L 18 AS 947/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 14 AS 20/22
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 947/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. September 2022 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der 1978 geborene Kläger ist Diplom-Ingenieur (Urkunde der TU Berlin vom 25. Juli 2008) und bezog seit 2008 Arbeitslosengeld II (Alg II). Mit Schreiben vom 16. Juni 2020 stellte er bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) einen Antrag auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente, den er unter dem 12. Januar 2021 damit begründete, dass er seit 2006 unter Depressionen leide und (nur) noch 3 bis 4 Stunden täglich in einer Lehrtätigkeit oder als Programmierer arbeiten könne.

 

Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Mai 2021 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für den Bewilligungsabschnitt vom 1. Juni 2021 bis 31. Mai 2022 in Höhe von (iHv) monatlich 814,- €. Mit Bescheid vom 16. September 2021 gewährte der Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 10. Mai 2021 für Oktober 2021 einen Betrag iHv 500,59 €.

 

Die DRV bewilligte nach Einholung eines Befundberichts des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Allgemeinmedizin Dr. S vom 24. Februar 2021 und auf der Grundlage einer Beurteilung ihres ärztlichen Dezernenten Dr. H vom 7. Oktober 2021 dem Kläger mit Bescheid vom 15. Oktober 2021 ausgehend von einem Versicherungsfall vom 17. Juni 2020 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2023. Für die Zeit vom 1. Januar 2021 bis 30. November 2021 ermittelte sie einen rechnerischen Nachzahlungsbetrag iHv 2.809,56 €, der nicht ausgekehrt wurde. Ab Dezember 2021 wurde die Rente iHv 255,78 € laufend am Monatsende gezahlt.

 

Mit einem Schreiben vom 15. Oktober 2021 informierte die DRV den Beklagten über die Rentengewährung an den Kläger, wies darauf hin, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter drei Stunden täglich arbeitsfähig sei, und bat um baldmöglichste Bezifferung eines Erstattungsanspruchs. Daraufhin hob der Beklagte mit Bescheid vom 9. November 2021 die Bewilligungsentscheidung für die Zeit ab 1. Dezember 2021 mit der Begründung auf, dass der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II mit der Gewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung entfalle.

 

Mit dem Widerspruch vom 15. November 2021 gegen den Bescheid vom 9. November 2021 machte der Kläger geltend: Er stehe bis zur ersten Rentenzahlung völlig mittellos da. Außerdem bestehe ein tatsächlicher Rentenanspruch gar nicht. Der letzte Befundbericht sage das Gegenteil aus. Am 15. November 2021 stellte der Kläger einen Antrag beim Landrat des Landkreises Oder-Spree – Sozialamt – (im Folgenden: Sozialamt) wegen der Gewährung von ergänzenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe - (SGB XII). Das Sozialamt regte mit Schreiben vom 23. November 2021 an, einen Antrag auf ein Überbrückungsdarlehen zu stellen. Am 29. November 2021 bewilligte das Sozialamt dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt für Dezember 2021 iHv 558,22 € und für die Zeit vom 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2023 iHv 561,22 € monatlich. Wegen Erhöhung der Kaltmiete um 10,- € wurden mit Änderungsbescheid vom 6. Dezember 2021 für den Monat Dezember 2021 sodann 568,22 € bewilligt und zugleich eine Direktüberweisung der Leistungen für die Unterkunft und Heizung an den Vermieter ab 1. Januar 2022 verfügt. Dem Kläger war ferner mit Bescheid des Sozialamtes vom 30. November 2021 für den Monat Dezember 2021 ein Darlehen in Höhe von 255,- € zur Sicherung des Lebensunterhaltes bis zur ersten Rentenzahlung gewährt worden.

 

Tatsächlich wurden dem Kläger am 30. November 2021 Leistungen nach dem SGB XII iHv 558,22 € für Dezember 2021, am 2. Dezember 2021 das Überbrückungsdarlehen iHv 255, € für Dezember 2021 und am 29. Dezember 2021 Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 203,22 € für Januar 2022 per Überweisung ausbezahlt, während die Kosten der Unterkunft iHv 378,- € für Januar 2022 direkt an den Vermieter gezahlt wurden. Weitere 10,- € wurden als Nachzahlung für Dezember 2021 im Januar 2022 ausgekehrt.

