Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 5. September 2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung zumindest nach Pflegegrad 2 streitig.
Der 1961 geborene Kläger ist bei der Beklagten sozial pflegeversichert. Er leidet nach Misshandlungen während der Kindheit, die u.a. auch zu Frakturen führten, insbesondere an einer narbigen Veränderung und Muskelminderung im Gesäßbereich beidseits mit Stuhlinkontinenz, weshalb er Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz bezieht. Darüber hinaus leidet er an einer komplexen Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und narzisstischen Zügen, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Ängsten und Depressionen. Der Kläger ist mit Brille, Inkontinenzprodukten und Schuheinlagen versorgt. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin, die mittlerweile Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegegrad 3 bezieht, in einer Zweizimmerwohnung im Hochparterre eines Mehrfamilienhauses; beide unterstützen sich gegenseitig. Der Kläger bezieht seit Juli 2018 Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegegrad 1.
Nachdem Höherstufungsanträge des Klägers in den Jahren 2020 und 2021 jeweils erfolglos geblieben sind, beantragte er am 16. Mai 2022 erneut die Einstufung in einen höheren Pflegegrad. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst Baden-Württemberg (MD), worauf die Pflegefachkraft S1 unter dem 6. Juli 2022 nach Begutachtung aufgrund eines am Vortag durchgeführten Hausbesuchs unter Berücksichtigung der pflegebegründenden Diagnosen Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren einen Gesamthilfebedarf von 15,00 gewichteten Punkten ermittelte. Sie ging dabei in Modul 1 (Mobilität) und Modul 5 (Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) von jeweils 0 gewichteten Punkten (jeweils 0 Einzelpunkte), in Modul 2 (Kognitive und kommunikative Fähigkeiten) von 3,75 gewichteten Punkten (insgesamt 3 Einzelpunkte: Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Fähigkeit größtenteils vorhanden, 1 Einzelpunkt; Beteiligen an einem Gespräch, Fähigkeit in geringem Maße vorhanden, 2 Einzelpunkte), in Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) von 11,25 gewichteten Punkten (insgesamt 6 Einzelpunkte: Nächtliche Unruhe, häufig, 3 Einzelpunkte; Ängste, häufig, 3 Einzelpunkte), in Modul 4 (Selbstversorgung) von 0 gewichteten Punkten (1 Einzelpunkt: Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, überwiegend selbstständig) und in Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) von 3,75 gewichteten Punkten (1 Einzelpunkt: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, überwiegend selbstständig) aus.
Mit Bescheid vom 7. Juli 2022 lehnte die Beklagte den Höherstufungsantrag des Klägers mit der Begründung ab, bei ihm liege eine geringe, aber noch keine erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (27 bis 47,4 Punkte) vor. Der Grad der Beeinträchtigung erreiche den Pflegegrad 2 noch nicht. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und brachte seinen Unmut zum Ausdruck, dass er trotz des von ihm erfahrenen Leids nicht in Pflegegrad 2 oder 3 eingestuft sei. Die Pflegefachkraft S1 habe in ihrem Gutachten zwar seine körperlichen Gebrechen und fehlenden Gliedmaßen (halber Po und kompletter Nasenaufbau) erwähnt, aber nicht als wirklich großen Verlust vom Körper medizinisch beurteilt. Wenn der halbe Po fehle, könne man nicht mehr richtig sitzen und manchmal sogar nur mit Schmerzen. Die ganze Motorik, um den Körper zu lenken, stimme nicht mehr. Man sei immer einen Schritt langsamer als andere mit vollem Po. Besonders bemerkbar mache es sich beim Fahrradfahren, da man nach einer Stunde mehrere Kilometer hinter den anderen herfahre. Auch die Kondition sei vermindert, da irgendwann Schmerzen aufträten und den Bewegungsablauf störten. Darüber hinaus komme der Stuhlgang ohne Fremdeinwirkung, und er blute regelmäßig aus dem Darm, weshalb er nicht mehr schwer tragen dürfe. Zudem verkrampfe das Muskelgewebe seines rechten Beines nach einer Viertelstunde spazieren gehen, wodurch er gezwungen sei, eine kurze Pause einzulegen. Auch das Nasenbein und der komplette Nasenaufbau fehlten sein ganzes Leben, wodurch er unter schwerer Schlafapnoe leide und nur im Stundenrhythmus schlafe. Die Beklagte veranlasste eine weitere Begutachtung durch den MD, wobei die Pflegefachkraft B1 den Unterstützungsbedarf des Klägers unter weiterer Berücksichtigung der vom Kläger unter dem 10. August 2022 abgegebenen „Selbstauskunft zum Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung“ ebenso wie die Vorgutachterin bewertete und damit gleichermaßen zu 15,00 gewichteten Gesamtpunkten gelangte (Gutachten nach Aktenlage vom 14. Oktober 2022). Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2023 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch des Klägers zurück.
