Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16.08.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen eines bei der Beklagten versicherten Wegeunfalls im Streit.
Der 1955 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er wurde am 22.10.2014 gegen 18:30 Uhr an einem Fußgängerüberweg im Bereich der H1straße in S1-H2 – in der Nähe seiner Wohnung – von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Der Kläger wurde vom 22.10.2014 bis 04.11.2014 im Klinikum S1 stationär behandelt, wo ein Polytrauma mit Unterschenkel-Mehrfragmentfraktur rechts, supracondylärer Humerusfraktur rechts, großer Kopfplatzwunde frontal, OSG-Distorsion links, lateraler Clavikula-fraktur links und Risswunde am Unterschenkel rechts festgestellt wurden. Auch aufgrund dieser erlittenen Verletzungen bezieht der Kläger inzwischen eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt nach eigenen Angaben bei der Dachdeckerfirma A1 H3 in I1 beschäftigt. Allerdings erfolgte die Anmeldung seiner Tätigkeit zur Sozialversicherung erst nach dem Unfall, und zwar nach Angaben des Klägerbevollmächtigten am 03.11.2014 rückwirkend zum 10.10.2014. Zuvor hatte der Kläger nach eigenen Angaben eine selbständige Tätigkeit als Bauwerker ausgeübt. Dieses Gewerbe meldete der Kläger erst nach dem Unfall rückwirkend zum 21.09.2014 ab (Bescheinigung des Finanzamts C1 vom 18.12.2014, Bl. 75, 85 der LSG-Akte). Aktenkundig ist insoweit, dass ein Verdacht auf Schwarzarbeit bestand, ohne dass hierzu in der Folge konkretere Erkenntnisse zu den Akten gelangt sind. Die Firma des angeblichen Arbeitgebers ging nach dem Unfall in die Insolvenz.
Erst ca. 10 Monate später, am 28.08.2015, erfolgte durch den Bevollmächtigten des Klägers die Meldung des Ereignisses vom 22.10.2014 bei der Beklagten als Arbeitsunfall. Der Kläger gab in seiner ersten Einlassung zum Unfallgeschehen an, er sei auf dem Nachhauseweg von der Arbeit von einem Fahrzeug angefahren und schwer verletzt worden.
Mit Schreiben vom 17.09.2015 teilte die Fa. M1 (Nachfolgefirma der Fa. H3) Bedachungen indes mit, dass der Unfall auf dem Heimweg vom Einkaufen und nicht auf dem Heimweg von der Arbeit passiert sei.
Der Kläger gab gegenüber der Beklagten am 20.10.2015 an, dass um 07:30 Uhr Arbeitsbeginn gewesen sei, und er nach getaner Arbeit zu Fuß in die Innenstadt nach S1 gegangen sei. Nach einem Einkauf im C2center (Adresse: K1 Markt) sei er mit dem Bus (ab der Haltestelle V1gasse) nach H2 gefahren, wo der Unfall passiert sei. Dies sei sein normaler Weg von der Arbeit nach Hause gewesen.
Die Beklagte zog die Akte über die polizeilichen Ermittlungen gegen die Unfallverursacherin bei.
In dem beigezogenen Unfallfragebogen der Krankenkasse AOK B1 vom 04.11.2014 blieb die dort gestellte Frage nach einem Arbeits-/Wegeunfall vom Kläger unbeantwortet; andere Fragen hingegen wurden beantwortet.
Am 11.11.2015 teilte der angebliche (inzwischen verstorbene) Arbeitgeber des Klägers H3 mit, der Unfall sei nach der Arbeit auf dem Heimweg, aber nach einem zwischenzeitlichen Einkauf passiert.
Am 16.11.2015 bzw. 27.11.2015 gab der erneut befragte H3 dann jedoch an, der Kläger habe am 22.10.2014 nicht gearbeitet, er habe Urlaub bzw. unbezahlten Urlaub gehabt. Eine Verdienstabrechnung des Klägers der Firma H3 für den Monat Oktober 2014 enthielt unter dem 22.10.2014 die Angabe „krank“.
Mit Schreiben vom 15.01.2016 teilte der Kläger mit, Beginn der Arbeit sei am Unfalltag um 07:30 Uhr gewesen, und Ende der Arbeit um 16:00 Uhr. Gegen 16:00 Uhr habe er die Arbeitsstelle der U1strasse in S1 verlassen, er sei im C2center in das Kaufland gegangen und dort gegen 16:30 Uhr angekommen. Gegen 17:45 bis 18:00 Uhr sei er dann an der Bushaltestelle V1gasse in S1 in den Bus nach H2 zu seiner Wohnung gestiegen.
Die Beklagte hat einen Ausdruck des einschlägigen Busfahrplans zu der Akte genommen, wonach sich eine Abfahrtszeit des Busses für die vom Kläger angegebene Verbindung unter anderem um 18:19 Uhr ergibt.
Der als Arbeitskollege und Zeuge benannte Kollege W1 des Klägers teilte am 21.03.2016 mit, nichts mehr von den damaligen Vorgängen zu wissen.
Dann gab der Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 02.06.2016 an, er habe erst gegen 17:00 Uhr seine Arbeitsstelle verlassen und sei dann in Richtung Stadtmitte S1 zum Einkaufen gegangen. Nachdem er Einkäufe getätigt hatte, habe er schließlich den Bus um 18:19 Uhr genommen.