 

Mit Ablehnungsbescheid vom 13. Dezember 2021 lehnte es der Beklagte unter Hinweis auf die erfolgte Rentengewährung ab, dem Kläger auf seine Anträge vom 24. und 19. November 2021 Leistungen nach dem SGB II ab 1. Dezember 2021 zu gewähren.

 

Den gegen den Bescheid vom 9. November 2011 erhobenen Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 2022 zurück und führte zur Begründung u.a. aus, es liege keine Beschwer für den Kläger vor, da durchgehend Sozialleistungen an ihn gezahlt würden.

 

Den gegen den Bescheid vom 13. Dezember 2021 erhobenen Widerspruch des Klägers vom 20. Dezember 2021 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2022 zurück; dagegen richtete sich die Klage S 14 AS 88/22 (SG Frankfurt [Oder]). Der bereits am 18. November 2021 gestellte Antrag des Klägers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zwecks vorläufiger Weiterbewilligung von SGB II-Leistungen und der Gewährung eines Bildungsgutscheines wurde mit Beschluss des SG Frankfurt (Oder) vom 9. Juni 2022 - S 14 AS 733/21 ER - abgelehnt.

 

Mit Abhilfebescheid vom 17. Februar 2022 bewilligte das Sozialamt dem Kläger auf seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 6. Dezember 2021 für die Zeit vom 1. Februar 2022 bis 31. Dezember 2023 Hilfe zum Lebensunterhalt iHv 561,22 € monatlich.

 

Den vom Kläger gegen die „ungewollte Frühverrentung“ eingelegten Widerspruch gegen den Bescheid vom 15. Oktober 2021 wies die DRV mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2022 zurück. Hiergegen erhob der Kläger beim SG Frankfurt (Oder) die Klage S 6 R 192/22.

 

Im Klageverfahren gegen den Bescheid vom 9. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2022 hat der Kläger die Weiterzahlung der Leistungen nach dem SGB II über den Monat November 2021 hinaus sowie die Gewährung eines nicht näher bezeichneten Bildungsgutscheins begehrt. Er hat vorgetragen, die Frühverrentung durch die DRV sei bewusst rechtswidrig erfolgt. Die Voraussetzungen für die Bewilligung und Weiterzahlung von Arbeitslosengeld II und die Gewährung eines Bildungsgutscheins lägen vor.

 

Das SG Frankfurt (Oder) hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 21. September 2022 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt. Die zulässige Klage sei unbegründet Der Aufhebungsbescheid vom 9. November 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2022 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Rechtsgrundlage für die Aufhebung der mit Bewilligungsbescheid vom 10. Mai 2021 in Fassung des Änderungsbescheides vom 16. September 2021 bewilligten Leistungen sei § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X). Die Voraussetzungen dieser Norm seien erfüllt. Bereits mit Wirksamwerden des Bescheids der DRV vom 15. Oktober 2021 sei eine Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten, die den Beklagten berechtigt habe, die vorangegangenen Bewilligungsentscheidungen für die Zukunft aufzuheben. Die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II seien nicht mehr erfüllt, denn der Kläger habe infolge der Feststellung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung keinen Leistungsanspruch gegen den Beklagten mehr. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II seien nicht erwerbsfähige Personen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, § 8 Abs. 1 SGB II. Der Rentenversicherungsträger habe die Nichterwerbsfähigkeit des Klägers durch Bescheid verbindlich und bestandskräftig für den Beklagten festgestellt. Dies folge aus § 44a Abs. 2 SGB II, wonach alle gesetzlichen Leistungsträger nach dem Zweiten, Dritten, Fünften, Sechsten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch an die gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsfähigkeit kraft Gesetzes gebunden seien. Die Leistungsbewilligung sei zwingend aufzuheben gewesen. Neben der Rentengewährung sei vielmehr der Sozialhilfeträger für ergänzende Hilfen zuständig und dieser Aufgabe nachgekommen. Aus diesem Grund sei der Beklagte auch für die Gewährung von Bildungsgutscheinen nach dem SGB II nicht mehr zuständig. Anzumerken sei abschließend, dass der Kläger auch keine Beschwer im Sinne eines Rechtsschutzbedürfnisses geltend machen könne, denn sein Bedarf ab dem Monat Dezember 2021 sei durch die Rentengewährung und Leistungen nach dem SGB XII vollumfänglich gedeckt gewesen, ohne dass sich im Vergleich wirtschaftliche Nachteile für den Kläger ergäben hätten.