Am 19. Februar 2023 erhob der Kläger beim Sozialgericht Konstanz (SG) Klage und machte geltend, der Pflegegrad sei mindestens auf 3 zu erhöhen. Durch körperliche Misshandlungen in Elternhaus, Kloster und Kinderheim sowie „Ärztepfusch“ habe er erhebliche Schäden und „Verkrüppelungen“ erlitten und leide unter erheblichen Schmerzen. All dies werde nicht richtig wahrgenommen. In seinem ganzen unteren Körper sei die Motorik kaputt und das Fehlen des kompletten Nasenaufbaus führe zu vielen Krankheitsbildern. Sein linkes Bein sei um ein Vielfaches kleiner und seine Psyche sei komplett angegriffen. Er sei gesundheitlich und finanziell immer im Nachteil gewesen.
Die Beklagte trat der Klage unter Aufrechterhaltung ihres Standpunktes entgegen. Der Kläger nehme nicht zur Kenntnis, dass die Ausprägung der Pflegebedürftigkeit nicht durch die Schwere der bestehenden Erkrankungen ermittelt werde, sondern durch die daraus resultierenden Einschränkungen der Selbständigkeit.
Das SG zog bei dem behandelnden W1 medizinische Unterlagen bei und holte das Gutachten des E1 vom 15. Juni 2023 ein, der den Hilfebedarf des Klägers aufgrund seiner Untersuchung im häuslichen Bereich am 14. Juni 2022 mit insgesamt 18,75 gewichteten Punkten bewertete. Er gelangte in den Modulen 1, 4 und 5 zu 0 gewichteten Punkten (0 Einzelpunkte), ebenso in Modul 2, in dem er 1 Einzelpunkt (Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Fähigkeit größtenteils vorhanden) berücksichtigte. In Modul 3 gelangte er zu 15 gewichteten Punkten (11 Einzelpunkte: Verbale Aggression, häufig, 3 Einzelpunkte; Wahnvorstellungen, täglich, 5 Einzelpunkte; Ängste, häufig, 3 Einzelpunkte) und in Modul 6 zu 3,75 gewichteten Punkten (3 Einzelpunkte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, überwiegend selbstständig, 1 Einzelpunkt; Ruhen und Schlafen, überwiegend unselbstständig, 2 Einzelpunkte).
Mit Gerichtsbescheid vom 5. September 2023 wies das SG die Klage gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen E1 ab. Dieser habe aufgrund seines Hausbesuchs und ausführlicher Befragung des Klägers sowie unter Auswertung der Akten den aus den gesundheitlichen Einschränkungen bzw. Behinderungen resultierenden Hilfebedarf des Klägers nachvollziehbar dargelegt und begründet. Der Kläger sei ausreichend mobil, sein Gangbild flüssig und sicher; er könne Treppen steigen und innerhalb der Wohnung gehen. Seine Hände seien in der Grobkraft, Feinmotorik und Greiffunktion nicht beeinträchtigt, und er könne sich selbst versorgen, so dass in Modul 1 und 4 keine Punkte zu vergeben seien. Entsprechendes gelte für Modul 5, da der Kläger Ärzte ohne Hilfe aufsuchen könne. In Modul 3 sei ein Unterstützungsbedarf wegen verbaler Aggression, Wahnvorstellungen und Ängsten zu berücksichtigen, wodurch 15 gewichtete Punkte erreicht würden. In Modul 6 benötige der Kläger bei der Gestaltung des Tagesablaufes und beim Ruhen und Schlafen (Einschlafprobleme bzw. nächtliche Unruhe) Hilfe, wodurch sich 3,75 gewichtete Punkte ergäben. Mit den danach ermittelten 18,75 gewichteten Punkten seien die für einen höheren Pflegegrad erforderlichen mindestens 27 Punkte – ebenso wie nach den Gutachten der Pflegefachkräfte des MD – deutlich nicht erreicht.
