Zur regelmäßigen Befristung der Gültigkeitsdauer von Schwerbehindertenausweisen, zum Fehlen eines Verwaltungsaktes bei der Versagung der Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises, sowie zu den sich hieraus ergebenden prozessualen Folgen.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27.11.2023 aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis auszustellen, und die Klage wird insoweit abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu einem Zehntel zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch des Klägers auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises im Streit.
Der 1972 geborene Kläger ist gelernter Bäcker. Er beantragte beim Landratsamt B1 am 01.03.2018 die Erhöhung des vormals bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 20. Als Gesundheitsstörungen machte er eine schwere depressive Episode, einen Tinnitus am rechten Ohr, ein Kribbeln im linken Arm sowie Wirbelsäulen- bzw. Bandscheibenleiden geltend.
Im Verwaltungsverfahren wurden Berichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Der M1 gab bei einem Gesamtbehandlungszeitraum seit 2007 zuletzt ab dem 01.02.2018 eine Wiedervorstellung mit depressiven Symptomen an; diagnostisch wurde eine schwere depressive Episode mitgeteilt. Q1 teilte eine Akutpsychotherapie seit dem 08.02.2018 zur Intervention bei einer depressiven Krise in Reaktion auf eine Arbeitsplatzproblematik mit. Z1 sowie F1 gaben eine psychiatrische Behandlung des Klägers seit 01.03.2018 bei posttraumatischer Belastungsstörung und depressiver Symptomatik auf dem Boden einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung an. Zudem legte der Kläger einen Bericht des S1 über eine psychotherapeutische Behandlung seit 02.07.2018 bei u.a. berichteter schwerer depressiver Symptomatik sowie ein MDK-Gutachten vom 13.08.2018 über fortbestehende Arbeitsunfähigkeit auf Zeit bei posttraumatischer Belastungsstörung, Depression und emotional instabiler Persönlichkeitsstörung vor.
Die medizinischen Unterlagen wurden in einer gutachterlichen versorgungsärztlichen Stellungnahme des W1 vom 22.10.2018 ausgewertet. Dieser gelangte zu einem Gesamt-GdB von 20 auf der Grundlage eines GdB von
20 für eine seelische Störung und funktionelle Organbeschwerden
10 für eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen.
Mit Bescheid vom 05.11.2018 lehnte das Landratsamt B1 entsprechend dem Bewertungsvorschlag des W1 den Neufeststellungsantrag ab.
Auf einen hiergegen am 08.11.2018 erhobenen Widerspruch wurden ein Reha-Entlassungsbericht über eine tagesklinische Rehabilitationsmaßnahme in der L1 vom 18.09.2018 bis zum 09.10.2018 und ein Verlaufsbericht des S1 vom 11.12.2018 beigezogen. In zwei versorgungsärztlichen Stellungnahmen durch S2 vom 08.02.2019 und B2 vom 05.03.2019 wurde ein Festhalten an der bisherigen GdB-Bewertung empfohlen.
Dementsprechend wurde mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2019 der Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.11.2018 zurückgewiesen.
Am 07.05.2019 erhob die Prozessbevollmächtigte des Klägers beim Sozialgericht Stuttgart (SG) eine unter dem Aktenzeichen S 26 SB 2105/19 geführte Klage und beantragte, beim Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 05.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2019 einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
Das SG holte schriftliche sachverständige Zeugen der Behandler des Klägers ein. Der S1 gab in einer Auskunft vom 26.11.2019 an, den Kläger seit Juni 2018 bei schwerer posttraumatischer Belastungsstörung aufgrund massiver Traumatisierung in der Kindheit und damit verbundenen Ängsten wöchentlich psychotherapeutisch zu behandeln. Daneben bestünden eine Panikstörung und eine redizivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger bis schwerer Ausprägung. Die Gesundheitsstörungen würden den Kläger vermutlich dauerhaft begleiten, allerdings sei durch Psychotherapie bereits eine teilweise Verminderung der Symptomatik erreicht worden und eine weitere graduelle Besserung erreichbar.
Die Z1 gaben in einer schriftlichen Auskunft vom 19.12.2019 an, der Kläger werde seit März 2018 in 4- bis 6-wöchigen Abständen behandelt. Es bestünden eine posttraumatische Belastungsstörung, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger bis schwerer Episode sowie ein V.a. einen schädlichen Alkoholmissbrauch und Panikstörung und Tinnitus aurium. Bei Verarbeitung der Traumata und Erlernung alternativer Verhaltensmöglichkeiten könne hoffentlich eine Besserung der Symptomatik mit Rückläufigkeit des Alkoholkonsums und der Panikstörung erreicht werden. Von einer Heilung sei jedoch nicht zu sprechen. Bisher sei seit Behandlungsbeginn eine langsame Stabilisierung auf niedrigem Niveau erreicht worden.
Der M1 gab in einer schriftlichen Auskunft vom 20.12.2019 eine Behandlung des Klägers seit 2007 an. Er verlasse sich auf die Behandlungen der Fachkollegen und empfinde selbst einen Zwiespalt zwischen der verbalen Schilderung des Klägers von sehr ernsten und schwerwiegenden psychischen Zuständen einerseits und dem Wunsch und gezielten Vorgehen nach sozialer Absicherung andererseits.