In einem Brief vom 12.10.2016 erläuterte der Kläger dann, er sei bereits um 14:15 Uhr mit dem Bus in Richtung Marktplatz gefahren, habe um 14:30 Uhr im Kaufland Lebensmittel für die Mittagspause eingekauft (dies sei der einzige Kontakt mit dem Geschäft Kaufland an diesem Tag gewesen), und dann um 14:50 Uhr wieder zur Baustelle U1straße gefahren. Dort habe er Schäden eines Unwetters begutachtet, um 16:30 Uhr mit einem älteren Herrn im Büro gegenüber gesprochen, und um 17:10 Uhr sei er dann mit dem Bus in Richtung seines Zuhauses gefahren.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls in der Form des Wegeunfalls mit Bescheid vom 21.07.2017 ab, da der Nachweis, dass das Unfallereignis auf einem versicherten Weg nach Hause passiert sei, nicht im Sinne des Vollbeweises geführt sei.
Der Kläger legte am 21.08.2017 Widerspruch ein, wobei er den Ablauf seines Arbeitstages wie folgt schilderte: 14:10 Uhr Ankunft der Eigentümerin, Kaffee wurde angeboten, 14:30 Uhr Ankunft W2 H3 [Vater des A1 H3], brachte Dachziegel, 15:10 Uhr Entscheidung, die Arbeiten bis zum nächsten Tag zu unterbrechen, 16:00 Uhr Fahrt mit dem Bus zur Baustelle U1straße, Ankunft 16:30 Uhr, 17:00 Uhr Gespräch mit dem Anwalt, 17:15 Uhr Verlassen der Baustelle, 17:36 Uhr Kauf von Zigaretten im Kaufland, 17:51 Uhr Ausstieg aus dem Bus aus gesundheitlichen Gründen, 18:20 Uhr Abfahrt mit dem nächsten Bus Richtung H2, 18:34 Uhr Unfall.
Angesprochen auf die mehrfach unterschiedlich geschilderten Abläufe am Unfalltag teilte der Kläger am 22.09.2019 mit, dass er nach seinem Unfall erhebliche Erinnerungslücken gehabt habe. Inzwischen könne er sich jedoch wieder genau an die Abläufe erinnern.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.02.2020 zurück, da weiterhin nicht erwiesen sei, dass sich der Unfall auf dem Weg von einer versicherten Tätigkeit ereignet habe.
Mit seiner am 04.03.2020 beim Sozialgericht Ulm (SG) eingegangenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er habe um 17:15 Uhr die Baustelle im Bereich der U1straße verlassen, vorher noch ein Gespräch mit einem Rechtsanwalt einer gegenüberliegenden Kanzlei geführt, und sei dann zu Fuß zum C2center gelaufen. Danach sei er in den Bus eingestiegen, wieder ausgestiegen, da er habe urinieren müssen, und sei dann wieder mit dem Bus weitergefahren bis H2, wo sich der Unfall ereignet habe. Angesichts dessen habe er sich zum Zeitpunkt des Unfallereignisses auf einem versicherten (Nachhause-)Weg befunden.
Das SG hat zunächst schriftlich den als Arbeitskollegen benannten Zeugen W1 befragt. Dieser hat am 08.08.2022 erneut mitgeteilt, sich an nichts mehr erinnern zu können.
In einem Erörterungstermin vom 26.09.2022 hat der Kläger einen Kontoauszug vorgelegt, der einen Einkauf im Einkaufszentrum Kaufland (im C2center, K1 Markt gelegen) am 22.10.2014 um 17:34 Uhr dokumentiert.
Nach weiteren Ermittlungen fand am 16.08.2023 die mündliche Verhandlung des SG statt. Der Kläger hat dabei verschiedene Stundenzettel für die Zeit vom 01.10.2014 bis 31.10.2014 und damit unter anderem auch für die Kalenderwoche 43 (einschließlich des Unfalltages 22.10.2014) vorgelegt. Für den Unfalltag 22.10.2014 sind hierauf lediglich „3 Tagesstunden“ (Tätigkeiten 7.00 Uhr bis 8.30 Uhr und von 15.00 Uhr bis 16.30 Uhr) dokumentiert. Hierzu hat der Kläger angegeben, dass die Eintragungen von seinem damaligen und inzwischen verstorbenen Arbeitgeber A1 H3 stammten. Der Kläger hat vor dem SG zuletzt beantragt, den Bescheid vom 21.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Unfallereignis vom 22.10.2014 als Wegeunfall anzuerkennen, hilfsweise ein Schriftgutachten einzuholen zur Frage, ob die Stundenangaben auf dem vom Kläger übergebenen Stundenzettel vom 22.10.2014 von dem verstorbenen Herrn H3 stammen.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16.08.2023 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung des Unfallereignisses vom 22.10.2014 als Wegeunfall. Denn es sei nicht nachgewiesen, dass sich der Kläger zum Unfallzeitpunkt auf einem bei der Beklagten nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Nachhauseweg befunden habe. Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Kläger tagsüber am 22.10.2014 tatsächlich gearbeitet hat, wofür – auch entgegen der widersprüchlichen Auskünfte des verstorbenen Arbeitgebers H3 und des möglichen Krankengeldbezuges bereits am 22.10.2014 – manches spreche, bleibe doch unklar, ob sich der Kläger zum Unfallzeitpunkt auf dem direkten Heimweg befunden oder ob sich der Kläger vorher bereits vom Versicherungsschutz gelöst habe. Dies liege zum einen an den unterschiedlichen von ihm selbst vorgetragenen Auskünften z.B. vom 15.01.2016, 02.06.2016, 12.10.2016 und 22.08.2019. Mit Blick auf die vorgelegten Nachweise über einen Einkauf im Einkaufszentrum Kaufland am 22.10.2014 um 17.34 Uhr erscheine zwar die Version vom 22.08.2019 am plausibelsten, allerdings sei die Kammer davon nicht mit der erforderlichen Sicherheit überzeugt. Denn die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung (Arbeitsunfall bzw. Berufskrankheit) und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung müssten erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens müsse der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 30.04.1985 – 2 RU 43/84). Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 16.08.2023 vorgelegten Stundennachweisen für den Oktober 2014. Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausgehe (weshalb auch nicht dem Hilfsantrag des Klägers auf Einholung eines Schriftgutachtens zu folgen sei), dass die Eintragungen von seinem damaligen und zwischenzeitlich verstorbenen Arbeitgeber A1 H3 vorgenommen worden seien, blieben auch diese Eintragungen widersprüchlich. So seien am 22.10.2014 „3 Tagesstunden“ (Tätigkeiten 7.00 Uhr bis 8.30 Uhr und von 15.00 Uhr bis 16.30 Uhr) dokumentiert. Dies stimme jedoch nicht mit dem vom Kläger mit Schreiben vom 22.08.2019 geschilderten Ablauf überein – und im Übrigen auch nicht mit allen anderen vom Kläger geschilderten Tagesabläufen. Weshalb zusätzlich in der Spalte „Tagesstunden“ ein Kästchen mit „8,0 Kr“ (für krank) eingetragen sei, sei auch nicht zu erklären. Das Urteil des SG ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 25.09.2023 zugestellt worden.
Am 12.10.2023 hat der Bevollmächtigte des Klägers Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Bedauerlicherweise habe der Kläger erst im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16.08.2023 verschiedene Stundenzettel für die Zeit vom 01.10. – 31.10.2014 vorlegen können. Die Problematik der sehr späten Bekanntgabe erkläre sich vor dem Hintergrund der psychischen Beeinträchtigung des Klägers, seinen privaten Problemen, dem Tod seiner Ehefrau und den Unfallverletzungen, an denen er heute noch leide. Aus den Aufzeichnungen ergebe sich, dass der Kläger am 22.10.2014 auf der Baustelle U1straße in S1 gearbeitet habe. Die ausgeführten Arbeiten ließen sich zwanglos in Einklang bringen mit dem bisherigen Vortrag des Klägers, wonach zunächst in der Werkstatt Blechprofile geformt und dann aufgrund des Sturmschadens auf der Baustelle U1straße mögliche Schäden am Dach und am Gerüst kontrolliert worden seien. Diese Eintragungen stammten von dem zwischenzeitlich verstorbenen Inhaber der Firma H3, Herrn A1 H3. Zur Person des verstorbenen Arbeitgebers H3 habe der Zeuge M2 W1 bereits angedeutet, dass dieser dem Alkohol verfallen gewesen und somit offensichtlich auch nicht in der Lage gewesen sei, in der gehörigen Form für die Arbeitnehmer Stundenzettel auszufüllen bzw. den Lohn zu bezahlen. Die Problematik des Arbeitgebers H3 habe dazu geführt, dass er durch Suizid aus dem Leben geschieden sei. Das SG stelle darauf ab, dass der Kläger es nicht davon habe überzeugen können, dass er sich am 22.10.2014 auf dem direkten Heimweg befunden habe, weil der Kläger hierzu unterschiedliche Auskünfte gegeben habe. Dies erkläre sich jedoch dadurch, dass der Kläger schwerst verletzt worden sei und aufgrund seiner Schädelverletzung eben Schwierigkeiten gehabt habe, den tatsächlichen Sachverhalt nachvollziehbar darzulegen. Aufgrund der Vorlage des Kontoauszugs über den Einkauf bei Kaufland habe das SG die Auffassung vertreten, dass die Auskunft des Klägers in seinem Schreiben vom 22.08.2019 am plausibelsten klinge. Allerdings vertrete das SG die Auffassung, dass auch diese Schilderung nicht ausreichend überzeugend bzw. bewiesen sei. Das SG verkenne dabei, dass diese Schilderung sich mit den unvollständigen Angaben des Arbeitgebers H3, die dieser noch zu Lebzeiten getätigt habe, vereinbaren lasse. Zusätzlich habe der Kläger noch darauf verwiesen, dass um 14:30 Uhr W2 H3, der Vater des verstorbenen A1 H3, Dachziegel zur Baustelle gebracht habe. Sodann habe sich der Kläger noch an ein Gespräch mit Herrn M3 erinnert, der seine Kanzlei in dem benachbarten Gebäude in der U1straße führe. Der Unfall habe sich dann unstreitig, wie von der Polizei dokumentiert, in S1 – H2 auf dem Zebrastreifen ereignet. Warum das SG an dieser abschließenden Stellungnahme des Klägers Zweifel hege, sei nicht verständlich.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16.08.2023 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 21.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 06.02.2020 zu verurteilen, das Unfallereignis vom 22.10.2014 als Wegeunfall anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Mit der Berufung seien keine neuen Argumente oder Sachverhalte vorgetragen worden, welche bisher unberücksichtigt geblieben wären oder welche geeignet wären, die Rechtmäßigkeit der ergangenen Entscheidungen zu entkräften. Insbesondere könnten die Ausführungen des Bevollmächtigten weiterhin nicht den nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Vollbeweis für die anspruchsbegründenden Tatsachen erbringen. Selbst wenn der Berufungskläger am Unfalltag gearbeitet haben sollte, sei nicht zweifelsfrei nachweisbar, ob sich der Berufungskläger zum Unfallzeitpunkt auf einem versicherten Weg befunden habe, zumal die vorgelegten Stundennachweise für Oktober 2014 widersprüchliche Eintragungen enthielten.