Hiergegen hat der Kläger am 5. Oktober 2023 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, das SG habe die aus den pflegebegründenden Diagnosen resultierenden Einschränkungen nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem sei eine massive Verschlechterung eingetreten, die neue Feststellungen erforderten. Er leide insbesondere unter immer schlimmer werdenden und immer häufiger auftretenden Schmerzen. Diese wirkten sich massiv auf seine Mobilität aus. Zum Teil könne er sich gar nicht mehr bewegen, sodass er völlig in der Bewegung eingeschränkt und auf Unterstützung angewiesen sei. Er verweise insoweit auch auf die festgestellte Arthrose, die erhebliche Einschränkungen verursache. Auch zeigten sich massive Einschränkungen in der Motorik. Diese nicht hinreichend berücksichtigten Aspekte führten zu einer veränderten Einzeleinstufung und einer höheren Gesamtpunktzahl. Auf die Bitte des Senats, konkret darzulegen, welche Einschränkungen nicht bzw. nicht ausreichend berücksichtigt worden seien, bei welchen Kriterien in den Modulen 1 bis 6 die Bewertung für unzutreffend erachtet wird und seit wann die angegebene Verschlimmerung bei welchen Kriterien zu einem veränderten Hilfebedarf geführt habe, hat sich der Kläger durch seinen damaligen Prozessbevollmächtigten nicht geäußert.
Am 6. Februar 2024 hat der Kläger einen weiteren Höherstufungsantrag gestellt, den die Beklagte nach Hinzuziehung des MD und Einholung des Gutachtens der Pflegefachkraft R1 vom 6. März 2024 mit Bescheid vom 8. März 2024 abgelehnt hat. Das Gutachten wurde nach Aktenlage erstattet, nachdem der Hausbesuch vom 5. März 2024 wegen Androhung von Gewalt abgebrochen wurde. Die Gutachterin gelangte in den Modulen 1, 4 und 5 zu 0 gewichteten Punkten (0 Einzelpunkte), in Modul 2 zu 3,75 gewichteten Punkten (2 Einzelpunkte: Beteiligen an einem Gespräch, in geringem Maße vorhanden), in Modul 3 zu 11,25 gewichteten Punkten (5 Einzelpunkte: Ängste, täglich) und in Modul 6 zu 3,75 gewichteten Punkten (1 Einzelpunkt: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, überwiegend selbstständig), mithin zu insgesamt 15,00 gewichteten Gesamtpunkten.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 5. September 2023 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 7. Juli 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2023 zu verurteilen, ihm vom 1. Mai 2022 bis zum 31. Januar 2024 Leistungen zumindest nach Pflegegrad 2 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Berichterstatterin des Senats hat mit den Beteiligten am 24. Mai 2024 einen Erörterungstermin durchgeführt, im Rahmen dessen die Beklagte die im Zusammenhang mit dem Höherstufungsantrag vom 6. Februar 2024 angefallenen Unterlagen vorgelegt hat.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verfahrensakten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe
1. Die nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG. Denn der Kläger begehrt höhere Leistungen der Pflegeversicherung seit 1. Mai 2022 und damit laufende (höhere) Leistungen für mehr als ein Jahr.
2. Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren des Klägers auf Leistungen der Pflegeversicherung zumindest nach Pflegegrad 2 vom 1. Mai 2022 bis zum 31. Januar 2024. Streitbefangen ist der Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2023 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Gewährung von Leistungen nach dem höheren Pflegegrad 2 ablehnte. Zeitlich wurde der streitbefangene Zeitraum durch die Bescheidung des neuen Antrags auf höhere Leistungen des Klägers vom 6. Februar 2024 begrenzt. Dieser neue Antrag stellt eine Zäsur dar, ab der sich die streitbefangenen Bescheide mit Wirkung vom Beginn des Antragsmonats (des neuen Antrags) nach § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für die Zukunft erledigt haben (Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 11. November 2021 – B 3 P 2/20 R – juris, Rn. 9 und vom 17. Februar 2022 – B 3 P 6/20 R – juris, Rn. 10). Die Beklagte hat diesen Antrag mit Bescheid vom 8. März 2024 beschieden.
3. Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat im noch streitbefangenen Zeitraum keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 und damit erst recht nicht nach Pflegegrad 3.
a) Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers auf Leistungen nach einem höheren Pflegegrad ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – wie die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach einem bestimmten Pflegegrad (vgl. BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R – juris, Rn. 16 zur früheren Pflegestufe) – mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse ist dabei wesentlich, wenn sie zu einer anderen rechtlichen Bewertung führt, sich also auf den Leistungsanspruch des Versicherten auswirkt (Schütze, in: ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 48 Rn. 15). Damit richtet sich die Feststellung einer wesentlichen Änderung nach dem für die Leistung maßgeblichen materiellen Recht (zum Ganzen: Senatsurteil vom 25. Februar 2022 – L 4 P 3969/19 – juris, Rn. 39 m.w.N.).
b) Eine wesentliche Änderung in diesem Sinne liegt nicht vor. Denn der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen des höheren Pflegegrades 2, sondern lediglich die des Pflegegrades 1, wie bereits zuerkannt.
aa) Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI; hier in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 13a Drittes Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften [Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III] vom 23. Dezember 2016, BGBl. I, S. 3191) können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (§ 37 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). An diesen Voraussetzungen hat sich auch durch die Neufassungen der Norm nichts geändert.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind Personen dann pflegebedürftig, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug auf: Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel, Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung, zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen der Haushaltsführung und der außerhäuslichen Aktivitäten werden nicht zusätzlich berücksichtigt, sondern fließen in die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit ein, soweit sie in den oben genannten Bereichen abgebildet sind. Darüber hinausgehende Beeinträchtigungen in diesen beiden Bereichen wirken sich mithin nicht auf die Bestimmung des Pflegegrades aus (vgl. § 14 Abs. 3 SGB XI; zum Ganzen: Meßling, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, Stand: September 2024, § 14 Rn. 278 ff. m.w.N.). Sowohl die Auflistung der sechs Pflegebereiche als auch die zu deren Konkretisierung aufgeführten Pflegekriterien bilden einen abschließenden Katalog, der nicht um - vermeintlich fehlende - zusätzliche Kriterien oder gar Bereiche ergänzt werden kann (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 130). Inhaltlich erfahren die Pflegekriterien eine nähere Bestimmung durch die auf Grundlage des § 17 Abs. 1 SGB XI mit Wirkung vom 1. Januar 2017 vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen erlassenen Richtlinien zum Verfahren der Feststellung von Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (Begutachtungs-Richtlinien – BRi; insbesondere Ziffern 4.8.3 und 4.9) vom 15. April 2016 (neuerlassen am 21. August 2024 - in Kraft getreten am 26. September 2024). Soweit sich diese untergesetzlichen Regelungen innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, sind sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 97 m.w.N.; zum alten Recht vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 7/97 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 13. Mai 2004 – B 3 P 7/03 R – juris, Rn. 32 m.w.N.; BSG, Urteil vom 6. Februar 2006 – B 3 P 26/05 B – juris, Rn. 8).
Nach § 15 Abs. 1 SGB XI erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad). Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt, wobei dieses in sechs Module, entsprechend den oben genannten Bereichen, gegliedert ist. Die Kriterien der einzelnen Module sind in Kategorien unterteilt, denen Einzelpunkte entsprechend der Anlage 1 zu § 15 SGB XI zugeordnet werden. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit
oder der Fähigkeiten dar (§ 15 Abs. 2 Satz 3 SGB XI). Die Einzelpunkte in den jeweiligen Modulen werden sodann addiert und entsprechend der Anlage 2 zu § 15 SGB XI einem jeweiligen Punktbereich zugeordnet, aus dem sich die gewichteten Punkte ergeben. Insgesamt wird für die Beurteilung des Pflegegrades die Mobilität mit 10 Prozent, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent, die Selbstversorgung mit 40 Prozent, die Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent und die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent gewichtet (§ 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI).
Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der nachfolgenden Pflegegrade einzuordnen: ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI).
bb) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht zur Überzeugung des Senats fest, dass beim Kläger im streitbefangenen Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zumindest nach Pflegegrad 2 nicht vorliegen. Er erreicht nicht die hierfür notwendigen zumindest 27,00 gewichteten Gesamtpunkte. Das SG hat in der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen E1 den aus den Gesundheitsstörungen des Klägers resultierenden Hilfebedarf im Einzelnen dargestellt und zutreffend ausgeführt, dass und aus welchen Gründen hierdurch die erforderlichen 27,00 gewichteten Punkte nicht erreicht werden. Der Senat schließt sich den Ausführungen des SG zur Vermeidung von Wiederholungen nach eigener Überprüfung an und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG). Ebenso wie der Sachverständige E1 gelangten im Übrigen auch die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren hinzugezogenen S1 und B1 bei weitem nicht zu den für eine Einstufung in Pflegegrad 2 erforderlichen 27,00 gewichteten Gesamtpunkten. Auch die auf den neuerlichen Höherstufungsantrag des Klägers mit seinem Unterstützungsbedarf befasste R1 ermittelte ausweislich ihres Gutachtens vom 6. März 2024 lediglich 15 gewichtete Punkte. Anhaltspunkte dafür, dass Hilfebedarfe bei den Kriterien der Module 1 bis 6 unberücksichtigt geblieben sind, ergeben sich nicht. Auch auf die ausdrückliche Bitte des Senats, die Kriterien zu benennen, die nach Auffassung des Klägers unzutreffend bewertet worden seien, hat er sich nicht konkretisierend, insbesondere nicht durch seinen damaligen Prozessbevollmächtigten geäußert. Entsprechendes gilt für die im Berufungsverfahren geltend gemachte Verschlimmerung. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass eine Verschlimmerung von Gesundheitsstörungen, bspw. durch stärkere oder häufigere Schmerzen nicht ohne weiteres die Einstufung in einen höheren Pfleggrad rechtfertigt. Denn damit ist nicht zwangsläufig ein (höherer) personeller und auch anrechnungsfähiger Unterstützungsbedarf verbunden.
Der Senat hat sich durch das Berufungsvorbringen des Klägers auch nicht zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen veranlasst gesehen. Das vollständig pauschal gebliebene Vorbringen des Klägers, wonach sich die gesundheitlichen Einschränkungen und Schmerzen verstärkt und verschlechtert hätten, ohne dass Art, Umfang und Zeitpunkt der Verschlechterung und insbesondere der hieraus resultierende erhöhte Hilfebedarf konkretisiert wurden, stellt keinen Grund für die Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen dar. Ohne die Forderung eines Minimums an Vorbringen von rechtskundig Vertretenen ergäbe sich für die Gerichte die Verpflichtung zu „Ermittlungen ins Blaue hinein“ (BSG, Beschluss vom 1. April 2021 – B 9 V 60/20 B – juris, Rn. 18). Das Gebot zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Gerichte generell nicht dazu, Beweise „ins Blaue hinein“ oder Ausforschungsbeweise zu erheben (BSG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 4 RA 60/94 – juris, Rn. 37). Zu Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte besteht zudem auch unter verfassungsrechtlichen Erwägungen keine Verpflichtung (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 9. Oktober 2007 – 2 BvR 1268/03 – juris, Rn. 19; BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 36/18 R – juris, Rn. 18).
Soweit der Kläger auf die Schwere seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Folge der in seiner Kindheit und Jugend erlittenen Misshandlungen hinweist, verkennt der Senat nicht die erlittenen erheblichen Gesundheitsstörungen, die der Kläger während seines Lebens zu bewältigen hatte und weiterhin zu bewältigen hat. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind jedoch nicht als Entschädigung für körperliche und seelische Leiden konzipiert, sondern als ergänzende Hilfen für krankheits- bzw. behinderungsbedingt erforderliche Pflege und Betreuung. Maßgeblich für die Einstufung in einen Pflegegrad ist daher nicht die Schwere einer Erkrankung bzw. Behinderung und die hiermit verknüpften Einschränkungen im täglichen Leben, sondern allein der hieraus resultierende personelle Unterstützungsbedarf bei den oben näher dargelegten, vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriterien in den Modulen 1 bis 6. Die vom Sachverständigen E1 ausgehend hiervon für den Kläger ermittelten 18,75 gewichteten Gesamtpunkte sind nach diesen Vorgaben – wie dargelegt – nicht zu niedrig bemessen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
5. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 P 234/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 2829/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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