Das SG holte von Amts wegen ein Sachverständigengutachten des B3 vom 07.12.2020 ein. Dieser ging beim Kläger trotz eines massiv auffälligen Ergebnisses im Strukturierten Fragebogen Simulierter Symptome (SFSS) letztlich von einer weitreichenden und bereits chronifizierten Psychopathologie bzw. psychischen Instabilität mit erheblicher sozialmedizinischer Relevanz aus und diagnostizierte eine anhaltend dekompensierte (vorbestehende, vielschichtige) Persönlichkeitsstörung bei gleichzeitig eher niedrigem Persönlichkeitsstrukturniveau in breiter Überlappung mit Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit im Ausmaß schon Psychose-vergleichbaren Funktionsstörungen in der Teilhabe sowie einen eher sekundären Alkoholabusus klinisch wie elektrophysiologisch ohne alkoholtoxische Folgeschäden. Für richtungsweisende organ-neurologische Störungen hätten sich keine Hinweise ergeben. Auch unter Intensivierung der Behandlung sei in bereits absehbarer Zeit eine richtungsweisende Stabilisierung nicht zu erwarten, langfristig jedoch nicht auszuschließen. Der GdB für die psychische Erkrankung sei bei schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit 80 zu bewerten.
Nachdem in der Folge klägerseits u.a. noch Formularblätter aus einem am 20.03.2021 durch B4 für den Rentenversicherungsträger erstellten Gutachten sowie ein Attest der psychiatrischen Praxis Z1 vom 26.01.2021 vorgelegt wurden, wurde im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vom 13.07.2021 das damalige Klageverfahren mit einem Vergleich über die Feststellung eines GdB von 80 ab dem 10.02.2018 beendet.
In Ausführung des Vergleichs stellte das Landratsamt B1 mit Bescheid vom 27.07.2021 beim Kläger einen GdB von 80 ab dem 10.02.2018 unter Berücksichtigung einer Persönlichkeitsstörung und seelischen Störung sowie einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen fest.
Gemäß Ausweisverfügung vom 27.07.2021 wurde dem Kläger ein befristet bis zum 31.08.2026 gültiger Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 80 ab dem 10.02.2018 ausgestellt.
In einer handschriftlichen versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20.09.2021 durch W2 in den Akten des Landesversorgungsamtes wurde eine Besserung der psychischen Symptomatik langfristig als nicht auszuschließen eingeschätzt, weshalb keine unbefristete Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises erfolgen könne. Eine Nachprüfung wurde langfristig für September 2026 empfohlen.
Mit Schreiben vom 22.10.2021 beantragte die Prozessbevollmächtigte des Klägers gegenüber dem Landratsamt B1 eine Entfristung des erteilten Schwerbehindertenausweises. Ausgehend von den gesamten medizinischen Unterlagen des Klägers sei von einem dauerhaften Krankheitsbild mit lebenslang notwendiger Behandlung auszugehen. Auch den Angaben des B3 sei zu entnehmen, dass mit einer Besserung des Zustands des Klägers nach Chronifizierung und Ausschöpfung aller therapeutischen Maßnahmen nicht mehr zu rechnen sei.
Am 02.03.2022 erging ein als „Bescheid“ bezeichnetes Schreiben des Landratsamtes B1, wonach dem Antrag auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises nicht entsprochen werden könne. Nach § 6 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) sei die Gültigkeit des Schwerbehindertenausweises auf 5 Jahre zu begrenzen. Der Ausweis könne unbefristet ausgestellt werden, wenn keine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen zu erwarten sei. Der Gutachter B5 habe angesichts der Chance auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Klägers eine Überprüfung der Feststellung für notwendig erachtet. Die Voraussetzungen für einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis seien daher nicht erfüllt. Zudem habe das Regierungspräsidium S3 sich nach Ende des vormaligen Klageverfahren bereits Ende Oktober mit dieser Frage befasst. Der dortige ärztliche Gutachter habe die Notwendigkeit einer Überprüfung der Feststellungen wegen möglicher Besserung bestätigt.
Mit Schreiben vom 21.03.2022 erhob die Prozessbevollmächtigte des Klägers Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.03.2022.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2022 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Der Verlauf der Erkrankung des Klägers sei nachzuprüfen, da grundsätzlich Behandlungs-, Therapie- und Rehabilitationsmöglichkeiten bestünden, sodass eine Besserung nicht ausgeschlossen und der Schwerbehindertenausweis zu befristen sei. Zudem erleide der Kläger durch den befristeten Ausweis keine Rechtsnachteile, da eine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse mit Auswirkung auf die GdB-Feststellung nur mittels eines förmlichen Verwaltungsverfahrens nach § 48 SGB X festgestellt werden könne.
Am 29.09.2022 erhob die Prozessbevollmächtigte des Klägers beim SG eine unter dem Aktenzeichen S 23 SB 3030/22 geführte Untätigkeitsklage gegen den Beklagten und begehrte eine Bescheidung des Widerspruchs vom 21.03.2022. Vorgelegt wurden zudem medizinische Unterlagen, u.a. ein Bericht des S1 vom 19.10.2022 und ein Bericht des M2 vom 08.12.2022. Nachdem mit Schreiben des Beklagten vom 15.11.2022 der Widerspruchsbescheid vom 19.07.2022 vorgelegt wurde, wurde die Untätigkeitsklage in der Folge für erledigt erklärt.