Am 07.06.2024 ist im LSG ein Erörterungstermin durchgeführt worden. Auf Nachfrage des Vorsitzenden hat der Kläger die Ereignisse des Unfalltages zusammenfassend wie folgt geschildert:
„Am Unfalltag bin ich um 07:00 Uhr in die Werkstatt in H4/S1 gekommen. Mein Chef war noch nicht da, mein Kollege M2 W1 war da. Um 8:00 Uhr haben wir Profile aus Blech für die Baustelle in S1 erstellt. Es sollte eine Reparatur eines Dachs nach einem Sturmschaden erfolgen. Wir sind dann nach S2 gefahren, was nicht weit von S1 entfernt ist. Die Arbeiten wurden dort in der U2 Str. ausgeführt, es wurden Ziegel am Dach ausgewechselt. Die Arbeit war gegen 15 Uhr beendet. Um 14:30 Uhr war die Eigentümerin gekommen, sie hatte uns einen Kaffee gemacht. Wir zwei haben uns über das Unwetter unterhalten. Um 15:00 Uhr bin ich zum Umziehen in das Hotel nach H2/S1 gefahren. Ich habe dort andere Arbeitskleidung angezogen, weil die alte Kleidung durch den dauernden Regen nass geworden war. Mit dem nächsten Bus Nr. x bin ich dann ins Zentrum gefahren, und von dort zu Fuß zu einer anderen Baustelle in der U1str. gelaufen, wo etwas zu kontrollieren war. Ich habe dann auf der Baustelle und auf dem Gerüst aufgeräumt. Auf dieser zweiten Baustelle war ich die ganze Zeit alleine. Gegen 17 Uhr war ich damit fertig. Gegen 17:30 Uhr bin ich zu Fuß zu der Bushaltestelle im Zentrum gelaufen, um zurück ins Hotel zu fahren. Eigentlich hätte M2W1 mich mit dem Auto abholen sollen. Ich bin eine Abkürzung durch das Einkaufszentrum gelaufen und habe Aspirin und etwas zu Trinken gekauft. Wann genau ich den Bus (Linie x) genommen habe, kann ich nicht sagen.“
Auf Nachfrage des Beklagtenvertreters, warum eine Anmeldung zur Sozialversicherung lediglich zum 01.10.2014 erfolgt sei, obwohl der Kläger Durchschnittsverdienste von ca. 3.000 € angegeben habe, hat der Kläger erklärt:
„Mein Gewerbe habe ich zum 13.09.2010 angemeldet. Gegenstand waren Tischler- und Schreinerarbeiten. Ab da habe ich dann selbständig gearbeitet.“ Der Kläger hat hierzu in der Verhandlung eine Bestätigung des Finanzamts C1 vom 18.12.2014 vorgelegt, wonach er sein Gewerbe zum 21.09.2014 abgemeldet habe.
Der Klägerbevollmächtigte hat hierzu ergänzend vorgetragen, dass der Kläger danach ein abhängiges Arbeitsverhältnis bei der Firma A1 H3 Dachdeckerbetrieb in S1 begründet habe, weshalb es unstreitig sein dürfte, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens bei der AOK ordnungsgemäß angemeldet gewesen sei.
Anschließend ist die AOK S1 um nähere Auskünfte gebeten worden, insbesondere betreffend die Frage, ob bereits am 22.10.2014 Arbeitsunfähigkeit vorgelegen und Krankengeld bezogen worden sei. Hierauf ist am 20.06.2024 die Auskunft erteilt worden, dass der Kläger ab dem 22.10.2024 arbeitsunfähig gewesen sei und vom 22.10.2014 bis zum 28.10.2014 Krankengeld bezogen habe.
Der Klägerbevollmächtigte hat am 15.08.2024 ausgeführt, dass es zutreffe, dass der Kläger für den Unfalltag Krankengeld erhalten habe. Diese Zahlung beruhe jedoch alleine auf einer Falschinformation des verstorbenen Arbeitgebers. Der Vater des verstorbenen Arbeitgebers, W2 H3, könne bezeugen, dass er den Kläger am 22.10.2024 bei der Arbeit gesehen habe. Als weiterer Zeuge hierfür könne der Rechtsanwalt W3 M3 (U1straße, S1) benannt werden, mit dem der Kläger am 22.10.2014 vor dem Gebäude U1straße in S1 gesprochen habe. Schließlich sei im Erörterungstermin vom Kläger berichtet worden, dass er am 22.10.2014 an dem Hausgrundstück Adresse U2 Straße, I1-S3 gearbeitet habe, und die Eigentümerin ihm dabei Kaffee gemacht habe. Die Eigentümerin B2 K2 (U2 Str.,I1) werde insoweit vorsorglich als weitere Zeugin benannt.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass die weiteren im Berufungsverfahren angefallenen Erkenntnisse nicht geeignet seien, den Vollbeweis dafür zu erbringen, dass der Kläger sich bei seinem Unfall noch auf einem versicherten Arbeitsweg befunden habe.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG und des LSG Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.
Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 21.07.2017 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2020, mit dem die Beklagte die Feststellung des angeschuldigten Ereignisses vom 22.10.2014 als Wegeunfall abgelehnt hat. Dagegen hat sich der Kläger von Anfang an allein und ausdrücklich mit dem Begehren gewandt, die Beklagte solle das Ereignis vom 22.10.2014 als Arbeitsunfall in der Form des Wegeunfalls anerkennen. Dieses Begehren auf Anerkennung des angeschuldigten Ereignisses als Wegeunfall verfolgt der Kläger in zulässiger Weise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 3, § 56 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 31.03.2022 - B 2 U 13/20 R -, juris Rn. 11 m.w.N.; Urteil vom 16.03.2021 - B 2 U 3/19 R -, juris, Rn. 10, st. Rspr.).
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist für den Senat nicht mit der erforderlichen Gewissheit nachgewiesen, dass der Kläger sich zum Zeitpunkt seines Unfalls am 22.10.2014 auf einem bei der Beklagten gesetzlich unfallversicherten Heimweg von der Arbeit befand. Das SG hat daher die Klage gegen die angegriffenen Bescheide zu Recht abgewiesen, weil der Kläger durch diese nicht in seinen Rechten verletzt wird.
Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Zu den versicherten Tätigkeiten gehört nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang). Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; ständige Rechtsprechung vgl. BSG, Urteil vom 30.03.2017 – B 2 U 15/15 R – juris Rdnr. 14 m.w.N.; BSG, Urteil vom 15.11.2016 – B 2 U 12/15 R – juris Rdnr. 14 m.w.N).
Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist demnach erforderlich (hierzu und zum Nachfolgenden BSG, Urteil vom 12.04.2005 – B 2 U 5/04 R –, juris Rdnr. 12 ff.), dass das Verhalten des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Es muss eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der innere bzw. sachliche Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Unstreitig ist, dass der Kläger sich kurz vor seinem Unfall nicht unmittelbar auf dem Weg zurück von seiner Arbeit befand, da er nach dem Kern seiner – unterschiedlichen – Einlassungen zunächst das Geschäft Kaufland im C2center aufgesucht hat, um Einkäufe zu machen. Damit liegt nicht nur ein Abweg von seinem Arbeitsweg, sondern auch eine – hinsichtlich ihrer Dauer unklare – zeitliche Zäsur vor.
Zwar berührt eine geringfügige Unterbrechung, die auf einer Verrichtung beruht, die bei natürlicher Betrachtungsweise zeitlich und räumlich noch als Teil des Wegs nach dem Ort der Tätigkeit in seiner Gesamtheit anzusehen ist und gleichsam „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenher“ erledigt werden kann, den Versicherungsschutz nicht (BSG, Urteil vom 05.07.2016 - B 2 U 16/14 R -, juris Rn 19 f. m.w.N). Auch wenn das C2center ausweislich des Stadtplans von S1 noch als auf dem Heimweg des Klägers (von der Baustelle in der U1str. zur Bushaltestelle in der V1gasse) liegend angesehen werden kann, weil es sich insoweit um eine nahezu geradlinige Richtung der Fortbewegung handelt, ist doch abgesehen von der Abweichung vom direkten Weg um 100 Meter (laut google maps, Aufruf am 28.02.2025) auch das Betreten des Geschäfts Kaufland im C2center und der Erwerb der darin gekauften Waren als wesentliche zeitliche und räumliche Zäsur anzusehen, die den inneren Zusammenhang zu dem Heimweg wegen dessen Unterbrechung für den privaten Zweck des Einkaufs aufgelöst hat. Nach der Rechtsprechung des BSG ist bereits eine Wegeverlängerung um nur 100 Meter keine nur unbedeutende Verlängerung des Weges (BSG, Urteil vom 24.06.2003 - B 2 U 40/02 R -). Hierzu wird auf die insoweit zutreffenden Entscheidungsgründe des SG verwiesen und zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 153 Abs. 2 SGG hierauf verwiesen.
Das SG hat indes nicht berücksichtigt, dass grundsätzlich nach der Beendigung der eigenwirtschaftlichen Verrichtung (Einkauf im Kaufland des C2centers) auch ein Wiederaufleben des Wegeunfallversicherungsschutzes möglich ist. Dies ist der Fall, wenn nach Dauer und Art der Unterbrechung keine endgültige Lösung von dem Zurücklegen des Weges als der zunächst versicherten Tätigkeit vorliegt. Eine endgültige Lösung ist gegeben, wenn den zwischenzeitlichen privaten Aktivitäten gegenüber dem ursprünglichen Zweck des Weges ein Übergewicht zukommt, sie sich als Eintritt in das Privatleben darstellt, so dass sich der weitere Weg aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten nicht mehr als Fortsetzung des früheren, sondern als Eintritt eines neuen, durch die private Tätigkeit veranlassten Weges darstellt. Dabei hat das BSG nach ständiger Rechtsprechung im Interesse einer gleichmäßigen und rechtssicheren Handhabung eine feste zeitliche Grenze von zwei Stunden festgelegt, bis zu der die Fortsetzung des ursprünglichen Weges von und zu einer versicherten Tätigkeit und damit die Unterbrechung für den Versicherungsschutz auf dem restlichen Weg unschädlich ist. Wird diese zeitliche Grenze überschritten, ist der versicherte Weg grundsätzlich endgültig beendet und der Versicherungsschutz wird nicht neu begründet (BSG, Urteil vom 02.12.2008 – B 2 U 26/06 R – Rn. 22, 28 m.w.N.; Urteil vom 05.07.2016 – B 2 U 16/14 R – Rn. 9 m.w.N.). Die feste Zeitgrenze gilt auch bei einer Verschiebung des Antritts des Weges vom Ort der versicherten Tätigkeit (BSG, Urteil vom 19.05.1983 – 2 RU 79/82 – Rn. 15; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 03.05.2023 – L 6 U 216/21 –, Rn. 30, juris).
Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lässt sich nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen, dass der Unfall des Klägers vom 22.10.2014 ein Wegeunfall im Sinne des SGB VII gewesen ist. Der Kläger selbst hat mehrere unterschiedliche Versionen der Abläufe am Unfalltag geschildert, die teils erheblich voneinander abweichen und nicht miteinander vereinbar sind. Zeugen seines Arbeitsendes und seines Arbeitsweges gibt es auch nach seinem Vortrag nicht. Nachdem der Kläger zunächst keine Erinnerung mehr an den Unfalltag gehabt haben will, womit auch die späte Unfallanzeige erklärt wurde, konnte er im Verlauf des Verfahrens indes immer mehr Details und genaue Uhrzeiten zu den Abläufen am Unfalltag schildern, was der Senat bereits aufgrund des größer werdenden Abstands zum Unfallgeschehen für fragwürdig hält. Zudem lässt sich in den Variationen des klägerischen Tatsachenvortrags aber auch eine Anpassung an die jeweilige Prozesssituation erkennen. So wurde etwa, nachdem die die Unterbrechung des Arbeitsweges als Problem thematisiert wurde, das zunächst mit 16:00 Uhr angegebene Arbeitsende immer später angegeben, und zuletzt sogar noch ein Aussteigen aus dem fahrenden Bus wegen eines dringenden Bedürfnisses behauptet wurde, wodurch beim Zugrundelegen der nächsten Busverbindung dann erst das zeitlich passende Eintreffen des Klägers am Unfallort gegen 18:30 Uhr angenommen werden konnte. In der Gesamtschau ist daher das Vorbringen des Klägers aus der Sicht des Senats mit deutlichen Fragezeichen zu versehen.
Hierzu ist im Einzelnen von folgenden Feststellungen auszugehen, und schließlich von folgenden nicht ausreichend aufklärbaren Fragen:
Fest steht für den Senat jedenfalls aufgrund des dem SG vorgelegten Kontobelegs, dass der Kläger am Unfalltag um 17:34 Uhr im Geschäft Kaufland (im C2center, K1 Markt) um 17:34 Uhr eingekauft hat. Gesichert ist aufgrund des polizeilichen Unfallberichts in der Verwaltungsakte auch, dass der Unfall des Klägers sich am 22.10.2014 um ca. 18:30 Uhr an einem Fußgängerüberweg im Bereich der H1straße in S1-H2 und damit in der Nähe zu seiner Wohnung ereignet hat.
Darüber hinaus können die genauen Aktivitäten des Klägers und die entscheidenden Zeitpunkte vor dem Unfall nicht mit ausreichender Sicherheit nachvollzogen werden, was vor allem an den vom Kläger selbst geschilderten unterschiedlichen Abläufen liegt.
Es gibt bereits einige Indizien dafür, dass der Kläger am Unfalltag nicht gearbeitet hat. So war der Kläger nach seinen eigenen Angaben mal alleine, mal – jedenfalls zeitweise – mit dem Zeugen W1 auf einer Baustelle tätig. Der Zeuge W1 hat jedoch konstant behauptet, sich an nichts Genaues betreffend den Unfalltag mehr erinnern zu können. Der Arbeitgeber A1 H3 konnte nicht mehr als Zeuge befragt werden, da er Suizid begangen hat. Zuvor bestand nach Angaben des Zeugen W1 eine erhebliche Alkoholproblematik des Arbeitgebers A1 H3, was ggf. die etwas erratischen und widersprüchlichen Aussagen noch zu Lebzeiten gegenüber der Beklagten zu erklären vermag; so hat er zuerst einen Unfall auf dem Heimweg nach dem Einkaufen, dann einen Unfall nach dem Einkaufen und schließlich angegeben, dass der Kläger am Unfalltag unbezahlten Urlaub genommen habe. Der Zeuge W1 konnte insoweit nur ein Arbeitsverhältnis allgemein bestätigen, einen Arbeitseinsatz des Klägers am Unfalltag jedoch nur vermuten. Ausweislich der Bescheinigung der AOK (LSG-Akte Bl. 82, 91) hat der Kläger Krankengeld bereits am Unfalltag bezogen, trotz der vom Kläger für den Unfalltag behaupteten vollschichtigen Beschäftigung. Dem entspricht die Verdienstabrechnung des A1 H3, welche für den 22.10.2014 (Unfalltag) den Eintrag „krank“ aufweist. Einer vollschichtigen Beschäftigung widerspricht der dem SG vorgelegte Stundenzettel, der lediglich 3 konkrete Zeitstunden aufweist.
Sofern der Klägerbevollmächtigte als Zeugen für die Arbeit des Klägers am Unfalltag den Rechtsanwalt M3 benannt hat, dessen Kanzlei sich gegenüber der Baustelle befindet, und mit dem der Kläger auf der Straße ein kurzes Gespräch geführt haben soll, stellt sich die Frage, ob dies ein geeignetes Beweismittel für den Nachweis eines Arbeitseinsatzes auf der Baustelle am Unfalltag sein kann. Gleiches gilt für die Eigentümerin eines anderen Grundstücks, die dem Kläger am Unfalltag einen Kaffee serviert haben soll. Unabhängig hiervon ist darauf hinzuweisen, dass durch die vorbehaltlose Zustimmung des Klägerbevollmächtigten zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG vom 09.11.2022 nicht deutlich gemacht worden ist, dass an diesen Beweisantritten festgehalten wird. Sollten insoweit weiterhin aktuelle Beweisanträge beabsichtigt gewesen sein, hätte hinreichend deutlich gemacht werden müssen, dass an diesen jedenfalls hilfsweise festgehalten werden sollte. Dies lässt sich der Zustimmungserklärung gemäß § 124 Abs. 2 SGG vom 04.03.2025 in dem letzten Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten jedoch nicht entnehmen (vgl. BSG, Beschluss vom 21.12.2021 – B 9 V 34/21 B –, Rn. 11, juris; BSG, Beschluss vom 20.02.2018 - B 10 LW 3/17 B - juris Rn. 7; BSG, Beschluss vom 1.9.1999 - B 9 V 42/99 B - SozR 3-1500 § 124 Nr 3 - juris Rn. 5).
Der Senat geht trotz einiger Bedenken hinsichtlich eines Arbeitseinsatzes des Klägers am Unfalltag zugunsten des Klägers davon aus, dass er an diesem Tag jedenfalls stundenweise gearbeitet hat, weswegen es auf die Vernehmung dieser beiden Zeugen nicht ankommt. Die beiden Zeugen könnten auch, wenn der Vortrag des Klägers zu diesen beiden Zeugen als wahr unterstellt würde, jedenfalls nicht bezeugen, dass der Kläger auch noch am Nachmittag in ausreichend engem zeitlichen Zusammenhang mit seinem Unfall gegen 18:30 Uhr gearbeitet hat. Außerdem könnten die Zeugen auch nicht belegen, dass der jedenfalls stundenweise anzunehmende Arbeitseinsatz des Klägers am 22.10.2014 eine gesetzlich unfallversicherte Beschäftigung des Klägers betraf. Die Zeugen waren daher auch nicht von Amts wegen nach § 103 SGG anzuhören.
Die Schilderungen des Klägers, die Stundenaufschriebe und sonstigen Dokumente (AOK, Gehaltsmitteilung) stehen in einem offenkundigen Widerspruch zueinander, der sich nicht aufklären lässt. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass ein konkreter Verdacht auf Sozialversicherungsbetrug aktenkundig ist, welcher auch auf die rückwirkende Anmeldung zur Sozialversicherung nach dem Unfall, nämlich am 03.11.2014 zum 10.10.2014, zusätzlich gestützt wird, erscheint die Behauptung des Klägers einer abhängigen Beschäftigung am Unfalltag zumindest sehr fraglich. Diesbezügliche Zweifel werden weiter dadurch befördert, dass der Kläger sein selbständiges Gewerbe als Bauwerker auch erst nach dem Unfall, dann aber ebenfalls rückwirkend zum 21.09.2014 abgemeldet hat (Bescheinigung des Finanzamts C1 vom 18.12.2014, Bl. 75, 85 der LSG-Akte). Schließlich wurde ein Wegeunfall der Beklagten auch erst rund 10 Monate nachträglich gemeldet, obwohl der Kläger seit seinem Unfall anwaltlich vertreten war.
Zudem ist noch nicht einmal sicher, dass der Kläger überhaupt wie von ihm behauptet abends vor dem Unfall den Bus vom C2center in Richtung seiner Wohnung genommen hat. Belege für die behauptete Busfahrt sind nicht vorhanden. In seiner Schilderung des Unfalltags vom 15.01.2016 hat der Kläger ein Arbeitsende um 16 Uhr angegeben, welches auch unter Berücksichtigung eines zwischenzeitlichen (kurzen) Einkaufs im C2center nicht zu einem erst um 18:30 Uhr auf dem Heimweg erfolgten Unfall passt. Auf entsprechend von der Beklagten geäußerte Zweifel wurde das Arbeitsende vom Klägerbevollmächtigten dann am 02.06.2016 mit 17:00 Uhr angegeben, wobei es allerdings auch hierfür außer der Behauptung des Klägers keinen Beweis gibt. Diese vom Klägerbevollmächtigten geschilderte Version der Ereignisse ist aber wiederum mit der später vom Kläger am 12.10.2016 selbst geschilderten vierten Version nicht vereinbar, wonach er bereits um 17:10 Uhr mit dem Bus nach Hause gefahren sei. Diese relativ neue Version passt wiederum nicht zu der Tatsache, dass die Fahrtzeit des Busses zwischen den Haltestellen V1gasse nach H2 ca. 20 Minuten beträgt, und der Kläger dann bereits um 17:30 Uhr vor seiner Wohnung angekommen wäre, wohingegen der Unfall erst eine Stunde später gegen 18:30 Uhr passiert ist. Auch wenn aufgrund des Einkaufs im C2center um 17:34 Uhr eine spätere Abfahrt – sofern der Kläger tatsächlich den Bus genommen haben sollte – naheliegt, hätte er ebenfalls deutlich vor dem Unfallzeitpunkt um 18:30 Uhr in H2 ankommen müssen. Für diesen verbleibenden zeitlichen Widerspruch wurde im Berufungsverfahren erstmalig die Erklärung angeboten, der Kläger habe den Bus wegen eines menschlichen Bedürfnisses verlassen müssen und habe dann den darauffolgenden Bus genommen. Allerdings erscheint letztere Behauptung, die der Kläger sehr spät vorbringt, dem Senat zu passgenau konstruiert, um die zeitlichen Abläufe irgendwie plausibel machen zu können, und im Ergebnis letztlich nicht überzeugend. Dazu trägt auch bei, dass frühere, zeitnähere Schilderungen des Klägers hiermit nicht vereinbar sind.