 

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Während des Berufungsverfahrens hat das SG Frankfurt (Oder) auf die Klage des Klägers mit Gerichtsbescheid vom 17. November 2022 – 6 R 192/22 - den Bescheid der DRV vom 15. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Feststellung begehrt hatte, dass keine volle Erwerbsminderung bestehe. Der angefochtene Bescheid sei unabhängig von der Frage rechtswidrig, ob der Kläger erwerbsgemindert sei. Denn der Kläger habe den Rentenantrag wirksam zurückgenommen. Für die von Anfang an unzulässige Feststellungsklage fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil er sein Ziel auf anderem Wege erreichen könne. Dem Kläger stehe es frei, zB im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII gegen die Bewilligungsbescheide vorzugehen. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG BB), dem mit Schreiben vom 3. April 2023 vom (hiesigen) Beklagten mitgeteilt worden war, dass entgegen der Begründung des Bescheides vom 9. November 2021 kein Gutachten über die Feststellung der Erwerbsfähigkeit iSd § 44a SGB II vorliege, mit Urteil vom 13. April 2023 – L 6 R 703/22 - insoweit als unzulässig verworfen, als sie darauf gerichtet war, den Gerichtsbescheid des SG Frankfurt (Oder) mit anderer Begründung zu bestätigen. Insoweit fehle es an einer Beschwer des Klägers. Soweit die Berufung des Klägers gegen diesen Gerichtsbescheid auf die Feststellung gerichtet gewesen sei, er sei nicht voll erwerbsgemindert, hat das LSG BB die Berufung zurückgewiesen, weil die Feststellungsklage aus Gründen der Subsidiarität unzulässig sei. Ob der Kläger im Dezember 2021 nicht mehr erwerbsfähig gewesen sei, sei in dem gegen den Aufhebungsbescheid des (hiesigen) Beklagten vom 9. November 2021 gerichteten Verfahren zu klären. Mit Urteil vom 14. Dezember 2023 - S 39 AS 1103/20 - hat das SG Frankfurt (Oder) die Klage des Klägers gegen die Versagung und Ablehnung eines am 30. Dezember 2019 beantragten Bildungsgutscheins abgewiesen

 

Im vorliegenden Berufungsverfahren trägt der Kläger vor: Er habe Anspruch auf Alg II und einen Bildungsgutschein im Wert von mindestens 25.000,- €. Seit 16 Jahren kämpfe er um eine Umschulung und wolle keine Rente. Er werde immer nur „verarscht“. Weder die DRV noch der Beklagte könnten die Behauptung der Erwerbsminderung begründen. Von der DRV sei er überhaupt nicht (persönlich) begutachtet worden. In einem Gutachten nach Aktenlage vom März 2019 habe ihm der unter akuten Wahnvorstellungen leidende „Gutachter“ einen Verfolgungswahn unterstellt. Der Beklagte habe ihn aufgefordert, bis zum 10. Januar 2024 einen Rentenantrag zu stellen. Dem sei er natürlich nicht nachgekommen. Es würde ihn freuen, wenn P Frankfurt (Oder) mit Atomwaffen vernichten würde, weil die Richter dort es verdient hätten.

 

Der Kläger beantragt nach seinem Vorbringen,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. September 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2022 aufzuheben und ihm Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Dezember 2021 bis 31. Mai 2022 zu zahlen sowie ihm einen Bildungsgutschein im Wert von mindestens 25.000,- € zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

                die Berufung zurückzuweisen.

 

Er verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und weist darauf hin, dass er nach § 44a Abs. 2 SGB II an die Feststellung des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsfähigkeit gebunden sei. Der Kläger habe selbst den Rentenantrag gestellt, sodass die nur befristet festgestellte Erwerbsminderung nicht durch ein von ihm – dem Beklagten – angeregtes Verfahren nach § 44a SGB II festgestellt worden sei. Im Übrigen sei der Lebensunterhalt des Klägers durch den Sozialhilfeträger ab 1. Dezember 2021 gesichert gewesen.

 

Nachdem der Senat um Zustimmung zu einer Beiziehung der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der DRV gebeten hatte, hat der Kläger mit Schreiben vom 19. November 2024 erklärt, er sehe zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit dafür, dass die Richter die DRV-Akte bekämen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die e-Leistungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte über die Berufung in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beteiligten aufgrund mündlicher Verhandlung nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden.