Am 23.11.2022 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers beim SG die vorliegend streitige Klage unter dem Aktenzeichen S 23 SB 3633/22 erhoben und beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 zu verurteilen, dem Kläger einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis auszustellen. Bereits die Kammervorsitzende im Verfahren bezüglich der GdB-Feststellung sei in der mündlichen Verhandlung zur Einschätzung einer Dauerhaftigkeit der Erkrankungsbilder gelangt. Das Erfordernis einer erneuten Prüfung bedeute für den Kläger einen enorm belastenden Mehraufwand, führe zu einer erheblichen Retraumatisierung und Verschärfung seiner Krankheitsbilder. Eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes sei nicht zu erwarten bzw. ausgeschlossen. Der Beklagte könne in atypischen Fällen von der regelmäßigen Befristung des Schwerbehindertenausweises abweichen, was im Fall des Klägers angesichts dessen deutlich stärkerer Belastung durch das Erfordernis einer neuen Beantragung nach Ablauf der Befristung auch geboten sei. Bereits die Neuanfertigung von Passbildern stelle eine übermäßige Belastung für den Kläger dar. Angesichts der nicht zu erwartenden Besserung sei das Ermessen für eine unbefristete Ausstellung des Schwerbehindertenausweises auf Null reduziert. Zudem sind Berichte des S1 vom 07.08.2023 und des M2 vom 15.08.2023 vorgelegt worden.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat im Wesentlichen die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 19.07.2022 wiederholt.
Am 05.09.2023 ist vor dem SG ein Erörterungstermin durchgeführt worden.
Von Klägerseite ist mit Schriftsatz vom 07.09.2023 ergänzend darauf hingewiesen worden, dass der Kläger seit 1,5 Jahren über einen Rollator verfüge, was gegen eine Verbesserung des Gesundheitszustands spreche. Zudem ist eine Stellungnahme des M2 vom 27.09.2023 vorgelegt worden.
Aufgrund einer in Anwesenheit des Klägers am 27.11.2023 durchgeführten mündlichen Verhandlung hat das SG mit Urteil vom gleichen Tag den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 verurteilt, dem Kläger einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis auszustellen. Nach § 152 Abs. 5 Satz 3 SGB IX solle der Schwerbehindertenausweis befristet ausgestellt werden, wovon in atypischen Fällen jedoch abgewichen werden könne. Ein solcher atypischer Fall sei anzunehmen, wenn der mit der Beantragung eines neuen Schwerbehindertenausweises verbundene Aufwand für den Betroffenen derart vom Normalfall abweiche, dass er dadurch deutlich stärker als andere Schwerbehinderte belastet würde. Hiervon sei nicht schon dann auszugehen, wenn eine wesentliche Änderung in den der GdB-Feststellung zugrundeliegenden Verhältnissen nicht zu erwarten sei. Der Kläger verlasse nach eigenen Angaben seit Jahren seine Wohnung nicht mehr und sei selbst mit alltäglichen Aufgaben wie Abspülen und Wäschewaschen überfordert, weshalb sämtliche Einkäufe und Reinigungsarbeiten von Pflegepersonen übernommen würden. Das Bewusstsein, irgendwann die Verlängerung des Schwerbehindertenausweises beantragen zu müssen, verunsichere den Kläger erheblich und erschwere nach Angabe des M2 die psychotherapeutische Behandlung. Angesichts dieser übermäßigen Belastungen habe der Kläger Anspruch auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises.
Gegen das ihm am 11.12.2023 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15.12.2023 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Es handle sich nicht um einen atypischen Fall. Bei psychischen Erkrankungen sei eine Besserung des Gesundheitszustandes durch adäquate Therapie nicht auf Dauer gänzlich ausgeschlossen, sodass grundsätzlich kein unbefristeter Schwerbehindertenausweis ausgestellt werden könne. Soweit M2 ausgeführt habe, dass eine signifikante gesundheitliche Besserung nicht mehr zu erwarten sei, seien derartige Konstellationen im Schwerbehinderungsrecht häufig und nicht atypisch. Zudem habe B3 in seinem Gutachten vom 07.12.2020 ausgeführt, dass langfristig eine Besserung der psychischen Symptomatik nicht auszuschließen sei. Der Kläger sei auch, entgegen einer geltend gemachten Unfähigkeit seit Jahren zum Verlassen des Hauses, in der Lage gewesen, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, und nehme etwa monatlich persönliche Termine bei S1 wahr. Jedenfalls sei allenfalls ein Ermessen des Beklagten eröffnet, wobei sich eine Ermessensreduzierung auf Null nicht begründen lasse. Das Ermessen sei dahingehend ausgeübt worden, „dass (…) langfristig eine Besserung der psychischen Symptomatik nicht auszuschließen sei“.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27.11.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Berufung entgegengetreten. Der Vorhalt des bisherigen Verhaltens des Klägers im Verfahren gegenüber der Unfähigkeit zum Verlassen des Hauses und der Überforderung mit Antragstellungen erscheine zynisch und zeuge von Unwillen, sich mit den Erkrankungsbildern des Klägers auseinanderzusetzen. Eine prognostische Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers sei von den behandelnden Ärzten und Therapeuten ausgeschlossen worden.
Auf Anforderung des Senats ist von Klägerseite eine Kopie des Schwerbehindertenausweises vorgelegt worden. Zudem hat der Senat von Amts wegen Kopien sämtlicher Behandlungsunterlagen über den Kläger seit Dezember 2020 von S1 und von M2 beigezogen. Mit Schreiben vom 16.03.2025 sind von Klägerseite noch ergänzende Unterlagen insbesondere des M2 vorgelegt worden, und in der mündlichen Verhandlung ist ein Schreiben des S1 vom 20.03.2025 vorgelegt worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die sozialgerichtlichen Verfahrensakten beider Rechtszüge, auf die beigezogenen Akten der vormaligen sozialgerichtlichen Klageverfahren S 26 SB 2105/19 und S 23 SB 3030/22 sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Landratsamtes B1 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig.
