die Vollstreckbarkeit … aussetzen“ verwendet. Es ist davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die Unterschiede zwischen diesen möglichen Formulierungen bewusst gewesen sind. Die Gesetzgebungsmaterialien legen zumindest nahe, dass bei dem Entwurf der ersten Fassung des § 199 SGG (damals § 146 SGG) bewusst zwischen den Formulierungen „Vollstreckung“ (BT-Drs. 1/4357, S. 17, zur vorgeschlagenen ersten Fassung von § 146) und „Vollstreckbarkeit“ (BT-Drs. 1/4357, S. 34, in den Erläuterungen zu § 146) unterschieden wurde. Für eine versehentliche Gleichstellung dieser beiden unterschiedlichen Begriffe lassen sich den Materialien keine Anhaltspunkte entnehmen.

Sofern in der Kommentarliteratur teils die Auffassung vertreten wird, dass ein konkretes Vollstreckungsbegehren für einen Vollstreckungsschutzantrag nicht vorliegen muss, vermag dies für die vorliegende Konstellation eines Grundurteils aus den oben angeführten Gründen nicht zu überzeugen, zumal ein nachvollziehbarer Grund für diese Auffassung vielerorts auch nicht genannt wird (stellvertretend hierfür B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 199 Rn. 7; T. Lange in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 199 SGG, Stand 04.11.2024, Rn. 17).

Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob bereits aus der Vollstreckbarkeit eines Urteils gemäß § 199 Abs. 1 SGG eine Pflicht des Leistungsträgers folgt, die ausgeurteilte Leistung vorläufig von Amts wegen unverzüglich zu erbringen (stellvertretend für diese Ansicht Fock in Fichte/​Jüttner, SGG, 3. Auflage, § 154 SGG, Rn. 7). Neben dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sprechen hierfür noch weitere Argumente, welchen die Ast. im vorliegenden Verfahren offenbar nicht folgt. Diese Frage, welche die Ausführung bzw. Vollziehung und nicht die Vollstreckung betrifft, ist im Rahmen des hier anstehenden Antrags der Ast. durch das Gericht nicht zu entscheiden und kann daher vorliegend offenbleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Eine Kostenentscheidung hat auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu erfolgen, weil insoweit nichts anderes gelten kann als in Verfahren nach § 86b Abs. 2 SGG (wie hier B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 199 Rn. 7c; Groß in Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 199 Rn. 16, beck-online; BeckOGK/Wahrendorf, 01.11.2024, SGG § 199 Rn. 36, beck-online; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2024 – L 15 SO 116/24 ER, Rn. 11, juris; anders LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.08.2024 – L 22 R 340/24 ER, Rn. 14, juris).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Er kann jedoch gemäß § 199 Abs. 2 Satz 3 SGG jederzeit aufgehoben werden, um einen eventuell erforderlich werdenden Eilrechtsschutz der Ast. zu gewährleisten.



 

Rechtskraft
Aus
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