L 9 SO 71/25 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 30 SO 21/25 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 71/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 20.03.2025 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII im Wege der einstweiligen Anordnung.

Der 00.00.0000 geborene Antragsteller bezieht seit dem 01.12.2023 Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Die Antragsgegnerin bewilligte ihm auf seinen Antrag zunächst Grundsicherung nach dem SGB XII für Januar 2024 bis Dezember 2024. Mit Bescheid vom 24.07.2024 stellte sie die Bewilligung ab August 2024 auf Hilfe zum Lebensunterhalt um, da der Antragsteller weder die Altersgrenze des § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht habe, noch eine dauerhafte volle Erwerbsminderung iSv § 41 Abs. 3 SGB XII festgestellt worden sei. Sie richtete ein Ersuchen nach § 45 SGB XII an die Rentensicherung und forderte den Antragsteller mehrfach auf, an den Ermittlungen der Rentenversicherung zu seinem Gesundheitszustand mitzuwirken. Nachdem der Antragsteller den Aufforderungen der Antragsgegnerin nicht gefolgt war, versagte sie die Hilfe zum Lebensunterhalt mit Bescheid vom 30.01.2025 für die Zeit ab Februar 2025 wegen fehlender Mitwirkung. Der Antragsteller legte dagegen am 10.02.2025 Widerspruch ein.

 

Der Antragsteller hat am 10.02.2025 bei dem Sozialgericht Detmold beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Hilfe zum Lebensunterhalt weiter zu zahlen. Er halte sich nicht für erwerbsgemindert und sei daher auch nicht verpflichtet, an den entsprechenden Ermittlungen der Rentenversicherung mitzuwirken. Die Antragsgegnerin hat am 27.02.2025 gem. § 95 SGB XII einen Antrag auf Grundsicherung für den Antragsteller gestellt.

 

Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 20.03.2025, zugestellt am 20.03.2025, im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig vom 18.02.2025 bis 31.03.2025 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII nach den gesetzlichen Bestimmungen zu „gewähren“. Der Antragsteller sei leistungsberechtigt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Ein vorrangiger Anspruch auf Grundsicherung bestehe nicht, da der Antragsteller den entsprechenden Antrag zurückgenommen habe. Auch die Antragstellung der Antragsgegnerin nach § 95 SGB XII führe nicht dazu, dass kein Anspruch mehr auf Hilfe zum Lebensunterhalt bestehe, denn dieser sei nur ausgeschossen, wenn Grundsicherung gezahlt werde. Der durch die Antragsgegnerin am 27.02.2025 gem. § 95 SGB XII gestellte Leistungsantrag stehe einer vorläufigen Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII nicht entgegen. Der Widerspruch gegen den Versagungsbescheid habe aufschiebende Wirkung. An der Rechtmäßigkeit des Versagungsbescheides bestünden Zweifel, da der Antragsteller Mitwirkungspflichten nicht verletzt habe. Es sei überhaupt nicht ersichtlich, warum der Antragsteller allein aufgrund einer Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 50 dauerhaft voll erwerbsgemindert sein solle.

 

Die Antragsgegnerin zahlte in Ausführung dieses Beschlusses einen Betrag iHv insgesamt 825,48 € an den Antragsteller aus.

 

Gegen den Beschluss des Sozialgerichts richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 15.04.2025, die ihren Versagungsbescheid für rechtmäßig hält. Der Antragsteller sei verpflichtet, die gegenüber dem Dritten Kapitel des SGB XII vorrangigen Leistungen der Grundsicherung zu beantragen und an den Ermittlungen zu seinem Gesundheitszustand mitzuwirken.

 

II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zurecht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, weiter Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller sowohl das Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf die begehrte Leistung (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO).

Das Sozialgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung, der der Senat folgt, ausgeführt, dass der Antragsteller Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII hat. Zwar gehen die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Hilfe zum Lebensunterhalt gem. § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII vor. Der Vorrang greift jedoch nur dann ein, wenn tatsächlich ein Anspruch auf Grundsicherung besteht (Stölting in Hauck/​Noftz SGB XII, § 19, Rn. 12). Daher ist zB bei einem fehlenden oder unwirksamen Antrag auf Grundsicherungsleistungen Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten (BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 13/08 R und Beschluss vom 27.07.2021 – B 8 SO 10/19 R).

Dem Anspruch steht auch der Versagungsbescheid vom 30.01.2025 nicht entgegen. Wie das Sozialgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, entfaltet der Widerspruch des Antragstellers gegen diesen Bescheid gem. § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Dessen ungeachtet ist der Versagungsbescheid bei summarischer Prüfung rechtswidrig. Der Antragsteller hat seine Mitwirkungspflichten nicht verletzt.

Der Antragsteller ist trotz der Regelung in § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII nicht verpflichtet, Grundsicherung nach dem SGB XII zu beantragen (abweichend Kirchhoff in Hauck/Noftz SGB XII, § 41 Rn. 8; Schneider in Schellhorn u. a., SGB XII, 21. Aufl. 2023, § 42 Rn. 48). Dies folgt aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist im Jahr 2003 eingeführt worden, zunächst als eigenständiges Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) vom 26.06.2001 (BGBl I 2001, 1310) und ab dem Jahr 2005 als Viertes Kapitel des SGB XII (Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl. I 2003, 3022). Der Gesetzgeber wollte durch den bei der Grundsicherung bestehenden weitgehenden Ausschluss des Unterhaltsrückgriffs erreichen, dass die Leistung von mehr Menschen in Anspruch genommen wird, die bislang aus Sorge vor dem Rückgriff auf die Kinder keine Sozialhilfe bezogen hatten. Zweck war daher die Vermeidung verdeckter Altersarmut (Stölting in jurisPK-SGB XII, § 41 Rn. 22), nicht die Begründung von Erstattungsansprüchen der Leistungsträger.

Um den Zweck der Entlastung von Angehörigen zu erreichen, wäre mittlerweile allerdings eine eigenständigen Grundsicherung nicht mehr erforderlich, weil der Gesetzgeber den weitgehenden Ausschluss des Unterhaltsrückgriffs in § 94 Abs. 1a SGB XII seit dem 01.01.2020 durch das Angehörigen-EntlastungsG vom 12.12.2019 (BGBl I, 2135) auf alle Leistungen der Sozialhilfe ausgedehnt hat. Ungeachtet dessen wird die Grundsicherung gem. § 44 Abs. 1 SGB XII nur auf Antrag gewährt und bleibt es der Entscheidung des Leistungsberechtigten überlassen, ob er einen solchen Antrag stellt. Wie das Sozialgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, soll ein Wechsel von der Hilfe zum Lebensunterhalt zu den Leistungen der Grundsicherung als einer besonders ausgestalteten Sozialhilfe gerade nicht von Amts wegen erfolgen (BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 13/08 R). Namentlich bleibt es dem Leistungsberechtigten überlassen, auf die Grundsicherung zu verzichten, wenn er eine Gesundheitsprüfung mit Offenlegung seiner medizinischen Daten und ggfs. einer medizinischen Begutachtung nicht wünscht.

Wenn man im vorliegenden Fall annimmt, dass die Antragstellung der Antragsgegnerin gem. § 95 SGB XII wirksam ist, ergeben sich daraus nur Mitwirkungspflichten des Antragstellers im Hinblick auf die Grundsicherung. Eine Versagung der Hilfe zum Lebensunterhalt scheidet aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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