Streitgegenständlich ist das Urteil des SG, mit welchem der Bescheid vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 bezüglich der Ablehnung eines Anspruchs des Klägers auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises aufgehoben und der Beklagte zur Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises verurteilt wurde.
Die Berufung ist teilweise auch begründet, da das SG den Beklagten zu Unrecht verurteilt hat, dem Kläger einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis auszustellen. Die Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide durch das SG hingegen ist nicht zu beanstanden.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG zulässig.
Zwar handelt es sich bei der Befristung eines Schwerbehindertenausweises nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X (vgl. LSG Thüringen, Urteil vom 14.10.2021 – L 5 SB 1259/19 – juris Rn. 19; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.04.2016 – L 10 SB 87/15 – juris 21; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.04.2020 – L 13 SB 74/20 B ER – juris Rn. 4). Der Ausweis dient dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Leistungen und sonstigen Hilfen, die schwerbehinderten Menschen nach dem SGB IX oder nach anderen Vorschriften zustehen (§ 152 Abs. 5 Satz 2 SGB IX). Er weist als öffentliche Urkunde lediglich die gesondert im Ausgangsbescheid getroffene Feststellung der Schwerbehinderung gegenüber Dritten nach und hat keine eigene konstitutive Bedeutung für die in ihm verlautbarten Feststellungen (BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/15 R – juris Rn. 26; BSG, Beschluss vom 24.11.2020 – B 9 SB 2/20 BH – juris Rn. 9). Die Ausstellung des Scherbehindertenausweises – auch mit befristeter Gültigkeitsdauer – stellt daher lediglich ein tatsächliches Verwaltungshandeln (Realhandlung) ohne eigenen Regelungsgehalt dar. Statthaft ist für die gerichtliche Geltendmachung eines Begehrens auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises daher grundsätzlich die echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG (LSG Thüringen, Urteil vom 14.10.2021 – L 5 SB 1259/19 – juris Rn. 19; Senatsurteil vom 29.09.2023 – L 8 SB 1641/23 – juris Rn. 22). Insoweit besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers, da der Ausweis nur befristet bis zum 31.08.2026 erteilt wurde (vgl. Senatsurteil vom 18.02.2022 – L 8 SB 2527/21 – juris Rn. 25).
Allerdings ist im vorliegenden Fall auch mit dem Bescheid vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 über das (Nicht-) Bestehen eines Anspruchs des Klägers auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises entschieden worden. Hierbei handelt es sich angesichts der äußeren Gestaltung als Bescheid bzw. Widerspruchsbescheid mit Rechtsbehelfsbelehrung zumindest um einen Formalverwaltungsakt. Damit ist die Kombination der Leistungsklage mit einer Anfechtungsklage vorliegend statthaft. Dabei kann es für die Frage der Zulässigkeit letztlich dahinstehen, ob es sich bei dem betreffenden Bescheid um einen Scheinverwaltungsakt handelt, der in Ermangelung einer Regelung bereits nichtig wäre (vgl. dazu Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 15.11.2023, § 31 Rn. 68 m.w.N.). Denn auch bei Vorliegen eines Scheinverwaltungsaktes wäre angesichts der davon ausgehenden Rechtsscheinwirkung einer bestandskraftfähigen Ablehnung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis die auf ein Gestaltungsurteil gerichtete Anfechtungsklage zulässig (vgl. Luthe, a.a.O.; Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG-Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 54 Rn. 8a und § 55 Rn. 14a jeweils m.w.N.).
Die Anfechtungsklage war auch nicht verfristet, da die Prozessbevollmächtigte des Klägers in der Klageschrift vom 23.11.2022 einen Zugang des Widerspruchsbescheides erst am 16.11.2022 geltend gemacht hat. Bereits im Verfahren der Untätigkeitsklage S 23 SB 3030/22 ist mit Schreiben vom 17.11.2022 ein früherer Zugang des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 verneint worden, woraufhin der Beklagte mit Schreiben vom 16.01.2023 eingeräumt hat, dass für einen Zugang vor Erhebung der Untätigkeitsklage kein Nachweis besteht. Daher kann ein Zugang des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 vor dem 16.11.2022 nicht festgestellt werden, sodass die Klage am 23.11.2022 innerhalb der einmonatigen Klagefrist erhoben worden ist.
Die Klage ist hinsichtlich des Rechtsschutzbegehrens der Anfechtungsklage auch begründet. Das SG hat den Bescheid vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 im Ergebnis zu Recht aufgehoben.
Die Aufhebung der angegriffenen Bescheide folgt jedoch nicht – wovon das SG ausgegangen ist – aus einer unzutreffenden Beurteilung des Beklagten bezüglich der Voraussetzungen für die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises. Die Begründetheit der Anfechtungsklage folgt vielmehr daraus, dass es sich um einen nichtigen Scheinverwaltungsakt handelt.
Zwar kann die Ablehnung einer Realhandlung eine Regelung darstellen, wenn die Realhandlung Konsequenz einer von Sachgründen getragenen Entscheidung ist (BSG, Urteil vom 21.03.2006 – B 2 U 24/04 R – juris Rn. 25; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 15.11.2023, § 31 Rn. 41). Zudem kann etwa beim feststellenden Verwaltungsakt die Regelungswirkung sich darauf beschränken, eine materielle Rechtslage in Bezug auf einen Einzelfall als Ergebnis eines behördlichen Prüfungsvorgangs verbindlich festzustellen (vgl. Luthe, a.a.O., Rn. 40 m.w.N.). Ein typischer Fall des Formalverwaltungsaktes liegt hingegen vor, wenn die Behörde ein Schreiben ohne Regelungscharakter mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versieht und dieses damit formal zu einem VA macht (Engelmann in: Schütze, SGB X-Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 31 Rn. 38 m.w.N.). Die Ausstellung eines nur befristeten Schwerbehindertenausweises stellt nach den obenstehenden Ausführungen lediglich ein Realhandeln der Verwaltung ohne eigenständigen Regelungsgehalt dar. Daher enthält auch die Ablehnung eines unbefristeten Ausweises keine in einem Verwaltungsakt zu treffende Regelung eines Einzelfalles. Der Bescheid vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 stellt somit einen Scheinverwaltungsakt dar, welcher den Rechtsschein erweckt, in einer bestandskraftfähigen Regelung das Nichtbestehen eines Anspruchs des Klägers auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises verbindlich festzustellen, und daher aufzuheben war.
Hierfür ist es unerheblich, dass der Beklagte bereits mit Schreiben vom 12.01.2022 formlos die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises verweigert hatte und erst auf Drängen der Prozessbevollmächtigten des Klägers ein „rechtsmittelfähiger Bescheid“ erging.
Hinsichtlich des Rechtsschutzbegehrens der Leistungsklage hingegen ist die Klage unbegründet. Das SG hat den Beklagten insofern zu Unrecht verurteilt, dem Kläger einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis auszustellen, da dieser hierauf keinen Anspruch hat.
Die Befristung des Ausweises ist rechtmäßig erfolgt. Nach § 152 Abs. 5 Satz 3 SGB IX soll die Gültigkeitsdauer des Ausweises befristet werden. Ein Anspruch auf Ausstellung eines unbefristeten Ausweises ergibt sich daher auch im Hinblick auf die dem Ausweis zu Grunde liegende – regelmäßig erfolgende – unbefristete Feststellung des GdB und der damit verbundenen Schwerbehinderteneigenschaft nicht. Aus dem Wort „soll“ in § 152 Abs. 5 Satz 3 SGB IX folgt, dass der Beklagte den Ausweis in der Regel befristen muss, er jedoch in atypischen Fällen hiervon abweichen kann. Dies ergibt sich auch aus einer Parallele zu den von dem BSG insoweit zur Sollvorschrift des § 48 Abs.1 Satz 2 SGB X angestellten Erwägungen (so LSG Thüringen, Urteil vom 14.10.2021 – L 5 SB 1259/19 – juris Rn. 22 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 30.06.2016 – B 5 RE 1/15 R – juris; Senatsurteil vom 18.02.2022 – L 8 SB 2527/21 – juris Rn. 26).
§ 6 Abs. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) sieht eine Befristung auf längstens fünf Jahre vom Monat der Ausstellung an vor. In den Fällen, in denen eine Neufeststellung wegen einer wesentlichen Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, nicht zu erwarten ist, kann der Ausweis unbefristet ausgestellt werden. Die Befristung hat den Grund, dass geprüft werden kann, ob die im Ausweis dokumentierten Merkmale noch den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen und ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen noch vorliegen (vgl. BT-Drs. 15/2318, S. 23; LSG Baden-Württemberg, a.a.O.). Daraus ergibt sich ebenfalls, dass eine Befristung der Regelfall ist, während eine unbefristete Ausstellung nur in atypischen Fällen erfolgen kann.
Ein die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises rechtfertigender atypischer Fall kann vorliegend – entgegen der Auffassung des SG und der Klägerseite – nicht festgestellt werden.
Der Senat vermag nicht festzustellen, dass eine Neufeststellung wegen einer wesentlichen Änderung in den für die GdB-Feststellung maßgebenden gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers nicht mehr zu erwarten ist. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist oftmals eine Besserung durch intensive Therapien und medikamentöse Behandlung jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen (vgl. Senatsurteil vom 29.09.2023 – L 8 SB 1641/23 – juris Rn. 25).
Im vorliegenden Fall beruht die Feststellung eines GdB von 80 beim Kläger im Wesentlichen auf einer anhaltend dekompensierten (vorbestehenden, vielschichtigen) Persönlichkeitsstörung bei gleichzeitig eher niedrigem Persönlichkeitsstrukturniveau in breiter Überlappung mit Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit im Ausmaß schon Psychose-vergleichbaren Funktionsstörungen in der Teilhabe sowie einem eher sekundären Alkoholabusus klinisch wie elektrophysiologisch ohne alkoholtoxische Folgeschäden. Das Bestehen dieser Gesundheitsstörungen entnimmt der Senat dem im Wege des Urkundsbeweises verwertbaren Gutachten des B3 aus dem vormaligen Klageverfahren S 26 SB 2105/19. Entsprechend dem Bewertungsvorschlag des B3 mit einem GdB von 80 für die psychische Erkrankung wurde im anschließenden gerichtlichen Vergleich ein GdB von 80 beim Kläger festgestellt, wohingegen die Wirbelsäulenbeschwerden in der versorgungsärztlichen Stellungnahme des B5 vom 26.02.2021 – auch nach fehlenden Anhaltspunkten für organneurologische Störungen im Gutachten des B3 – weiterhin mit einem GdB von 10 bewertet wurden.
