Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. April 2024 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die höhere Erstfeststellung des Grades der Behinderung (GdB) – im Berufungsverfahren noch – mit mehr als 30.
Er ist 1963 geboren und arbeitet vollschichtig als Sanitär- und Heizungsbauer. Der Kläger ist verheiratet und hat zwei Kinder (vgl. Anamnese M1).
Am 10. Mai 2021 beantragte er bei dem Landratsamt E1 (LRA) erstmals die Feststellung des GdB, welches den Entlassungsbericht des Universitätsklinikums T1 über die stationäre Behandlung vom 18. April bis 4. Mai 2021 beizog. Danach sei am 21. April 2021 eine Second-Look-Re-Laparotomie durchgeführt worden. Bei eingeschränkter Durchblutung der ersten 15 cm des Colon transversum sei die Nachresektion erfolgt. Bei ansonsten gut perfundiertem Restdarm sei die Kontinuität wiederhergestellt worden. Die intraoperativ eingebrachten Drainagen hätten entfernt werden können. Die Mobilisation auf Normalstation sei mit physiotherapeutischer und pflegerischer Unterstützung erfolgt. Der Kostaufbau habe weiter fortgeführt werden können und sei gut vertragen worden. Die anfängliche hohe Stuhlfrequenz habe sich im Verlauf normalisiert. Die laborchemisch anfangs noch erhöhten Infektparameter hätten sich rückläufig gezeigt, die Antibiose habe beendet werden können. Die Entlassung sei in ordentlichem Allgemeinzustand erfolgt.
Der D1 bewertete den Morbus Crohn und die Teilverluste von Dünn- und Dickdarm mit einem Teil-GdB von 20 sowie den abgelaufenen Herzinfarkt mit Stentimplantation mit einem Teil-GdB von10.
Mit Bescheid vom 4. August 2021 stellte das LRA einen GdB von 20 seit dem 10. Mai 2021 fest.
Im Widerspruchsverfahren holte das LRA den Befundschein des S1 ein, der ausführte, dass bei dem Kläger eine Arteriosklerose bestehe, die sich zuerst am Herz und dann am Darm manifestiert habe. Ergänzend legte er den Befundbericht über die Herzkatheteruntersuchung vom 6. Oktober 2020 (S2) vor. Danach solle mittel- und langfristig die weitere Therapie anhand der vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Beschwerdesymptomatik geplant werden.
S3 hielt versorgungsärztlich an der bisherigen Bewertung fest.
Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S4 mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2022 zurück. Die Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 angemessen bewertet seien. Der Morbus Crohn bei Teilverlust des Dünndarms und Teilverlust des Dickdarms sei mit einem Teil-GdB von 20 ausreichend berücksichtigt. Nach dem Bericht der Universitätsklinik T1 habe sich nach den operativen Eingriffen die Stuhlfrequenz normalisiert. Laborchemisch seien die Infektparameter rückläufig gewesen, die Entlassung wäre in ordentlichem Allgemeinzustand erfolgt. Der abgelaufene Herzinfarkt und die Stentimplantation fühtren zu keinem höheren Teil-GdB als 10, es seien keine pathologischen Parameter messbar objektiviert.
Am 18. Januar 2022 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung das gastroenterologische Sachverständigengutachten des M1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 14. Juli 2022 erhoben hat. Dieser hat ausgeführt, dass es bei dem Kläger nach der Operation zu einer Gewichtsabnahme von 20 kg gekommen sei. Aktuell sei die Gewichtssituation stabil mit 73 kg bei 170 cm Körpergröße. Vor 20 Jahren habe der Kläger einen Myokardinfarkt erlitten.
Es bestünden Refluxbeschwerden ein- bis zweimal die Woche abends, der Kläger wache davon nicht auf. Die Stuhlfrequenz liege bei vier- bis fünfmal, maximal achtmal täglich. Es bestehe ein zeitlicher Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme. Der Stuhlgang sei flüssig, es bestehe eine dranghafte Entleerung und auch eine Inkontinenz. Eine Windel werde nicht getragen. Die sozialen Kontakte und der Bewegungsradius seien eingeschränkt. Der Kläger arbeite als Sanitär- und Heizungsbauer in Anstellung mit 40 Stunden pro Woche.