 

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

 

Gegenstand des Verfahrens ist neben dem Gerichtsbescheid des SG vom 21. September 2022 lediglich der Aufhebungsbescheid vom 9. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Januar 2022. Der Bescheid vom 13. Dezember 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Februar 2022, gegen den die Klage S 14 AS 88/22 anhängig ist bzw. war, ist nicht in das vorliegende Verfahren einzubeziehen, selbst wenn dieses Verfahren noch anhängig sein sollte. Der Regelungsgehalt des Bescheides vom 13. Dezember 2021 erfasst zwar partiell denselben Zeitraum wie der Bescheid vom 9. November 2021. Mit seiner Beschränkung auf die Ablehnung eines neuen Antrags des Klägers auf SGB II-Leistungen wird für die Zeit vom 1. Dezember 2021 bis 31. Mai 2022 lediglich die in der Aufhebungsentscheidung vom 9. November 2021 enthaltene Ablehnung einer Leistungsbewilligung ab 1. Dezember 2021 wiederholt, sodass keine Abänderung oder Ersetzung iSd § 96 SGG vorliegt (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 12. August 2021 – B 9 SB 7/21 BH -, juris Rn. 10). Neben der statthaften Anfechtungsklage gegen die Aufhebung der Leistungsbewilligung ist auch die Leistungsklage auf Zahlung des Alg II für die Zeit vom 1. Dezember bis 31. Mai 2022 zulässig. Zwar genügt in Aufhebungsfällen regelmäßig die Kassation des Aufhebungsbescheids, um über den wiederauflebenden Bewilligungsbescheid eine Auszahlung der begehrten Sozialleistung zu erreichen. Vorliegend besteht aber ausnahmsweise für die Leistungsklage ein Rechtsschutzbedürfnis, weil der Beklagte möglicherweise bei einem Erfolg der Anfechtungsklage dem Kläger entgegenhalten könnte, dass der wieder aufgelebte Zahlungsanspruch durch von anderen Sozialleistungsträgern erbrachte Leistungen als erfüllt gilt.

 

Soweit der Kläger die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung eines Bildungsgutscheins begehrt, erweist sich die Klage schon mangels Durchführung eines Verwaltungsverfahrens als unzulässig. Der Kläger hat im Verfahren nicht einmal ansatzweise aufgezeigt, für welche konkrete Weiterbildungsmaßnahme ein Bildungsgutschein begehrt wird noch hat er Angaben zu einem dazu geführten Verwaltungsverfahren gemacht. Der von ihm mit der Klage angegriffene Bescheid vom 9. November 2021 enthält keine Ablehnung bezüglich der Ausgabe eines Bildungsgutscheins. Es ist zwar aktenkundig, dass der Kläger seit langem einen Bildungsgutschein vom Beklagten begehrt und in diesem Zusammenhang zB das gerichtliche Verfahren S 39 AS 1103/20 betrieben hat. Dies ändert jedoch nichts daran, dass im vorliegenden Verfahren der Kläger sein Begehren zu keinem Zeitpunkt konkretisiert und insbesondere keine Befassung des Beklagten mit einem solchen konkreten Begehren dargelegt hat. Nach der Berufungsbegründung („ich kämpfe seit 16 Jahren um eine Umschulung“) drängt sich im Übrigen der Eindruck auf, dass der Kläger auch mit dem vorliegenden Verfahren keinen Bildungsgutschein für eine bestimmte Weiterbildung begehrt, sondern es ihm – wofür offensichtlich kein Rechtsschutzinteresse bestehen kann - darum geht, ohne vorherige Befassung des Antragsgegners durch wiederholt gestreute Prozessanträge ins Blaue hinein einen - gesetzlich nicht vorgesehenen - „Blankogutschein“ mit einem Wert von mindestens 25.000,- € zu erstreiten.

 

Soweit der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 9. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2022 begehrt, ist die Klage unbegründet. Denn der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

 

Als Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung vom 10. Mai 2021 ab 1. Dezember 2021 kommt hier nur § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. § 45 SGB X ist nicht einschlägig, denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Bewilligungsentscheidung vom 10. Mai 2021 bereits anfänglich rechtswidrig gewesen sein könnte. Selbst wenn von einem objektiv schon bei Erlass dieses Bewilligungsbescheides vorliegenden generellen Leistungsausschluss des Klägers wegen fehlender Erwerbsfähigkeit (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II) auszugehen wäre, worauf die Annahme des Versicherungsfalls vom 17. Juni 2020 durch die DRV hindeuten könnte, wäre im Hinblick auf die Regelung des § 44a SGB II der Kläger jedenfalls bis zu einer Entscheidung des zuständigen Rentenversicherungsträgers so zu stellen gewesen, als wäre er erwerbsfähig. (vgl. zu einer solchen Konstellation das Urteil des erkennenden Senats vom 17. September 2014 – L 18 AS 672/13 –, juris Rn. 17 mwN).