Bereits B3 hat dargelegt, dass langfristig eine richtungsweisende Stabilisierung nicht auszuschließen ist. Zwar hat er dies auch unter Intensivierung der Behandlung als nicht in bereits absehbarer Zeit erwartbar eingeordnet. Dies ist allerdings auch nicht erforderlich. Die Befristung der Gültigkeitsdauer des Schwerbehindertenausweises auf längstens 5 Jahre bringt bereits zum Ausdruck, dass auch bei einer erst nach mehrjähriger Behandlung erwartbaren Änderung des Gesundheitszustandes noch kein unbefristeter Schwerbehindertenausweis auszustellen ist. Eine vergleichbare Einschätzung ergibt sich aus den ebenfalls im Wege des Urkundsbeweises verwertbaren sachverständigen Zeugenauskünften der Behandler des Klägers im Klageverfahren S 26 SB 2105/19. So haben die Z1 im Dezember 2019 bereits eine langsame Stabilisierung auf niedrigem Niveau seit Behandlungsbeginn im März 2018 beschrieben und die Hoffnung auf eine Rückläufigkeit des schädlichen Alkoholmissbrauchs und der Panikstörung im Verlauf bei Besserung bzw. Verarbeitung der Traumata und Erlernen von alternativen Verhaltensmöglichkeiten angegeben, wenngleich eine Heilung nicht zu erwarten sei. Auch S1 gab im November 2019 bereits eine erzielte teilweise Verminderung der Symptomatik an, wobei eine graduelle Besserung bei weiterer Psychotherapie erreicht werden könne, wenngleich die Gesundheitsstörungen den Kläger vermutlich ein Leben lang begleiten würden.
Eine Aussicht auf Heilung ist für die Frage einer erwartbaren Besserung des Leidens nicht erforderlich. Ebenso wenig kommt es auf die Prognose der Wiederherstellbarkeit einer verminderten bzw. aufgehobenen Erwerbsfähigkeit an, zumal die GdB-Bewertung nicht nur Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben in den Blick nimmt, sondern die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen zum Inhalt hat (vgl. Teil A Nr. 2 lit. a Versorgungsmedizinische Grundsätze [VG]). Vielmehr ist eine GdB-relevante Änderung des Gesundheitszustandes schon dann nicht mehr ausgeschlossen, wenn eine hinreichende Stabilisierung möglich ist, aufgrund derer statt eines GdB von 80 nur noch ein GdB von 70 festzustellen wäre. Im Bereich der Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen nach Teil B Nr. 3.7 VG entspräche dies bei fortbestehender schwerer Störung dem Übergang von schweren zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten.
Angesichts der dargelegten Ausführungen im Gutachten des B3 und in den sachverständigen Zeugenauskünften der Z1 und des S1 erachtet der Senat eine solche GdB-relevante zumindest graduelle Besserung bzw. Stabilisierung durch eine Fortsetzung oder Intensivierung der Therapie als hinreichend möglich.
Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die möglichen Therapieoptionen bisher nicht umfassend wahrgenommen wurden. So lehnte der Kläger im Anschluss an die tagesklinische Rehabilitationsmaßnahme in der L1 etwa die angebotene Teilnahme an einer Rehanachsorgegruppe ab und auch eine Durchführung der dort empfohlenen stationären Akutbehandlung ist nicht ersichtlich. Auch von S1 wurde am 21.12.2020 eine stationäre Behandlung vorgeschlagen, vom Kläger jedoch abgelehnt. Gegenüber B3 gab der Kläger ebenfalls an, eine stationäre Krankenhausbehandlung nicht zu wollen, zu einer neuerlichen teilstationären Rehabilitationsmaßnahme jedoch bereit zu sein.
Soweit M2 in seinen Berichten vom 15.08.2023 und vom 27.09.2023 sowie S1 in seinem Bericht vom 07.08.2023 jeweils angegeben haben, „eine signifikante gesundheitliche Besserung (sei) nicht mehr zu erwarten“, vermag der Senat unter Berücksichtigung der beigezogenen Dokumentationen zum Behandlungsverlauf nicht nachzuvollziehen, dass selbst eine zumindest graduelle GdB-relevante Stabilisierung nicht mehr zu erwarten sein soll. Ungeachtet der Tatsache, dass die Aussage des M2 einschließlich der fettgedruckten Hervorhebung ausweislich der Behandlungsdokumentation auf ausdrücklichen Wunsch des Klägers erfolgt ist, steht die Einschätzung insbesondere im Widerspruch zu immer wieder berichteten Stabilisierungen und Fortschritten in der Therapie des Klägers. So hat etwa M2 in einem Bericht vom 08.12.2022 angegeben, dass sich durch Unterstützung und Anleitung durch eine anwesende Person die Symptomatik in den vergangenen Monaten stabilisiert hatte. S1 hat in einem „Bericht zur Einstufung der Pflegestufe“ vom 19.10.2022 angegeben, dass die schwere Symptomatik sich zwar sehr langsam zurückentwickelt und die Einschränkungen im Lebensvollzug in den folgenden Jahren voraussichtlich fortbestehen, dass aber durch die tägliche häusliche Unterstützung und Ansprache der psychische Zustand des Klägers sich stark gebessert hat. In den Berichten zur Fortführung der Langzeittherapie vom 12.11.2020, 08.05.2022 und 13.09.2023 hat S1 jeweils eine zunehmende Stabilisierung des Klägers und eine ausreichend günstige Prognose angegeben, zuletzt etwa mit weniger depressiver Stimmung, zurückgegangener Anspannung und Angst, verbesserter Tagesstrukturierung bei Hilfe im Haushalt durch eine viermal wöchentlich kommende ambulante Pflegekraft sowie einem halbjährigen Verzicht auf massiven Alkoholkonsum zur Spannungsreduktion in Krisensituationen. Bei Auftreten einer Krebserkrankung des Stiefvaters, der ein zweites positives und stabiles väterliches Objekt für den Kläger darstellt, konnte er sich überraschend stabil halten. Als Behandlungsziel wurde zuletzt auch die Erarbeitung eines tragfähigen sozialen Netzes mit Anbindung an den sozialpsychiatrischen Dienst, Selbsthilfegruppe, Freizeitgruppe, etc. genannt.