Bei dem Kläger sei es im April 2021 aufgrund einer fortgeschrittenen Arteriosklerose zu einer mesenteriale Ischämie gekommen, die eine umfangreiche Darmresektion erforderlich gemacht habe. Verblieben seien 150 cm Dünndarm sowie Anteile des Kolons. Diese anatomische Situation führe zwangsläufig zu einer Gewichtsabnahme und zu bleibenden Durchfällen. Der Dünndarm habe in gewissem Rahmen die Möglichkeit zur Funktionskompensation. Diese Adaptationsvorgänge seien spätestens nach zwei Jahren abgeschlossen. Passend dazu werde eine Stabilisierung des Gewichts bei aktuell 73 kg beschrieben. Aufgrund der verminderten Resorptionsfläche, der fehlenden Möglichkeit zur Rückresorption von Gallensäure und Wasser komme es zwangsläufig zu persistierenden Durchfällen, die medikamentös meist unvollständig zu beeinflussen seien. Die im Entlassungsbrief geäußerte Behauptung einer sich normalisierenden Stuhlfrequenz erscheine ohne konsequenten Einsatz von Morphinen doch unglaubwürdig.
Die aktuelle Situation habe sich stabilisiert. Die Durchfälle seien bislang nicht konsequent therapiert worden, eine normale Stuhlfrequenz als therapeutisches Ziel sei wenig realistisch, aber nicht unmöglich. Allerdings seien Nebenwirkungen, die therapielimitierend sein könnten, zu beachten.
Über die Situation des Morbus Crohn, der im Bereich der Ileozökalklappe und des rechten Hemikolons lokalisiert gewesen sei, sei nichts bekannt. Die vormals betroffenen Gebiete seien durch die Darmresektion entfernt worden. Zur Einschätzung müsse eine Koloskopie durchgeführt werden, was bislang postoperativ nicht geschehen sei. Es bestehe ein größerer, operationswürdiger Narbenbruch.
Es komme zu persistierenden Durchfällen, aufgrund des geringgradig verbleibenden Restdarms bestehe eine hohe Stuhlfrequenz. Die Entleerungen seien dranghaft und plötzlich, es komme zu Inkontinenzerscheinungen. Der Schlafrhythmus werde durch regelmäßigen nächtlichen Stuhlgang gestört, mit der Folge von Tagesmüdigkeit.
Die Beeinträchtigung liege bei „mindestens 50 %“, da sich die Gesamtsituation durch Kompensationsmechanismen stabilisiert habe. In den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) sei das Krankheitsbild nicht explizit erwähnt. Es sei zu einer umfangreichen Darmresektion von Anteilen des Dünn- und Dickdarms gekommen, weiter sei die Ileozökalklappe entfernt worden. Führend seien die Durchfälle tagsüber, aber auch nachts komme es zu Stuhlentleerungen. Weiter müssten die Stuhlinkontinenzerscheinungen gewürdigt werde, Gewichtsverlust finde keiner mehr statt. Unmittelbar nach der Operation haben die Beeinträchtigung bei mindestens 70 % gelegen.
Der versorgungsärztlichen Einschätzung könne nicht gefolgt werden, da sich diese auf die Formulierung im Entlassungsbrief beziehe, dass sich die Stuhlfrequenz normalisiert habe. Aufgrund der dargelegten Umstände sei eine normale Stuhlfrequenz unmittelbar postoperativ sehr unwahrscheinlich.
Zur Akte ist der Bericht des Universitätsklinikums T1 – chirurgische Poliklinik – über die Behandlung des Klägers vom 16. August 2022gelangt. Danach bestehe bei symptomatischer Narbenhernie die Indikation zur operativen Versorgung. Zur Planung solle eine Kernspintomographie (MRT) des Abdomens durchgeführt werden, über die Einklemmungsgefahr bei der genannten Diagnose sei der Kläger aufgeklärt worden. In der weiteren Befundmitteilung vom 22. November 2022 ist eine große Rektusdiastase mit konsekutiver Bauchwandhernie beschrieben worden. Es sei zur Vorstellung in der plastischen Chirurgie zur plastischen Bauchdeckenrekonstruktion geraten worden.
Der Beklagte hat vergleichsweise die Feststellung eines GdB von 30 ab dem 19. April 2021 angeboten und die versorgungsärztliche Stellungnahme des F1 vorgelegt. Danach habe die Diagnose eines Morbus Crohn nicht bestätigt werden können, da die betroffenen Darmabschnitte durch die stattgehabte Darmresektion entfernt worden seien. Die Entlassungsberichte des Universitätsklinikums T1 belegten den operativen Darmeingriff, aber nicht den Morbus Crohn. Zudem habe eine Narbenhernie im Bereich der Operationsnarbe der Bauchwand bestanden.