 

Es kann mangels Entscheidungserheblichkeit offenbleiben, ob – wovon das SG und der Beklagte ausgehen - bereits aufgrund der Rentengewährung durch die DRV vom 15. Oktober 2021 eine zur Aufhebung der Leistungsbewilligung berechtigende wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse iSd § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X angenommen werden kann. Insoweit hat die zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit gemäß §§ 6 Abs. 1 Satz 2, 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II berufene Beklagte mit der Aufhebungsentscheidung zwar eine Erwerbsfähigkeit des Klägers verneint und sich zur Begründung auf die Feststellungen der DRV bezogen. Der Beklagte hat indes im die Anfechtung des Rentenbescheids vom 15. Oktober 2021 betreffenden Verfahren L 6 R 703/22 eingeräumt, dass das nach § 44a SGB II vorgesehene Verfahren nicht eingehalten worden war und insbesondere entgegen der Begründung des Bescheids vom 9. November 2021 keine - den Beklagten, aber nicht die Gerichte -  bindende gutachterliche Stellungnahme nach § 109a Absatz 4 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) zur Erwerbsfähigkeit des Klägers existiert. Grundlage der Feststellung der DRV im auf die Bewilligung einer Erwerbsminderung gerichteten Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren waren - soweit für den Senat ersichtlich - nur ein Befundbericht des Dr. S und die Einschätzungen von Prüfärzten nach Aktenlage.

 

Die Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers bedarf keiner Klärung, denn im für die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides vom 9. November 2021 maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 10/14 R -, juris Rn. 17) des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2022 lag eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iSd § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X jedenfalls deshalb vor, weil die nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II für den Anspruch auf Alg II erforderliche Hilfebedürftigkeit des Klägers ab 1. Dezember 2021 entfallen war. Der Kläger konnte von diesem Zeitpunkt ab bis zum Ende des Bewilligungszeitraums seinen Lebensunterhalt aufgrund der Hilfe von Trägern anderer Sozialleistungen (vgl. § 9 Abs. 1 SGB II), nämlich des Sozialamtes und der DRV, vollständig sicherstellen. Das Sozialamt hatte mit Schreiben vom 23. November 2021 dem Kläger die Gewährung eines Überbrückungsdarlehens in Aussicht gestellt und sodann mit den Bewilligungsbescheiden vom 29. November 2021 und 6. Dezember 2021 die Erwerbsminderungsrente des Klägers jedenfalls bis zur Höhe der bisher vom Beklagten gewährten SGB II-Leistungen „aufgestockt“ sowie die Rentenzahlung für Dezember 2021 im Wege einer Darlehensgewährung vorgestreckt. Damit war vom Beklagten ohne Weiteres zu prognostizieren, dass die Existenzsicherung des Klägers in dem vom Aufhebungsbescheid vom 9. November 2021 erfassten Zeitraum durch die anderweitigen Sozialleistungen (Erwerbsminderungsrente und ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt) in vollem Umfang gesichert war und mithin die Hilfebedürftigkeit des Klägers ab 1. Dezember 2021 entfiel (vgl. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3,).

 

Etwas Anderes könnte nur gelten, wenn durch diese anderweitigen Sozialleistungen die Hilfebedürftigkeit nicht auf Dauer entfallen wäre, weil sie – vergleichbar mit einem Darlehen (vgl. BSG, Urteil vom 6. Oktober 2011 – B 14 AS 66/11 R - juris Rn. 17 f.) – mit einer Rückzahlungsverpflichtung gegenüber dem Sozialamt bzw. der DRV verbunden gewesen wären.

 

Eine solche Rückforderung der anderen Sozialleistungsträger käme insbesondere dann in Betracht, wenn der Kläger im streitbefangenen Zeitraum - entsprechend der von ihm vertretenen Auffassung – erwerbsfähig oder zumindest vom Beklagten so zu stellen gewesen wäre, als wäre er erwerbsfähig.