Im Sitzungsprotokoll des S1 finden sich ebenfalls wiederholt Beschreibungen einer Stabilisierung gegenüber den im Gutachten des B3 angegebenen und dem GdB von 80 zugrundegelegten Funktionseinschränkungen. Gegenüber B3 hatte der Kläger etwa angegeben, soziale Kontakte lediglich zu seinen Behandlern, telefonisch gelegentlich zu seinem Bruder und seiner Mutter zu haben und von der Mutter etwa alle 2 Monate für ca. 1 Stunde zur Unterstützung bei der Reinigung der aufgelaufenen Wäsche und des aufgelaufenen Geschirrs besucht zu werden. Zudem hat er bei B3 angegeben, das Haus nur für Arztbesuche zu verlassen und 3 Wochen zuvor erstmals einen als unangenehm erlebten Spaziergang versucht zu haben. Hingegen beschrieb S1 etwa im April und Mai 2021 eine sichtliche Besserung und deutliche Stabilisierung bei Berichten des Klägers u.a. über einen 2-tägigen Besuch durch seinen damals 20-jährigen Sohn mit zwei 2-stündigen Spaziergängen, ferner über Rasenmähen, 4-mal wöchentliche Aufenthalte auf dem Balkon für eine Viertelstunde und Aufenthalte bei schönem Wetter in einer uneinsehbaren Ecke im Garten. Einen Kontakt im Dezember 2022 mit seinem biologischen Vater, welchem die die posttraumatische Belastungsstörung begründenden Traumatisierungen angelastet werden, konnte der Kläger sehr gut bewältigen. Auch in der Folge hat der Kläger etwa im März 2023 Kontakt zu seinem Sohn und seiner noch etwas jüngeren Tochter gesucht, wobei während des Besuchs des Sohnes im April 2023 eine sehr stabile und gute Stimmung beschrieben worden ist. Mit Schreiben vom 14.06.2024 hat S1 über eine Verminderung der Flashbacks und von deren Bewältigung durch Selbstverletzungen und Alkoholmissbrauch berichtet. Am 27.05.2024 hat der Kläger gegenüber S1 berichtet, keine Angst mehr zu haben, was er auf die Beschäftigung durch seine beratende Unterstützung gegenüber der Mutter und dem krebskranken Stiefvater aufgrund seiner Erfahrung mit Pflegekräften zurückgeführt hat. Zudem hat er bedauert, die Therapie nicht früher begonnen zu haben, da er dadurch 15 Jahre „verschwendet“ habe, in denen er nicht richtig lebte, sondern nur ängstlich funktionierte, wohingegen er sich jetzt mal in den Park setzen und die Welt wahrnehmen könne.
In diesen Verlaufsbeobachtungen zeigen sich – insbesondere im Vergleich zu den Schilderungen noch gegenüber B3 – durchaus bereits Ansätze einer Stabilisierung. Diese betrifft sowohl den sozial-kommunikativen Bereich, der für die Beurteilung sozialer Anpassungsschwierigkeiten bedeutsam ist, als auch die insgesamt im Rahmen von Teil B Nr. 3.7 VG relevante Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Angesichts dieser bereits erzielten Stabilisierungen vermag der Senat nicht festzustellen, dass eine auch nur graduelle GdB-relevante Veränderung im Gesundheitszustand des Klägers nicht mehr zu erwarten wäre.
Keine abweichende Beurteilung rechtfertigen die klägerseits kurz vor und in der mündlichen Verhandlung noch vorgelegten Unterlagen. Das Schreiben des M2 vom 07.03.2025, wonach für eine Teilnahme des Klägers an der mündlichen Verhandlung eine An- und Heimreise per Taxi empfehlenswert sei, enthält keine Aussage zur prognostischen Entwicklung der Erkrankung. Soweit M2 im Schreiben vom 14.11.2024 angegeben hat, „auch“ aktuell keine Möglichkeit einer weiteren und dauerhaften Verbesserung zu sehen, ist diese Einschätzung nicht schlüssig aus dem vorstehend dargestellten Therapieverlauf entwickelt worden; ein konkreter aktueller psychopathologischer Befund ist nicht mitgeteilt worden. Die Angabe einer neuerlichen Verschlechterung vor dem Hintergrund eines Einbruchs in das Wohnhaus des Klägers sagt nichts darüber aus, inwiefern nicht auch diese Entwicklung – ähnlich wie der überraschende Kontakt des Klägers zu seinem biologischen Vater Ende 2022 – mit therapeutischer Unterstützung wieder verarbeitet und kompensiert werden könnte. Soweit S1 in seinem Schreiben vom 20.03.2025 angegeben hat, der Kläger werde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch langfristig viel Unterstützung bei der Bewältigung seines Alltags benötigen, wird damit eine zumindest graduelle Besserung nicht ausgeschlossen. Vielmehr hat S1 im benannten Schreiben eine bereits erreichte graduelle Stabilisierung/Verbesserung durchaus bestätigt. So wird etwa eine angstbedingte mehrwöchige Unfähigkeit zum Verlassen der Wohnung bereits bei geringfügigen Belastungen wie einem Gerichtsschreiben lediglich auf die Vergangenheit („früher“) bezogen. Als Ausdruck einer gewissen bereits erreichten Stabilisierung kann auch gewertet werden, dass der Kläger sich im Zusammenhang mit einem anstehenden Umzug nach G1 nunmehr zutraut, sich seinen massiven sozialen Ängsten mit langfristiger und regelmäßiger professioneller Unterstützung in Kleingruppen zu stellen.
Auch soweit ein atypischer Fall i.S.d. § 152 Abs. 5 Satz 3 SGB IX anzunehmen ist, wenn der für den Kläger mit der Beantragung eines neuen Schwerbehindertenausweises verbundene Aufwand vom Normalfall derart abweicht, dass der Kläger deutlich stärker belastet wird, als es bei den Schwerbehinderten der Fall ist, die nach Ablauf der Befristung regelmäßig die Ausstellung eines neuen Ausweises beantragen müssen (LSG Thüringen, Urteil vom 14.10.2021 – L 5 SB 1259/19 – juris Rn. 23), vermag der Senat diese Voraussetzungen eines atypischen Falles nicht festzustellen. Bereits der vormalige M1 hat in seiner im Wege des Urkundsbeweises verwertbaren sachverständigen Zeugenauskunft vom 20.12.2019 im Verfahren S 26 SB 2105/19 ein sehr gezieltes Vorgehen des Klägers bezüglich dessen Wunsches nach sozialer Absicherung beschrieben. Auch die eigenen Schreiben des Klägers gegenüber dem Landratsamt in der Vergangenheit lassen keine wesentliche Einschränkung erkennen, Begehren gegenüber der Behörde zum Ausdruck zu bringen. S1 hat am 06.09.2021 nach Durchsetzung des Pflegegrades 2 ausgeführt, dass es mit den Ämtern prima klappt und der Kläger sich intensiv damit beschäftigen kann, wenn er den Eindruck hat, von Behördenseite werde ihm Unterstützung vorenthalten. Im erstinstanzlichen Verfahren vor dem SG hat der Kläger zudem im Rahmen des Erörterungstermins vom 05.09.2023 angegeben, sich die Wahrnehmung einer mündlichen Verhandlung zuzutrauen, obwohl er auch auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung hingewiesen worden ist. Die mündliche Verhandlung am 27.11.2023 hat dann auch tatsächlich in Anwesenheit des Klägers stattgefunden, ebenso die mündliche Verhandlung vor dem Senat am 21.03.2025, obwohl entsprechend einer telefonischen Anregung seiner Prozessbevollmächtigten das persönliche Erscheinen des Klägers im Vorfeld nicht angeordnet worden ist. Dass eine Antragstellung auf Ausstellung eines neuen Schwerbehindertenausweises eine unzumutbare Belastung darstellen würde, ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar.
Hinzu kommt, dass auch die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises kein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand der zugrundeliegenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft begründet (BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/15 R – juris). Die Ausstellung des Schwerbehindertenausweises sowie die zugrundeliegende Feststellung der Schwerbehinderung stehen vielmehr grundsätzlich von Anfang an unter dem Vorbehalt der Nachprüfung bei Änderung der Verhältnisse (BSG, Urteil vom 11.08.2015 – a.a.O.). Das Landratsamt kann daher jederzeit eine Überprüfung der gesundheitlichen Verhältnisse veranlassen. Somit müsste sich der Kläger auch bei einer unbefristeten Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises mit dem Landratsamt wegen des Fortbestehens seiner die GdB-Bewertung begründenden Einschränkungen auseinandersetzen, zumal im vorliegenden Fall bereits versorgungsärztlich eine zukünftige Nachprüfung im September 2026 ausdrücklich empfohlen wurde.
Vor diesem Hintergrund vermag der Senat – auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer GdB-relevanten zumindest graduellen Besserung der Gesundheitsstörungen des Klägers mit der Folge einer Neufeststellung – keine derartige Belastung des Klägers durch das Erfordernis der Beantragung eines neuen Schwerbehindertenausweises nach Ablauf des Gültigkeitszeitraums des alten Ausweises zu erkennen, welche im vorliegenden Fall die Annahme eines atypischen Falles für die ausnahmsweise Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises begründen könnte.
Die nach § 6 Abs. 2 SchwbAwV maximale Befristung von 5 Jahren hat der Beklagte mit der Befristung des am 27.07.2021 ausgestellten Ausweises bis zum 31.08.2026 bereits ausgeschöpft.
Daher war auf die Berufung des Beklagten hinsichtlich dessen Verurteilung zur Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises das Urteil des SG aufzuheben und die Klage zurückzuweisen. Im Übrigen – hinsichtlich der erfolgreichen Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 – war die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Der Senat hat dabei berücksichtigt, dass die Aufhebung des nichtigen Bescheides vom 02.03.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2022 gemessen am Rechtsschutzbegehren des Klägers nur von untergeordneter Bedeutung ist, und er mit seinem zentralen Anliegen der Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises keinen Erfolg hatte.
Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.