Dem vom Sachverständigen vorgeschlagenen Teil-GdB von 50 könne nicht gefolgt werden. Es liege eine Darmteilresektion mit stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen wie Durchfällen vor. Der Kräfte- und Ernährungszustand sei nicht gemindert, sodass ein Teil-GdB von 30 anzusetzen sei (VG, Teil B, Nr. 10.2.2). Der abgelaufene Herzinfarkt mit Stentimplantation sei weiter mit einem Teil-GdB von 10 zu bewerten. Der Gesamt-GdB könne ab dem Termin der Darmoperation (19. April 2021) angenommen werden.
Nachdem der Kläger das Vergleichsangebot nicht angenommen hat, hat das SG – nach Anhörung der Beteiligten – mit Gerichtsbescheid vom 10. April 2024 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 4. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2022 verpflichtet, einen GdB von 30 seit dem 10. Mai 2021 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Im Funktionssystem „Verdauung“ betrage der Teil-GdB 30, die anderweitige Einschätzung des Sachverständigen werde von den Befunden nicht getragen. Aus dem Sachverständigengutachten folge nämlich, dass bei dem Kläger gerade keine Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes bestehe, sondern eine Stabilisierung eingetreten sei. Der Teil-GdB von 10 im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ wirke sich nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus.
Am 2. Mai 2024 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Der M1 habe auf eine Beeinträchtigung von mindestens „50 %“ verwiesen, der auch eine Einschränkung sozialer Kontakte und des Bewegungsradius beschreibe. Es sei zu einem Gewichtsverlust von 20 kg gekommen, eine normale Stuhlfrequenz unrealistisch. Unrichtig sei, dass Funktionseinschränkungen nicht mehr objektivierbar seien. Es sei davon auszugehen, dass der Morbus Crohn weiterhin vorliege.
Vorgelegt worden sind Entlassungsberichte des M2 Klinik K1. Der Bericht über die stationäre Behandlung vom 9. bis 16. April 2024 beschrieb eine pAVK Stadium IIb rechts. Die stationäre Aufnahme sei zu einer geplanten Hybrid-Operation im Sinne einer Femoralis-TEA beidseits erfolgt. Die durchgeführte farbduplexsonograpische Kontrolluntersuchung habe ein zufriedenstellendes postoperatives Ergebnis mit zufriedenstellenden Flusssignalen gezeigt.
Im Bericht über die stationäre Behandlung vom 21. bis 27. April 2024 sind der Verdacht auf eine interenterische Dünndarmfistel im rechten Unterbauch bei bekanntem Morbus Crohn und ein paralytischer Ileus beschrieben. Entsprechend der konsilarischen Empfehlung der Gefäßchirurgie solle ggf. „Fresubin“ mit in die Diät aufgenommen und auf schwerverdauliche Speisen verzichtet werden. Entsprechend der Empfehlung der gastroenterologischen Abteilung solle eine Wiedervorstellung zur weiteren Abklärung des Verdachts auf einen Morbus Crohn erfolgen. Die Vorstellung sei wegen seit dem Nachmittag bestehender Unterbauchschmerzen erfolgt. Der Kläger habe angegeben, ein reichhaltiges Essen in einem Gasthaus zu sich genommen zu haben. Der letzte Stuhlgang am Vortag sei unauffällig gewesen. Es sei die Indikation zur explorativen Laparoskopie gestellt worden. Bei intraoperativ gestelltem dringenden Verdacht auf einen aktivierten Morbus Crohn sei telefonisch die gastroenterologische Abteilung konsultiert und mit der immunsuppressiven Stufentherapie mittels Prednisolon begonnen worden. Bei deutlicher Beschwerdelinderung habe dieses nach Reduktion der Dosis zeitnah beendet werden können. Die postoperative Sonographiekontrolle habe einen regelrechten postoperativen Befund gezeigt, die Entlassung sei bei reizlosen Wundverhältnissen in gutem Allgemeinzustand erfolgt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. April 2024 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 4. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2022 einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 10. Mai 2021 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.
Zur weiteren Sachaufklärung hat der Senat die sachverständige Zeugenauskunft des B1, M3 Klinik N1, erhoben. Dieser hat über eine letzte Untersuchung des Klägers mittels Sonographie am 7. Februar 2025 sowie eine letzte Vorstellung am 26. Februar 2025 berichtet. Es bestünden chronische Diarrhoen bis zu 10-mal täglich mit krampfartigen Bauchschmerzen. Der Zustand sei reduziert bei starker Belastung durch häufige Stuhlgänge und eine Einschränkung durch häufige Toilettengänge, die Symptomatik verschlechtere sich seit einem Jahr. Durch die Grunderkrankung werde eine leichte Anämie mit einem Hb von 12,3g/dl wie eine Fructose- und Lactosemalabsorption begründet, es bestehe der Verdacht auf ein Kurzdarm- und Gallesäureverlustsyndrom. 2018 in der Koloskopie sei der Verdacht auf einen Morbus Crohn geäußert worden, der damals sowie aktuell in der Koloskopie von Oktober 2024 nicht habe bestätigt werden können.
Ergänzend hat er seine Befundberichte vorgelegt. Danach zeigte sich in der Ileoskopie vom 29. Oktober 2024 keine Entzündungsaktivität im eingesehenen Bereich, nebenbefundlich liege eine ausgeprägte Rektusdiastase mit Bauchwandhernie vor. Der Schleimhautbefund entspreche einem Morbus Crohn, SES-CD Score 0. Histologisch bestünden aber keine Hinweise auf eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung und keine solche auf eine mikroskopische Kolitis in den kolorektalen Biopsien. Der Kläger habe über viele Stuhlgänge und den Eindruck berichtet, diese würden unter fructosehaltigen Speisen gesteigert. Ab und zu bestünden leichte Bauchschmerzen, das Gewicht sei momentan stabil bei etwa 68 kg.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 10. April 2024, soweit damit die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB als 30 unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 4. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 4. Januar 2022 abgewiesen worden ist. Hinsichtlich der – dem Vergleichsvorschlag entsprechenden – Verpflichtung zur Feststellung eines GdB von 30 hat der Beklagte weder Berufung noch Anschlussberufung eingelegt, sodass der Gerichtsbescheid insoweit rechtskräftig geworden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 54 Rz. 34).
Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 4. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Auch zur Überzeugung des Senats kann der Kläger die höhere Erstfeststellung des GdB mit mehr als 30 nicht beanspruchen, was sich durch die ergänzende Sachaufklärung im Berufungsverfahren bestätigt hat. Das SG hat die Klage daher zu Recht im Übrigen abgewiesen.
Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Vierzehntes Buches zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, juris, Rz. 14 f.). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.
Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).
Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 24). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird. Das Schwerbehindertenrecht kennt nur einen Gesamtzustand der Behinderung, den gegebenenfalls mehrere Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit bestimmen (vgl. BSG, Beschluss vom 1. Juni 2015 – B 9 SB 10/15 B –, juris, Rz. 15).
In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Gesamt-GdB nicht mehr als 30 beträgt.
Die bewertungsrelevanten Funktionseinschränkungen liegen bei dem Kläger im Funktionssystem „Verdauung“, welches mit keinem höheren Teil-GdB als 30 zu bewerten ist. Die gegenteilige – rechtliche – Bewertung des M1 korrespondiert nicht mit den einschlägigen Bewertungsvorgaben der VG, worauf versorgungsärztlich zu Recht hingewiesen worden ist, sodass dieser nicht gefolgt werden kann.
Nach den VG, Teil B, Nr. 10.2 ist bei organischen und funktionellen Krankheiten des Magen-Darmkanals der GdB nach dem Grad der Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes, der Schwere der Organstörung und nach der Notwendigkeit besonderer Diätkost zu beurteilen. Bei allergisch bedingten Krankheiten ist auch die Vermeidbarkeit der Allergene von Bedeutung. Eine Colitis ulcerosa/Crohn Krankheit mit geringen Auswirkungen (geringe Beschwerden, keine oder geringe Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, selten Durchfälle) ist mit einem GdB von 10 bis 20 zu bewerten, mittelschwere Auswirkungen (häufige rezidivierende oder länger anhaltende Beschwerden, geringe bis mittelschwere Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, häufige Durchfälle) führen zu einem GdB von 30 bis 40. Chronische Darmstörungen (vgl. VG, Teil B, Nr. 10.2.2) ohne wesentliche Beschwerden und Auswirkungen sind mit einem GdB von 0 bis 10, mit stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen (z.B. Durchfälle, Spasmen) mit einem GdB von 20 bis 30 und bei erheblicher Minderung des Kräfte und Ernährungszustandes mit einem GdB von 40 bis 50 zu bewerten.
Bei dem Kläger ist im Jahr 2021 eine Teilresektion von Dünn- und Dickdarm erfolgt, wie der Senat dem Entlassungsbericht des Universitätsklinikums T1 entnimmt, den er, wie die übrigen aktenkundigen Unterlagen, im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwertet, und was durch den gerichtlichen M1 bestätigt worden ist. Letzterer hat überzeugend aufgezeigt, dass es durch die Verkürzung des Darms zu dauerhaften Funktionsstörungen kommt, die persistierende Durchfälle erklären. Versorgungsärztlich ist daher zu Recht von rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen ausgegangen und der Bewertungsrahmen nach Nr. 10.2.2 ausgeschöpft worden. Der Umstand allein, dass es bei dem Kläger im Zusammenhang mit der Operation zu einem Gewichtsverlust von 20 kg gekommen ist, worauf M1 hinweist, belegt eine dauerhafte erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes, die von den VG für eine höhere Bewertung vorausgesetzt werden, nicht. Vielmehr hat M1 das Gewicht als nunmehr konstant bei 73 kg erhoben und darauf hingewiesen, dass es postoperativ zu Adaptationsvorgängen im Bereich des Darms kommt, die zwischenzeitlich abgeschlossen sind und die nunmehr konstanten Befunde erklären. Auch aus den zuletzt von dem B1 im Februar 2025 erhobenen Wert von – stabil – circa 68 kg folgt eine erhebliche Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes bei einer beschriebenen Körpergröße von 170 cm nicht. Dass die Erkrankung soziale Auswirkungen hat – worauf M1 hinweist – trägt seine Höherbewertung deshalb nicht, da der GdB nach VG, Teil A, Nr. 2a selbst schon das Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens ist, die von M1 genannten Aspekte also bereits beinhaltet.
Soweit sich aus den Befundberichten ein Morbus Crohn ergibt, ist ein solcher jedenfalls gegenwärtig nicht zu objektivieren. Bereits der M1 hat nämlich dargelegt, dass selbst wenn ein solcher in der Vergangenheit bestanden hätte, die betroffenen Darmabschnitte jedenfalls bei der Operation entfernt worden sind, sodass eine entsprechende Diagnose nicht mehr zu stellen ist. Weitergehend hat der B1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft darauf hingewiesen, dass schon die Koloskopie 2018 den Verdacht nicht hat bestätigen können und sich auch bei der erneuten Untersuchung im Oktober 2024 kein Morbus Crohn zeigte. Vielmehr konnte im eingesehenen Bereich keine Entzündungsaktivität festgestellt werden, sodass Hinweise auf eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung und Hinweise auf eine mikroskopische Kolitis verneint wurden.
Ein höherer Teil-GdB als 30 wird daher im Funktionssystem nicht erreicht.
Daneben besteht im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ (vgl. VG, Teil B, Nr. 9.1) kein Teil-GdB, nachdem es an dokumentierten Funktionseinschränkungen aufgrund des wohl vor 20 Jahren stattgehabten Myokardinfarktes fehlt. Korrespondierend hierzu ergab sich bei der Herzkatheteruntersuchung (vgl. den Befundbericht des S2) kein pathologischer Befund und lediglich die Empfehlung, die weitere Therapie anhand der vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Beschwerdesymptomatik auszurichten.
Keine höhere Bewertung im Funktionssystem rechtfertigt sich letztlich aufgrund des vorgelegten Berichts über die Femoralis-TEA, da dieser ein zufriedenstellendes postoperatives Ergebnis mit zufriedenstellenden Flusssignalen beschreibt (vgl. VG, Teil B, Nr. 9.2.1).
Weitere Gesundheitsstörungen, die zu Teil-GdB in anderen Funktionssystemen führen könnten, sind weder geltend gemacht, noch sonst ersichtlich.
Der Teil-GdB im Funktionssystem „Verdauung“ entspricht somit dem Gesamt-GdB und beträgt nicht mehr als 30.
Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und folgt aus dem Unterliegen des Klägers im Berufungsverfahren. Veranlassung zu einer Änderung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung hat der Senat keine gesehen.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 SB 165/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 1875/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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