Schließlich ist ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit beim Kläger selbst dann nicht bewiesen, wenn man entgegen der Auffassung des Senats eine vollschichtige abhängige Tätigkeit des Klägers am Unfalltag annehmen und zugrunde legen würde, dass der Kläger nach seinem Einkauf im C2center um 17:34 Uhr wie von ihm geschildet sukzessive zwei Busse nach H2 genommen hat.
Denn es gibt keinen Nachweis dafür, dass der Kläger entgegen seiner ersten Einlassung nach 16:00 Uhr noch gearbeitet hat, da das Arbeitsende des Klägers am Unfalltag ebenfalls nicht nachgewiesen ist. Aufgrund der schriftlichen Einlassung des Klägers vom 15.01.2016, er habe seine Arbeit am Unfalltag um 16 Uhr beendet, geht der Senat von einem Zeitintervall von mindestens 2,5 Stunden zwischen dem Arbeitsende und dem Unfall aus. Hierfür spricht im Übrigen auch die spätere 4. Schilderung des Tagesgeschehens durch den Kläger vom 12.10.2016, dass er um 16:30 Uhr mit einem älteren Herrn auf der anderen Straßenseite über die Sturmschäden vom Vortag gesprochen habe. Dass der jedenfalls Kläger bis 16 Uhr gearbeitet hat, ist allerdings auch nicht sicher, weil es hierüber keinen Nachweis gibt. Der Stundenzettel gibt für den Unfalltag lediglich drei Zeitstunden an, was auch ein wesentlich früheres Arbeitsende möglich erscheinen lässt.
Für Wege vom Tätigkeitsort im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII geht die Rechtsprechung von einer festen Zeitgrenze für die Lösung des inneren Zusammenhangs von der versicherten Tätigkeit aus. Eine Lösung von der versicherten Tätigkeit tritt ein, nachdem der Versicherte den Weg vom Tätigkeitsort um mehr als zwei Stunden durch private Verrichtungen (einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden Wege) unterbrochen hat (BSG, Urteil vom 02.12.2008 - B 2 U 26/06 R -, BSGE 102, S. 111 ff. Rn. 28; BSG, Urteil vom 27.10.2009 - B 2 U 23/08 R -, UV-Recht Aktuell 2010, S. 114 ff.; BSG, Urteil vom 31.08.2017 - B 2 U 11/16 R -, SozR 4-2700 § 8 Nr. 62 Rn. 20; Keller in Hauck/Noftz SGB VII, 1. Ergänzungslieferung 2025, § 8 Rn. 263 f.).
Hier ist von der Baustelle in der U1straße ein Fußweg von 30 Minuten zum C2center anzunehmen (diese und alle folgenden Entfernungs- und Zeitangaben laut google maps, Abruf am 28.02.2025). Dabei ist zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass er diesen Weg zugleich mit der gemischten Handlungstendenz zurückgelegt hat, die hinter dem C2center gelegene Bushaltestelle V1gasse zu erreichen, weswegen diese 30 Minuten Fußweg noch dem versicherten Arbeitsweg zuzurechnen sind. Demnach wäre der Kläger spätestens um 16:30 Uhr im C2center angekommen, um dort privat einzukaufen. Bereits bei einem Arbeitsende um 15:30 Uhr, welches nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausgeschlossen werden kann, wäre der Zeitraum von zwei Stunden, innerhalb dessen die Wiederaufnahme eines versicherten Arbeitsweges noch möglich ist, aber schon überschritten. Der Kläger wäre dann bereits um 16:00 Uhr im C2center angekommen, wobei die Einkäufe aber erst um 17:34 Uhr dokumentiert sind, und bis zum Unfall gegen 18:30 Uhr noch nicht weiter aufklärbare Tätigkeiten des Klägers in den 2,5 Stunden bis zum Unfall vorgenommen sein müssten, die jedenfalls nicht dem direkten Nachhauseweg dienten. Die Überschreitung der 2-Stunden-Grenze in diesem Fall ergibt sich auch dann, wenn zugunsten des Klägers eine Busfahrt von der V1gasse nach H2 noch als Arbeitsweg eingerechnet würde, weil dann immer noch eine Zäsur von 2 Stunden und 10 Minuten vorliegen würde.
Im Ergebnis sind die Beklagte und das SG daher zutreffend davon ausgegangen, dass der erforderliche innere Zusammenhang des von dem Kläger zurückgelegten Weges mit einer bei der Beklagten versicherten Tätigkeit nicht mit der erforderlichen Gewissheit nachgewiesen worden ist. Die Berufung des Klägers war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 687/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 2892/23
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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