 

Ein allein in Betracht kommender Erstattungsanspruch des Sozialamtes nach § 50 Abs. 1 SGB X setzte zunächst voraus, dass eine Aufhebung der entsprechenden Bewilligungsbescheide nach § 45 SGB X wegen deren anfänglicher Rechtswidrigkeit rechtmäßig wäre. Dabei mag schon zweifelhaft sein, ob ein Vertrauensschutz des Klägers nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X wegen Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtwidrigkeit (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X) der Bewilligungsbescheide des Sozialamtes entfiele. Jedenfalls steht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X der Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs gegenüber dem Kläger entgegen. Danach gilt ein Anspruch des Berechtigten auf eine Sozialleistung gegen den verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch des unzuständigen Leistungsträgers nach §§ 102 ff. SGB X gegen den zuständigen Leistungsträger besteht. Liegen die Voraussetzungen dieser Fiktion vor, muss die Rückabwicklung zwischen den Leistungsträgern erfolgen. Die vom Gesetzgeber aus Gründen der Rechtsklarheit und der Verwaltungsökonomie mit der Erfüllungsfiktion geschaffene unkomplizierte und im Rahmen des Sozialleistungsrechts einheitliche Form des Ausgleichs von Leistungsbewilligungen ist für den vorleistenden Träger mit einer Befreiung von dem Risiko der Durchsetzung eines Anspruchs nach den §§ 45, 48 SGB X iVm § 50 SGB X verbunden (vgl. BSG, Urteil vom 22. Mai 2002 - B 8 KN 11/00 R = SozR 3-2600 § 93 Nr. 12). Damit entfällt aber auch die Möglichkeit des unzuständigen Sozialleistungsträgers, die Bescheide über die Gewährung der erbrachten Leistungen nach den §§ 44 ff. SGB X zurückzunehmen (vgl. BSG, Urteil vom 20. November 2011 – B 4 AS 203/10 R-, juris Rn. 19). So liegt der Fall hier. Sofern eine volle Erwerbsminderung des Klägers ab 1. Dezember 2021 zu Unrecht festgestellt worden sein sollte und mithin der Kläger vom Beklagten als erwerbsfähig zu behandeln gewesen wäre, wäre das Sozialamt als unzuständiger Leistungsträger iSd § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X gegenüber dem Beklagten erstattungsberechtigt.

 

Die Erfüllungsfunktion des § 107 Abs. 1 SGB X greift auch hinsichtlich der von der DRV für die streitbefangene Zeit gewährten Rentenleistungen ein. Sofern die volle Erwerbsminderung zu Unrecht festgestellt worden sein sollte, stünde der DRV ein Erstattungsanspruch gegen den Beklagten als dem zuständigen SGB II- Leistungsträger gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu. Nach dieser Vorschrift ergäbe sich aber auch für den Fall, dass die DRV zu Recht den Kläger als (dauerhaft) voll erwerbsgemindert eingestuft hatte, für den Rentenversicherungsträger ein Erstattungsanspruch, der sich gegen das Sozialamt als dem für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach § 19 Abs. 1 und 2, 27 ff., 41 ff. SGB XII zuständigen Sozialleistungsträger richten würde.

 

Nach alledem ist wegen des Wegfalls der Hilfebedürftigkeit des Klägers eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten sein, sodass die Bewilligung des Alg II - wie geschehen – mit Wirkung zum 1. Dezember 2021 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufzuheben war. Ein etwaiger Anhörungsmangel (vgl. aber § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X) ist nach § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X im Widerspruchsverfahren geheilt worden, denn der Beklagte hat das Widerspruchsvorbringen des Klägers mit dem Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 2022 zur Kenntnis genommen und sich ausführlich in der Begründung der Widerspruchsentscheidung damit auseinandergesetzt.

 

Die Leistungsklage des Klägers auf (Weiter-)Zahlung des Alg II ist ebenfalls unbegründet, weil – wie dargelegt - zum einen der Bewilligungsbescheid vom 10. Mai 2021 zu Recht für die Zeit ab 1. Dezember 2021 aufgehoben worden war und zum anderen der Kläger aufgrund der durch die Leistungen der DRV und des Sozialamtes jeweils gegebenen Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X auch dann keinen Zahlungsanspruch nach §§ 19ff. SGB II mehr geltend machen kann, wenn er erwerbsfähig war oder jedenfalls als erwerbsfähig zu behandeln gewesen wäre.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG lie-gen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved