L 8 R 3359/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 894/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 3359/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 13.10.2023 abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2021 verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung befristet vom 01.09.2021 bis zum 31.08.2024 sowie vom 01.09.2024 bis zum 31.08.2027 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszüge. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1984 geborene Kläger hat die Realschule mit der Mittleren Reife im Jahr 2002 abgeschlossen. Er hat vom 30.08.2006 bis zum 18.09.2009 in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Beruf des Fachinformatikers (Systemintegration) erlernt und war in diesem Beruf jeweils lediglich kurze Zeit aufgrund von Kündigungen in der Probezeit beschäftigt. Seit dem 19.09.2009 ist der Kläger arbeitslos und bezieht Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II.

Im Februar 2004 wurde bei dem Kläger die Diagnose eines bösartigen Tumors der Hirnanhangdrüse (supraselläresmalignes B-Zell-Lymphom) gestellt. Er wurde am 03.02.2004 an der Hypophyse und am 24.05.2005 wegen eines Keimzelltumors der Zirbeldrüse operiert mit anschließender Bestrahlung der Neuroachse. Bei ihm ist das Vorliegen einer Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt.

Vom 26.01.2005 bis zum 23.11.2005 befand sich der Kläger in stationärer Rehabilitationsbehandlung in der Rehabilitationsklinik K1. Im Rehaentlassungsbericht vom 16.12.2005 wurden ein intrakranielles Germinom der Pinealisregion ED 05/05, eine Anpassungsstörung nach maligner Erkrankung, eine komplette substitutionspflichtige Hypophysenvorderlappeninsuffizienz, ein Diabetes insipidus zentralis sowie eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit diagnostiziert. Als weiteren Diagnosen sind eine Gynäkomastie bds. re > li., rezidivierende Cephalgien, ein Z.n. Hypophysitis 02/04, ein Nikotinkonsum, eine leichte kognitive Störung, eine therapiebedingte Leukozytopenie sowie eine Trennung der Eltern in der Kindheit gestellt. Im Hinblick auf die schulische - berufliche Situation scheine eine Bewältigung der schulischen Anforderungen und damit ein erfolgreicher Abschluss der 12. Klasse derzeit nicht möglich. Die Ergebnisse der neuropsychologischen Diagnostik zeigten stark unterdurchschnittliche Leistungen im Bereich Gedächtnis und massive Einschränkungen bei anhaltender Konzentrationsanforderung. Dabei komme es zu zunehmenden Kopfschmerzen und einer Überforderungssituation nach ca. 5 bis 10 Minuten.

Der L1 sowie der R1 kamen in einem sozialmedizinischen Gutachten zur Überprüfung der Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II (zugleich Bericht zur Maßnahme „ProfIL plus“) vom 28.09.2012 zum Ergebnis, dass keine behandlungsbedürftige psychische Störung vorliege und eine leicht eingeschränkte, aber nach dem SGB II voll bestehende dauerhafte Erwerbsfähigkeit mit einer Einsatzfähigkeit aufgrund der kombinierten psychischen und physischen Leistungsfähigkeit von 6 Stunden pro Tag bestehe.

Am 14.05.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung wegen der Folgeerscheinungen seiner Tumorerkrankung in Form von Merk- und Konzentrationsstörungen sowie gravierenden Gedächtnisstörungen. Die Erwerbsminderung bestehe seit dem Jahr 2005. Ihm sei durch seine Erkrankung keine geregelte Tätigkeit möglich, was die zweimalige Kündigung während der Probezeit belege.

Die Beklagte ließ den Kläger durch H1 am 31.01.2020 begutachten. Dieser diagnostizierte eine organisch bedingte kognitive Störung nach Operation eines suprasellären Germinoms 2004 und gab an, dass ihm eine Einschätzung des Leistungsvermögens aufgrund der ausgeprägten Zurückhaltung des Klägers nicht möglich sei. Er empfahl eine neuropsychologische Untersuchung.

Die Beklagte beauftrage nachfolgend H2 mit einer testpsychologischen Zusatzbegutachtung, welche jedoch vom Kläger wegen der Ansteckungsgefahr mit SARS-CoV-2 nicht zustande kam.

Mit Bescheid vom 13.07.2020 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, da er die medizinischen Voraussetzungen nicht erfülle.

Hiergegen legten der durch seine Mutter als Bevollmächtigte vertretene Kläger am 14.08.2020 per Email sowie der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 14.08.2020 Widerspruch ein. Zur Begründung verwies der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf das Gutachten des S1 vom 27.06.2014, aus welchem sich ergebe, dass das Konzentrationsvermögen des Klägers äußerst stark herabgesetzt sei. Es sei ihm nicht möglich, sich Termine zu merken oder etwa neue Inhalte mit altersgemäß konzentrativer Anspannung zu erlernen. Die Bewältigung kognitiver oder konzentrativer Anforderungen sei daher auf Dauer äußerst limitiert.

Das im Widerspruchsverfahren eingereichte Gutachten von S1 vom 27.06.2014 wurde in einem Klageverfahren S 9 SB 1287/13 vor dem Sozialgericht (SG) Konstanz zur Feststellung des GdB erstellt. S1 diagnostizierte eine endokrine Störung (Hormonersatztherapie) sowie eine leichte kognitive Störung nach Operation und Bestrahlung. Der Kläger klage seit den durchgeführten Behandlungen über Einschränkungen des Gedächtnisses und des Konzentrationsvermögens. Auch bei der jetzigen Begutachtung habe sich eine Störung des Konzentrationsvermögens gezeigt. Dies bedeute jedoch nicht, dass eine solche Einschränkung der geistigen Leistungsbreite bestünde, dass der Kläger nicht in der Lage wäre, sein Leben selbst und eigenverantwortlich zu gestalten. Die Einschränkungen müssten jedoch bei allen Aktivitäten des Lebens, einschließlich einer Berufstätigkeit berücksichtigt werden, da Aktivitäten, seien sie beruflich oder privat, mit höheren kognitiven oder konzentrativen Anforderungen ausscheiden würden. Die leichte kognitive Beeinträchtigung sei mit einem GdB von 30 zu bemessen. Unter Berücksichtigung der endokrinologischen wie der psychischen Einschränkungen empfehle er einen Gesamt-GdB von 50.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.2021 als unbegründet zurück. Unter Berücksichtigung der leichten organisch bedingten kognitiven Störung bei medikamentös substituierter kompletter gonadotroper und somatotroper Insuffizienz der Hirnanhangsdrüse, Zustand nach Operation von Hirnanhangsdrüse und Zirbeldrüse und Zustand nach Bestrahlung der cerebrospinalen Achse bei Germinom sowie Autoimmunthyreoiditis und der sich hieraus ergebenden funktionellen Einschränkungen bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränken würden. Eine sozialmedizinische Beurteilung allein anhand des Gutachtens aus dem Jahr 2014 sei nicht zielführend, zumal weitere medizinische Unterlagen wie etwa das Gutachten des Gemeindepsychiatrischen Zentrums Ü1 zu der Einschätzung gekommen seien, dass der Kläger vollschichtig erwerbsfähig sei. Dem Kläger seien daher noch leichte Tätigkeiten überwiegend im Stehen und Gehen, ständig im Sitzen, ohne Nachtschicht, ohne besondere Anforderungen an das Konzentrationsvermögen, Anpassungs- und Umstellungsvermögen, Verantwortung für Personen und Maschinen, ohne besonderen Zeitdruck und ohne Einbindung in komplexe Arbeitsvorgänge 6 Stunden und mehr täglich zumutbar.

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 28.04.2021 Klage beim SG mit dem Begehren erhoben, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass es dem Kläger wegen seiner körperlichen Beeinträchtigungen nicht möglich sei, 6 Stunden werktäglich einer leichten Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes zu den dort üblichen Bedingungen nachzugehen. Es fehle ihm an Durchhaltevermögen und Arbeitsgeschwindigkeit. Zudem benötige er zusätzliche Pausen und es sei mit Fehlzeiten zu rechnen. Ein weiterer Schwerpunkt der Beeinträchtigungen liege im Bereich der kognitiven Fähigkeiten, die eingeschränkt seien. Hier seien der Reha-Entlassungsbericht vom 16.12.2005 der Rehabilitationsklinik K1, aber etwa auch der Bericht aus dem Universitätsklinikum U1 vom 30.08.2012 sowie das Gutachten vom 28.09.2012 anzuführen. Wenngleich dieses formal zum Ergebnis eines vollschichtigen Leistungsvermögens komme, könne nicht übersehen werden, dass die Ausführungen dort ersichtlich vom Bemühen getragen seien, den Kläger noch für den allgemeinen Arbeitsmarkt verfügbar darzustellen, auch wenn sich insoweit, nach den darin enthaltenen Befunden, schon massive Zweifel hieran hätten auftun müssen. Auch unter Berücksichtigung des Gutachtens von S1 vom 27.06.2014 spreche in der Biografie des Klägers nichts dafür, dass sich der Zustand seither, was die kognitiven Fähigkeiten anbelange irgendwie gebessert habe.

Das SG hat Beweis erhoben durch die schriftliche Befragung der behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen.

G1, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Universitätsklinikums U1 hat mit Schreiben vom 08.06.2021 angegeben, zum Gesundheitszustand des Klägers nach 2012 keine Angaben machen zu können.

B1, Neurochirurgische Klinik des Universitätsklinikums E1 hat mit Schreiben vom 11.06.2021 geschildert, dass der Patient letztmalig persönlich am 12.06.2013 vorstellig war, im Verlauf jedoch weitere Befunde zur Beurteilung vorgelegt worden seien. Auf dieser Grundlage gehe er davon aus, dass der Kläger allenfalls noch in der Lage sei, regelmäßig leichtere Tätigkeiten unter 3 Stunden täglich zu verrichten.

Auch D1 hat mit Schreiben vom 24.06.2021 angegeben, dass er den Kläger wegen seines deutlich eingeschränkten Konzentrationsvermögens sowie der Verlangsamung unter Einnahme von Antiepileptika nicht in der Lage sehe, einer Berufstätigkeit nachzugehen.

A1 hat am 26.07.2021 mitgeteilt, dass sie den Kläger für leichte körperliche Arbeiten, die routiniert erledigt werden können und die keine längere Konzentrationsfähigkeit voraussetzen, für maximal 3 Stunden täglich für fähig halte. Diese Einschätzung bestehe seit dem Krampfanfall 2021, der zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers geführt habe.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schreiben vom 28.07.2021 noch zwei Arztbriefe der Klinik für Neurologie des Klinikum F1 vom 12.02.2021 sowie vom 13.02.2021 wegen eines Schlaganfalls mit epileptischem Anfall eingereicht.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 31.08.2021 eine sozialmedizinische Stellungnahme der S2 vom 30.08.2021 vorgelegt und eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung des Klägers angeregt.

Das SG hat den B2 zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Ausweislich des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens vom 23.11.2021 liegt beim Kläger auf neuropsychiatrischem Fachgebiet eine leicht bis derzeit mäßiggradig ausgeprägte kognitive Störung sowie eine schwere organische Wesensänderung mit völlig fehlender Intentionalität, mangelhaftem Antrieb sowie fehlender Möglichkeit zur Tagesstrukturierung vor. Diese Symptome seien häufig in Zusammenhang mit Frontalhirnprozessen zu bringen. Im Frontalhirnbereich weise der Kläger nach der im Jahr 2005 erfolgten Bestrahlung Gliosen auf, weshalb davon auszugehen sei, dass die organische Wesensänderung durch die schwere maligne Grunderkrankung sowie die nachfolgend erforderliche Bestrahlung verursacht worden sei. Die vorgeschlagene neuropsychologische Testung sei nicht dazu geeignet, die organische Wesensänderung hinreichend zu erfassen, die durch eine Beeinträchtigung der kognitiven Basissymptome in Form von Antrieb, formalem Denken, Teilnahmelosigkeit, etc. charakterisiert sei. Aufgrund der Schwere des neuropsychiatrischen Syndroms sei der Kläger nicht mehr in der Lage, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine sozialversicherungsrelevante Tätigkeit zu verrichten. Die festgestellte Symptomatik bestehe zumindest seit Auftreten des Schlaganfalls mit der Entwicklung einer symptomatisch fokalen Epilepsie, die zu einer weiteren Verschlechterung des allgemeinen Befindens und der Symptomatik geführt habe.

Mit Schreiben vom 22.12.2021 hat die Beklagte vorgetragen, dass sie sich der Auffassung von B2 anschließe, wonach der Kläger voll erwerbsgemindert sei. Der Eintritt einer leistungsrechtlich relevanten Minderung der Erwerbsfähigkeit sei allerdings lange vor dem 23.11.2021 eingetreten. Die zwischenzeitlich im Klageverfahren eingeholten medizinischen Unterlagen legten nahe, dass der Kläger zu keiner Zeit in der Lage gewesen sei, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Erwerbsminderung sei daher bereits in das Erwerbsleben eingebracht. Aus den nunmehr vorliegenden medizinischen Unterlagen gehe unstreitig hervor, dass bereits seit mindestens 2015 eine leistungsrechtlich relevante Erwerbsminderung vorgelegen habe. Für den Fall einer bereits in das Erwerbsleben eingebrachten Erwerbsminderung und eines Rentenanspruchs gemäß § 43 Abs. 6 SGB VI seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente nicht erfüllt. Der Rentenanspruch könne daher weiterhin nicht anerkannt werden.

Das SG hat eine ergänzende Stellungnahme von B2 vom 19.04.2022 im Hinblick auf den Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung eingeholt. Darin führt B2 aus, dass der Kläger zwar nach seiner Operation und Bestrahlung eine berufliche Ausbildung unter „geschützten Bedingungen“ in einem Heim für Behinderte in N1 absolviert habe, die Integration in das Erwerbsleben jedoch nicht gelungen sei. Die schwere psychopathologische Symptomatik im Sinne eines Frontalhirnsyndroms sei sehr gut mit der Lokalisation der bildmorphologischen Veränderung und den Gliosen nach Bestrahlung der bösartigen Hirnerkrankung vereinbar und bestehe anamnetisch seit vielen Jahren. Die Erwerbsminderung bestehe vermutlich bereits seit 2012, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mindestens seit 2015, wenngleich der Schlaganfall im Jahr 2021 und ein epileptischer Anfall den gesundheitlichen Zustand des Klägers weiter verschlechtert hätten.

Das SG hat mit den Beteiligten am 13.06.2022 einen Erörterungstermin durchgeführt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat im Termin einen Bericht von M1 über eine Zertifizierungsprüfung vom 25.03.2014 sowie einen Qualifizierungsvertrag von W1 vom 14.06.2013 und einen Befundbericht der Neurochirurgischen Klinik der Universitätsklinik E1 vom 19.07.2013 eingereicht.

Das SG hat eine weitere ergänzende Stellungnahme von B2 vom 30.10.2022 eingeholt, in der dieser ausführt, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die schwere psychopathologische Symptomatik, die wesentlich für das reduzierte Leistungsvermögen verantwortlich sei, bereits seit der Diagnose und Therapie des bösartigen Tumors in den Jahren 2004 und 2005 bestehe.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 04.11.2022 einen Versicherungsverlauf des Klägers übersandt.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schreiben vom 15.12.2022 vorgetragen, dass bezüglich der Behauptung der Beklagten, eine Erwerbsminderung habe bereits 2004 bzw. 2005 bestanden, darauf hinzuweisen sei, dass es dem Kläger immerhin gelungen ist, die durchaus anspruchsvolle EDV-Ausbildung (M1-Server Administration) zu durchlaufen und auch kurzzeitig in diesem Bereich tätig zu sein. Das ergebe sich nicht nur aus dem Versicherungsverlauf, sondern u.a. auch aus der beigefügten Gehaltsabrechnung. Was bisher nicht ausreichend beachtet werde, sei der Umstand, dass nun Maßgabe für die Frage, ab wann eine Erwerbsminderung im relevanten Umfang vorgelegen habe, hier nicht das Scheitern des Klägers in dem für ihn möglicherweise zu anspruchsvollen EDV-Bereich mit erheblichen kognitiven Anforderungen sein könne, denn dieser sei fraglos nicht Maßstab für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente bzw. Maßstab für den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls. Dieser sei vielmehr danach zu bestimmen, wann es dem Kläger nicht mehr möglich gewesen ist, auch die sogenannten leichten und einfachen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten. Er hat eine Entgeltabrechnung für den Monat August 2015 der Stadt F1 sowie eine M1 Zertifizierung vom 18.03.2014 übersandt.

Die Beklagte hat auf Nachfrage des SG mit Schreiben vom 12.05.2023 mitgeteilt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bei einem Leistungsfall im Dezember 2009 erstmals erfüllt seien und eine Berechnung eingereicht. Mit Schreiben vom 15.05.2023 hat die Beklagte ergänzend ausgeführt, dass die vorgelegten Berechnungen im Schreiben vom 12.05.2023 nur für eine Erwerbsminderungsrente nach § 43 Abs. 1 SGB VI gelten würden. Da der Kläger die Erwerbsminderung bereits ins Erwerbsleben eingebracht habe, würden ihn die Voraussetzungen nach § 43 Abs. 6 SGB VI gelten. Die Wartezeit von 20 Jahren erfülle er nicht.

Das SG hat am 16.05.2023 eine mündliche Verhandlung durchgeführt und den Kläger sowie seine Mutter befragt. Die Verhandlung wurde zur Einholung einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme vertagt.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 01.06.2023 eine sozialmedizinische Stellungnahme des N2 vom 31.05.2023 eingereicht, wonach es bei der bisherigen Bewertung verbleibe. Zwar hätten die im Verlauf eingereichten Unterlagen auch gewisse Zweifel genährt, jedoch nicht in dem Ausmaß, als dass sie prinzipiell die Ausführungen von B2 wesentlich erschütterten.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13.10.2023 abgewiesen. Ausweislich des aktuellen Versicherungsverlaufs habe der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nur erfüllt, wenn der Versicherungsfall frühestens ab dem 01.12.2009 – mit der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit – eingetreten sei. Dies sei indes nicht nachgewiesen, vielmehr sprächen die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens mehr dafür als dagegen, dass bereits seit der Diagnose und Therapie des bösartigen Tumors im Jahr 2005 eine Erwerbsminderung vorliege, die der Kläger in das Erwerbsleben eingebracht habe. Verbleibende Zweifel am genauen Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung gingen zu Lasten des Klägers. B2 habe dargelegt, dass es im zeitlichen Kontext mit der Manifestation der bösartigen, zum damaligen Zeitpunkt lebensbedrohlichen Erkrankung des Klägers, zu einem biographischen Knick in Bezug auf dessen schulische Leistungen und seinen weiteren beruflichen Lebensweg gekommen sei. Wegen Lernschwierigkeiten, Problemen mit dem Gedächtnis und der Konzentration habe der Kläger nach mehrfachen Besuchen die Fachoberschule abgebrochen. Unter geschützten Bedingungen habe er zwar eine Ausbildung zum Computertechniker absolviert, zu einer entsprechenden Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über die Probezeit hinaus sei es jedoch nicht gekommen. Er habe ohne wesentliche Sozialkontakte, weitgehend strukturlos und – abgesehen von den Kontakten zu seiner Familie – isoliert in häuslicher Umgebung gelebt. Diese schwere organische Wesensänderung bestehe seit der Tumorerkrankung mit anschließender Herd- und Ganzhirnbestrahlung im Jahr 2005 und sei wesentlich für das quantitativ reduzierte Leistungsvermögen des Klägers verantwortlich. Der Schlaganfall sowie die Entwicklung einer symptomatischen fokalen Epilepsie hätten lediglich zu einer zusätzlichen Verschlechterung geführt, nicht jedoch zu einem aufgehobenen Leistungsvermögen erst ab diesem Zeitpunkt. Diese Einschätzung erscheine auch unter Berücksichtigung des Berichts vom 16.12.2005 über die stationäre Rehabilitationsbehandlung in der Rehabilitationsklinik K1, des Berichts zur Verlaufskontrolle vom 29.09.2009 des Universitätsklinikums E1, des sozialmedizinischen Gutachtens des Gemeindepsychiatrischen Zentrums vom 28.09.2012 zur „Überprüfung der Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II“ sowie auch des Gutachtens von S1 vom 16.06.2014 zur Feststellung des Grades der Behinderung schlüssig und nachvollziehbar. Schließlich habe der Kläger im Rahmen seines Rentenantrages angegeben, dass er selbst davon ausgehe, dass seine Erwerbsminderung bereits seit 2005 bestehe. Auch die Mutter des Klägers habe im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 16.05.2023 geschildert, dass im Gesundheitszustand des Klägers seit 2005 – bis auf den Verlust der Mimik – keine wesentliche Änderung eingetreten sei.

Zudem habe der Kläger nach 2005 zu keinem Zeitpunkt über mehr als drei Monate in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden können. Zwar sei der Klägerseite zuzugestehen, dass das Scheitern des Klägers bei Tätigkeiten als Fachinformatiker noch keine Rückschlüsse auf ein fehlendes Leistungsvermögen zulasse. Gleichwohl ließen sich solche Rückschlüsse auch nicht aus der Tatsache gewinnen, dass der Kläger in Eigenregie Teile einer Zusatzzertifizierung von M1 bestanden habe. Denn die Zertifikate ließen keinen Rückschluss darauf zu, in welchem zeitlichen Umfang und über welchen Zeitraum der Kläger die Abschnittsprüfungen im Jahr 2014 abgelegt habe. Im Gegensatz dazu ließen weder die Befundberichte noch die Schilderungen über den Tagesablauf und häusliche Aktivitäten (überwiegend von der Mutter übernommen) oder das sonstige Freizeit- und Sozialverhalten des Klägers einen Rückschluss darauf zu, dass seit 2005 noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen bestanden habe. Daran vermöge auch die weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit 2020 bzw. infolge eines tonisch-klonischen Anfalls im Februar 2021 nichts zu ändern. Bereits im Rahmen der seitens der Beklagten veranlassten Begutachtung durch H1 am 31.01.2020 sei eine Beurteilung aufgrund des Wesens des Klägers und noch vor 2021 nur äußerst schwierig möglich gewesen. Die vorstehend aufgezeigte jedenfalls ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit eines Leistungsfalls im Jahr 2005, also zu einer Zeit, während welcher der Kläger die maßgeblichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt hatte, gehe nach den gesetzlichen Vorgaben zu seinen Lasten. Könne – wie vorliegend – der Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalles nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Amtsermittlung durch das Gericht nicht objektiv und frei von vernünftigen Zweifeln festgestellt werden, treffe den Versicherten hierfür die objektive Beweislast.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen das ihm am 21.11.2023 zugestellte Urteil am 04.12.2023 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Das SG habe den Anspruch unter Verweis auf einen Leistungsfall im Herbst 2005 im zeitlichen Zusammenhang mit der damaligen stationären Behandlung wegen eines Tumors abgelehnt und hierbei maßgeblich Bezug auf die Ausführungen des Gutachters B2 genommen. Dessen persönlicher Eindruck vom Kläger kranke allerdings ersichtlich daran, dass dieser den Kläger erstmals im November 2021 gesehen habe und damit leider zu einem Zeitpunkt nach dem vom Kläger zuvor im Jahr 2021 erlittenen schweren Schlaganfall. Weder die Ausführungen des Sachverständigen noch des SG berücksichtigten diesen Umstand. Der gravierende Leistungseinbruch beim Kläger habe sich im Rahmen des Schlaganfalls vollzogen. Keinesfalls gehe es jedoch an, dem Kläger die Erwerbsunfähigkeit ab dem Jahr 2005 zuzuschreiben. Dies widerspreche der gesamten Biografie des Klägers. Es werde in diesem Zusammenhang auf das bereits im Widerspruchsverfahren zitierte Gutachten des S1 vom 27.06.2014 verwiesen werden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wäre der Kläger demnach zum damaligen Zeitpunkt wohl nicht ganz zu Unrecht als sogenannter Low-Performer einzuordnen gewesen mit all den typischen sich hieraus auf arbeitsrechtlichem Fachgebiet ergebenden Problemen. Auch ein Arbeitnehmer, der sicher nicht zu den leistungsstärksten Mitarbeitern innerhalb der Belegschaft gezählt werden könne, sei jedoch immer noch in rentenversicherungsrechtlichem Sinne erwerbsfähig und – das müsse sich auch die Beklagte des hiesigen Verfahrens erneut entgegenhalten lassen – auch die Beklagte sei zunächst einmal im Rahmen dieses Verfahrens ja von einem möglicherweise qualitativ begrenzten, aber quantitativ vollschichtigen Restleistungsvermögen ausgegangen. Die Lektüre der angefochtenen Bescheide erschließe dieses zwanglos. Erst als sich dann im Laufe des Verfahrens herausgestellt habe, dass jedenfalls nunmehr im Rahmen des Verfahrens ein vollschichtiges Restleistungsvermögen sich nicht mehr ernsthaft darstellen lasse, habe die Beklagte dann urplötzlich die Karte der fehlenden versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gezogen und naturgemäß den Versicherungsfall so früh veranschlagt, damit es dann damit nicht mehr reiche. Leider sei das SG dieser Argumentation dann gefolgt. Vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gutachters S1 im seinerzeitigen Verfahren gegen das Versorgungsamt und auch dem damals erreichten Grad der Behinderung von lediglich 50 gemäß Bescheid vom 04.11.2014 und auch der daraus folgenden beruflichen Biografie könne aus Sicht der Klägerseite jedenfalls nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass bereits zu einem so frühen Zeitpunkt wie vom SG postuliert volle Erwerbsminderung vorgelegen habe. Dass der Kläger von Anfang an ein Handikap gehabt habe, solle gar nicht hinweg diskutiert werden. Die Frage sei aber, wann die quantitative Minderung und der diesbezügliche volle Einbruch, wie er wohl mittlerweile leider vorliege, stattgefunden hätten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 13.10.2023 sowie den Bescheid vom 13.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren und die Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schreiben vom 21.05.2024 das M1 Zertifikat vom 03.08.2014, den Abschlussbericht des Integrationsfachdienstes vom 27.07.2011, das Kündigungsschreiben der S3 GmbH vom 13.01.2012, das Zeugnis der Firma B3 vom 21.08.2009, das Praktikumszeugnis der S4 vom 11.05.2009, das Zeugnis der H3-Schule H4 vom 04.02.2005 sowie das Praktikumszeugnis der s5 GmbH vom 19.06.2015 eingereicht. Er hat vorgetragen, dass die Auffassung des SG, dass beim Kläger bereits im Herbst 2005 Erwerbsminderung vorgelegen haben müsse, vor dem Hintergrund dieser Unterlagen als fraglich erscheine, nachdem der Kläger nach 2005 eine nicht unerhebliche Anzahl anspruchsvoller Ausbildungen und Betätigungen im IT-Bereich absolviert habe.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 02.07.2024 ausgeführt, dass bereits im Klageverfahren von der Klägerseite vorgebracht worden sei, dass die Erwerbsminderung nicht bereits seit 2004 bzw. 2005 vorgelegen habe. Der Kläger habe noch im März 2014 eine EDV-Ausbildung erfolgreich durchlaufen und sei in diesem Bereich auch kurzzeitig tätig gewesen. Das SG habe in seinem Urteil vom 13.10.2023 hierzu ausgeführt, dass nach den aktenkundigen ärztlichen Unterlagen nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens mehr dafür als dagegen spreche, dass bereits seit der Diagnose und Therapie des bösartigen Tumors im Jahr 2005 eine Erwerbsminderung vorgelegen habe, die der Kläger in das Erwerbsleben eingebracht habe. Verbleibende Zweifel am genauen Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung gingen zu Lasten des Klägers.

Der Senat hat V1 mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens nach § 109 SGG beauftragt. In seinem am 22.11.2024 aufgrund einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 24.09.2024 erstellten Gutachten hat V1 ein organisches Psychosyndrom und einen dringenden Verdacht auf eine zusätzliche schwere chronisch-depressive Störung diagnostiziert. Derzeit bestehe eine vollständig aufgehobene berufliche Leistungsfähigkeit. Der Zeitpunkt der jetzt festgestellten Einschränkung lasse sich nur unsicher datieren. Bis 2015 habe lediglich ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom vorgelegen, welches eine dauerhafte Tätigkeit als Fachinformatiker im ersten Arbeitsmarkt verunmöglicht habe. Das Leistungsvermögen habe aber damals noch ausgereicht, um als Fachinformatiker Schulungen, Praktika und auch Arbeitsversuche zu absolvieren. Eine depressive Störung habe sich dann im Verlauf langsam entwickelt, ohne dass die Mutter des Klägers die Veränderungen zunächst wahrgenommen habe. Spätestens ab 2021 mit dem Auftreten einer zerebralen Durchblutungsstörung könne von einer vollständig aufgehobenen beruflichen Leistungsfähigkeit ausgegangen werden. Der Kläger habe damals seine letzten sozialen Kontakte abgebrochen und auch die zuvor noch gepflegten Hobbys, wie das Reparieren von Computern aufgegeben. Es ergebe sich eine wesentliche Abweichung zur gutachterlichen Beurteilung von B2 vom November 2021, der eine organische kognitive Störung mit mittelschwerer bis schwerer organischer Wesensänderung diagnostiziert habe. Die vom Kläger von 2012 bis 2015 absolvierten Praktika und Arbeitsversuche sprächen gegen ein bereits damals bestehendes mittelschweres oder schweres hirnorganisches Psychosyndrom. Der Kläger sei im Berufsbild eines Fachinformatikers offensichtlich überfordert gewesen. Einfache Tätigkeiten ohne wesentliche Anforderungen an Konzentration, Gedächtnis und Auffassung hätten damals aber wahrscheinlich bewältigt werden können. Die ab 2015 zunehmende Verschlechterung entspreche nicht einem hirnorganischen Psychosyndrom, wie von B2 angenommen, weil dann Veränderungen sowohl im EEG, als auch in der Kernspintomografie des Schädels zu erwarten gewesen wären. Sehr wahrscheinlich habe es sich um eine zusätzliche depressive Störung gehandelt.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 10.02.2025 unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme der S2 vom 29.01.2025 an ihrer bisherigen Bewertung des Sachverhaltes festgehalten. S2 hat darin mitgeteilt, dass die Ausführungen im Gutachten von V1 hinsichtlich des Leistungsfalles nicht überzeugten. In Gesamtschau der vorliegenden Aktenlage sei bereits seit der operativen und strahlentherapeutischen Behandlung des Hirntumors in 2004/2005 eine kognitive Störung des Versicherten mit Wesensveränderungen zu konstatieren gewesen. Dies sei dem Gutachter V1 im Rahmen der Erhebung der Anamnese durch den Versicherten und fremdanamnestisch durch die Mutter auch bestätigt worden. Auch habe die Mutter Hilfe ihrerseits bei Computerproblemen mitgeteilt. Ausdrücklich habe die Mutter auch darauf verwiesen, dass die Ausbildung des Versicherten im geschützten Rahmen erfolgt sei, woraus sich schließen lasse, dass der Versicherte eine Ausbildung auf dem freien Arbeitsmarkt nicht hätte bewältigen können. Überdies seien nach abgeschlossener Berufsausbildung Beschäftigungsverhältnisse des Versicherten über die Probezeit hinaus, das heißt länger als 2,5 Monate, nicht gelungen. Auch hieraus ließen sich Rückschlüsse auf die fehlende anhaltende kognitive Leistungsfähigkeit des Probanden ziehen. Zudem seien Schulungen und Praktika nicht einem regulären Arbeitsverhältnis gleichzusetzen. Sie erfolgten in der Regel nur über einen kurzen überschaubaren Zeitraum und nicht zu den selben Gegebenheiten wie ein reguläres Arbeitsverhältnis. Die Aussage V1s, dass der Proband einfache Tätigkeiten ohne wesentliche Anforderungen an Konzentration, Gedächtnis und Auffassung im Zeitraum 2012-2015 wahrscheinlich hätte bewältigen können, sei spekulativ. Ferner seien bei einem hirnorganischen Psychosyndrom entgegen der Anmerkung von V1 nicht regelhaft Veränderungen im Stromkurvenverlauf der Hirnnerven oder mittels Bildgebung zu detektieren. Aus sozialmedizinischer Sicht sei weiterhin davon auszugehen, dass die festgestellte volle Erwerbsminderung bereits in das Erwerbsleben eingebracht worden sei.

Die Beklagte hat auf Anforderung der Berichterstatterin mitgeteilt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls am 01.09.2015, 14.05.2019 sowie am 12.02.2021 jeweils erfüllt seien.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden konnte, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig und im tenorierten Umfang begründet.

Der Bescheid vom 13.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2021 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.09.2021 abgelehnt hat. Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.09.2021 bis zum 31.08.2024 und vom 01.09.2024 bis zum 31.08.2027. Soweit der Kläger nach seinem unbeschränkten Klageantrag die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab Antragstellung am 14.05.2019 und auf Dauer begehrt, bleibt die Berufung dagegen ohne Erfolg.

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG statthaft. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hier der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats am 04.04.2025 (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Auflage 2023, § 54 Rn. 40b i.V.m. Rdnr. 34).

Ob dem Grunde nach Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit besteht, richtet sich nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der Normfassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.04.2007 (BGBl. I S. 554, 555). Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Über den Wortlaut des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI hinaus ist voll erwerbsgemindert, wer zwar noch drei bis unter sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein kann, aber nicht über einen entsprechenden leidensgerechten Arbeitsplatz verfügt (zur sog. Arbeitsmarktrente wegen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts vgl. BSG, Beschluss des Großen Senats vom 10.12.1976 – GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – juris, Rn. 72 f., 79; BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 22). Auf nicht absehbare Zeit besteht eine Einschränkung, wenn sie sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt (zu § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO vgl. BSG, Urteil vom 23.03.1977 – 4 RJ 49/76 – juris, Rn. 16 a.E.).

Der Eintritt der Erwerbsminderung unterliegt dem Vollbeweis. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG, Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – juris, Rn. 26, dazu auch im Folgenden). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Dies bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, a.a.O., m.w.N.). Kann sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Erwerbsminderung eingetreten ist, hat derjenige, der daraus Ansprüche ableitet, das Risiko der Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsache im Sinne einer objektiven Beweislast zu tragen.

Nach diesen Maßstäben steht für den Senat aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der Kläger seit dem 13.02.2021 nicht in der Lage ist, selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wenigstens 3 Stunden täglich zu verrichten. Der Senat entnimmt dies dem im Berufungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten von V1 vom 22.11.2024 und dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten von B2 vom 23.11.2021 sowie aus dem Verwaltungsverfahren dem Reha-Entlassungsbericht vom 16.12.2005, dem Gutachten von L1 und des R1 und dem Gutachten zur Feststellung des GdB von S1, welche der Senat allesamt im Wege des Urkundsbeweises verwertet.

Beim Kläger besteht eine leicht bis derzeit mäßiggradig ausgeprägte kognitive Störung sowie eine schwere organische Wesensänderung mit völlig fehlender Intentionalität, mangelhaftem Antrieb sowie fehlender Möglichkeit zur Tagesstrukturierung. Der Senat entnimmt dies dem insoweit schlüssigen und überzeugenden Gutachten des B2 vom 23.11.2021. B2 führt aus, dass aufgrund des schweren Psychosyndroms mit organischer Wesensänderung ein aufgehobenes Leistungsvermögen für jegliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes besteht. Diese Einschätzung ist nach den von B2 erhobenen Befunden fundiert begründet. Der Kläger zeigte sich bei der Begutachtung situativ partiell orientiert. Blickkontakt kam nur nach Aufforderung für wenige Sekunden zustande. Die Antworten erfolgten mit zeitlicher Latenz in einsilbiger und monotoner Weise. Der Gedankengang war wenig flüssig, mitunter unpräzise mit vereinzeltem Vorbeireden. Die Stimmung zeigte sich gleichmütig, weitgehend euthym. Der Kläger wirkte affektiv nivelliert und nicht auslenkbar oder modulationsfähig. Es bestanden Hinweise auf eine erhebliche Antriebsminderung bis hin zur Antriebslosigkeit mit Störung der Intentionalität, der Planungs-, Konzept- und Perspektivbildung. B2 kommt in Anbetracht der leichten kognitiven Störung in Kombination mit der schweren organischen Wesensänderung überzeugend zum Ergebnis, dass ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht. Diese Einschätzung wird auch von der Beklagten nicht bestritten. Diese hat sich in ihrer Stellungnahme vom 22.11.2021 der Einschätzung von B2 angeschlossen, dass der Kläger voll erwerbsgemindert ist.

Der Senat teilt jedoch die Einschätzung der Beklagten nicht, wonach der Kläger die Erwerbsminderung bereits in das Erwerbsleben eingebracht hat und in der Folge sich die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Ab. 6 SGB VI richten. Der Senat stellt vielmehr fest, dass der Kläger erst seit dem Zeitpunkt des Schlaganfalls mit epileptischem Anfall am 13.02.2021 nicht mehr in der Lage war, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes 6 Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Der Senat stützt seine Überzeugung auf das neurologisch-psychiatrische Gutachten von V1 vom 22.11.2024 sowie die im Verwaltungsverfahren beigezogenen Gutachten von S1 vom 27.06.2014 sowie von L1 und dem R1.

Grundsätzlich ist bezüglich des Maßstabs für das Leistungsvermögen zu berücksichtigen, dass
das Leistungsvermögen in qualitativer Hinsicht lediglich für den allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichen muss (vgl. Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 03.04.2024) Rn. 51). Maßstab sind dabei körperlich leichte, ungelernte Tätigkeiten, die mit einem Mindestmaß an kognitiven Fähigkeiten bei normaler Umstellungsfähigkeit von jedermann ausgeübt werden können. Auf die erworbenen beruflichen Qualifikationen kommt es ebenso wenig an wie auf den Wert der zuletzt ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit bzw. das hierbei erzielte Arbeitsentgelt. Die Tätigkeit eines Fachinformatikers ist somit für die Beurteilung des Leistungsvermögens nicht relevant.

Der Senat entnimmt dem Rehaentlassungsbericht vom 16.12.2005, dass bereits damals eine leichte kognitive Störung vorlag. Der Kläger zeigte bei der neuropsychiatrischen Diagnostik stark unterdurchschnittliche Leistungen im Bereich Gedächtnis und massive Einschränkungen im Bereich Konzentration. Diese Beobachtungen zeigten sich jedoch insbesondere bei Arbeiten am Computer unter Zeitdruck. Eine Aussage zum Leistungsvermögen des Klägers bezüglich leichter Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne erhöhte Anforderungen an die Konzentration und ohne besondere psychische Drucksituation enthält die neuropsychiatrische Diagnostik nicht. Der Kläger selbst hat zum damaligen Zeitpunkt angegeben, dass er in der Lage sei, Tätigkeiten am Computer ohne Zeitdruck mit selbstbestimmten Erholungsmöglichkeiten durchzuführen. Nach dem Rehaentlassungsbericht war er auch grundsätzlich in der Lage, an sämtlichen Aktivitäten in der Rehabilitation ohne Beeinträchtigung teilzunehmen. Der Senat schließt daraus, dass sich die damals schon bestehende leichte kognitive Störung im Wesentlichen bei Tätigkeiten mit erhöhter Anforderung an die Konzentration und die Stresstoleranz auswirke und der Verrichtung einer leichten angepassten Tätigkeit im zeitlichen Umfang von 6 Stunden damals nicht entgegenstand.

Diese Einschätzung wird gestützt durch das Gutachten zur Überprüfung der Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II durch L1 und den R1 am 28.09.2012. Die Begutachtung erfolgte im Anschluss an eine stationäre Behandlung in der Universitätsklinik U1, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie vom 20.08.2012 bis zum 30.08.2012. S6 stellte im Entlassungsbericht vom 30.08.2012 wiederum die Diagnose einer leichten kognitiven Störung und berichtete von deutlich unterdurchschnittlichen Leistungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis. Die im Anschluss durchgeführte Untersuchung des Klägers bei L1 und R1 am 28.09.2012 konnte jedoch eine Erwerbsunfähigkeit des Klägers nicht bestätigen. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs. 1 SGB II lehnt sich an den der vollen Erwerbsminderung im Rentenversicherungsrecht an, auch wenn § 8 Abs. 1 SGB II – anders als § 41 Abs. 3 SGB XII – nicht ausdrücklich Bezug auf § 43 Abs. 2 SGB VI nimmt (Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 8 (Stand: 07.01.2025) Rn. 20). Der Kläger zeigte sich bei der Begutachtung durch L1 und den R1 nur leicht beeinträchtigt in der Partizipation und Aktivität. Die Folgen des Gehirntumors traten vor allem durch eine Konzentrationsschwäche und Verminderung der Exekutivleistung bei Mehrfachbelastung auf. Der Kläger wurde nach den Ergebnissen der Testungen als ausreichend belastbar im Umfang von 6 Stunden eingeschätzt. Bei geeigneter Therapie lasse sich die Leistungsfähigkeit noch steigern. Angesichts der ausgiebigen Testung und Befundung des Klägers bei der Begutachtung ist die Leistungseinschätzung von L1 und R1 für den Senat schlüssig und nachvollziehbar. Ein Ausschluss der Verrichtung von leichten Tätigkeiten kann nach dem am 28.09.2012 festgestellten Leistungsvermögen nicht angenommen werden.

Das zeitliche nachfolgende Gutachten von S1 am 27.06.2014 enthält ebenfalls keine Anhaltpunkte für ein aufgehobenes Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Der Kläger war zur eigenständigen Haushaltsführung in der Lage und gab an, sich in seiner Freizeit mit dem Computer zu befassen. Er verfügte über einen Führerschein und fuhr auch noch ab und zu mit dem Auto seiner Mutter. Als Beschwerden nannte er Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, wenn er etwas schreibe. Ansonsten würde er gerne am PC arbeiten. Weitere Beschwerden wurden verneint. S1 stellt ebenfalls die Diagnose einer leichten kognitiven Störung, welche sich auf Tätigkeiten mit hoher konzentrativer Belastung auswirke. Der Kläger sei jedoch in der Lage, sein Leben selbstständig und eigenverantwortlich zu gestalten. Die Ausführungen im Gutachten von S1 sind zwar zur Beurteilung eines GdB ergangen, jedoch kann den erhobenen Befunden keine Verschlechterung der bisherigen Einschränkungen entnommen werden. Auch der Tagesablauf zeigte sich noch ungestört. Somit waren dem Kläger auch leichte Tätigkeiten ohne erhöhte Anforderungen an die Konzentration und Stressbelastung noch 6 Stunden zumutbar. Dies belegt auch die nur teilweise durchgeführte Begutachtung im Verwaltungsverfahren von H1 am 31.01.2020, wonach zwar starke Merk- und Konzentrationsprobleme angegeben wurden, jedoch der Kläger über einen normalen Tagesablauf mit Surfen am PC und Spaziergängen berichtet hat. Dass der Kläger beruflich nach Abschluss seiner Ausbildung nicht Fuß fassen konnte und die Probebeschäftigungen sämtlich nicht zu einer Festanstellung mündeten, spricht nicht gegen diese Einschätzung, da es sich bei der Tätigkeit als Fachinformatiker nicht um eine leidensgerechte Tätigkeit handelte.

Der Senat vermag daher auch der Einschätzung des Gutachters B2 in seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 19.04.2022 sowie 30.10.2022 nicht zu folgen, wonach die Erwerbsminderung mutmaßlich seit dem Jahr 2012, jedoch mindestens seit dem Jahr 2015 (Stellungnahme vom 19.04.2022) bzw. bereits seit dem Jahr 2004 (Stellungnahme vom 30.10.2022) bestehe. Zu beachten ist, dass B2 die Annahme einer Erwerbsminderung vor allem mit dem schwergradigen Psychosyndrom begründet. Die leichte kognitive Störung war nach ihrem Schweregrad unverändert und bei der Annahme der Erwerbsminderung daher nicht wesentlich. Der von B2 erhobene schwergradige psychiatrische Befund lag bei den vorangegangenen Begutachtungen bei L1 und S1 nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß vor. Daher entspringt die Festsetzung des Leistungsfalls zunächst auf das Jahr 2015, dann auf das Jahr 2004 eher einer retrospektiven Einschätzung, welche sich zudem nicht hinreichend am maßgeblichen Leistungsbild der leichten Tätigkeiten orientiert und auch den Einschätzungen der Gutachter L1 und R1 widerspricht. So stellt der Gutachter B2 auf die nicht gelungene Integration des Klägers ins Berufsleben ab. Er schenkt jedoch dem Umstand, dass die Integration auf einem dem Leistungsvermögen des Klägers nicht entsprechenden Tätigkeitsfeld erfolgen sollte, nicht hinreichend Beachtung. Angesichts der in den Gutachten vom 28.09.2012 und 27.06.2015 erhobenen Befunde ist ein aufgehobenes Leistungsvermögen auch für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht anzunehmen.

Die sachverständigen Zeugenaussagen von D1 vom 24.06.2021 und von A1 vom 15.06.2021 belegen ebenfalls, dass sich der Zustand des Klägers durch den Krampfanfall im Februar 2021 wesentlich verschlechtert hat. Dies entspricht auch den Angaben der anlässlich der Begutachtung des Klägers durch V1 befragten Mutter des Klägers, welche über eine zunehmende Verlangsamung und Initiativlosigkeit des Klägers seit dem Schlaganfall im Februar 2021 berichtet. Der Kläger habe seither auch kein Interesse am Computer mehr und auch die letzten Kontakte zu Freunden verloren. Auch die Fähigkeit zur eigenständigen Haushalts- und Lebensführung ist seither nicht mehr vorhanden. V1 kommt in seinem Gutachten vom 22.11.2024 schlüssig zum Ergebnis, dass die berufliche Leistungsfähigkeit erst seit dem Jahr 2021 vollständig aufgehoben war. Sofern er dies im Unterschied zu B2 einer depressiven Störung zuschreibt, kann dieser Unterschied in der Diagnosestellung letztlich dahingestellt bleiben, da sowohl B2 als auch V1 den Kläger unstreitig seit Februar 2021 als erwerbsgemindert ansehen und lediglich B2 von einem zeitlich früheren Leistungsfall im Jahr 2004 ausgeht. Der Senat stellt somit fest, dass das Leistungsvermögen des Klägers seit dem 13.02.2021 vollständig aufgehoben und er seither voll erwerbsgemindert ist. Die quantitative Leistungsminderung des Klägers besteht auf nicht absehbare Zeit. Dies setzt voraus, dass sich die krankheits- oder behinderungsbedingte Einschränkung des Leistungsvermögens über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten erstreckt, wobei ggf. eine rückschauende Betrachtung für die Zeit seit Beginn der Erwerbsminderung geboten ist (vgl. Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., Stand 03.04.2024, § 43 Rn. 103, 104 m.w.N.; zur entsprechenden Formulierung in der vormaligen Regelung des § 1247 Abs. 2 Satz 1 der bis zum 31.12.1991 geltenden Reichsversicherungsordnung [RVO] vgl. bereits BSG, Urteil vom 23.03.1977 – 4 RJ 49/76 – juris Rn. 15 f. [mehr als 26 Wochen]). Nach den obenstehenden Ausführungen ist die quantitative Leistungsminderung des Klägers seit dem Schlaganfall mit epileptischem Anfall am 13.02.2021 eingetreten, so dass bereits im Zeitpunkt der Untersuchung durch B2 am 23.11.2021 eine mehr als 6 Monate andauernde Leistungsminderung im Sinne einer vollen Erwerbsminderung bestanden hat.

Ausgehend vom Eintritt einer vollen Erwerbsminderung am 13.02.2021 sind auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI erfüllt. Der Senat nimmt hierzu auf den von der Beklagte eingereichten Versicherungsverlauf Bezug, welchen der Senat nach eigener Prüfung als vollständig und richtig erachtet.

Die dem Kläger zustehende Rente ist zu befristen. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB VI werden u.a. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet, wobei eine Befristung für längstens 3 Jahre erfolgt. Unbefristet geleistet werden nach § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI nur solche Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von 9 Jahren auszugehen. Eine Gesamtdauer der Befristung von 9 Jahren liegt bisher nicht vor. Angesichts des in den Befristungsvorschriften zum Ausdruck kommenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses greift die als Regelfall konzipierte Befristung nicht erst bei einer „begründeten Aussicht“ auf Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit ein. Vielmehr liegt Unwahrscheinlichkeit einer Behebung der Erwerbsminderung i.S.d. § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI erst vor, wenn schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine – rentenrechtlich relevante – Besserungsaussicht sprechen, so dass ein Dauerzustand vorliegt. Von solchen Gründen kann jedoch erst dann ausgegangen werden, wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und auch hiernach ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht (vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2006 – B 13 RJ 31/05 R – juris Rn. 20 f.). Nach diesen Maßgaben kann bisher keine Unwahrscheinlichkeit einer Behebbarkeit der Erwerbsminderung des Klägers festgestellt werden. V1 führt in seinem Gutachten vom 22.11.2024 aus, dass die Prognose nicht abschätzbar sei. Da bislang jedoch keine medikamentöse Behandlung der von V1 diagnostizierten depressiven Störung erfolgt, empfiehlt er einen entsprechenden Behandlungsversuch mit einem antriebssteigernden Antidepressivum und hält auch bei Besserung eine Rehabilitation in einer auf hirnorganische Störungen spezialisierten Klinik für sinnvoll. Die Unwahrscheinlichkeit einer Besserung als Voraussetzung einer Dauerrente kann daher bisher nicht festgestellt werden, sodass die Erwerbsminderungsrente des Klägers zu befristen ist.

Befristete Renten beginnen nach § 101 Abs. 1 SGB VI grundsätzlich nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 03.04.2024) Rn. 408). Als Rentenbeginn ist vorliegend der 01.09.2021 festzulegen. Die rentenberechtigende Erwerbsminderung des Klägers ist erst ab dem 13.02.2021 eingetreten, so dass in den anschließenden 6 Kalendermonaten von März bis August 2021 noch keine Rente zu leisten ist.

Die Rente ist befristet bis zum 31.08.2027 zu gewähren. Da zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die maximale Befristung von 3 Jahren nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI bereits abgelaufen ist, kann gemäß § 102 Abs. 2 Satz 3 und 4 SGB VI ein weiterer Zeitraum von längstens 3 Jahren, hier bis zum 31.08.2027, direkt angeschlossen werden (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 07.09.2016 – L 2 R 73/15 – juris, Rn. 25). Die Zeitrente des Klägers ist daher vom 01.09.2024 bis zum 31.08.2027 zu gewähren.

Zusammenfassend hat der Kläger einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.09.2021 bis zum 31.08.2027. Auf die Berufung des Klägers war daher das Urteil des SG vom 13.10.2023 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.07.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2021 zu einer entsprechenden Rentengewährung zu verurteilen. Da der Klage- und Berufungsantrag nicht auf die Gewährung einer Zeitrente beschränkt war und somit nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz als Begehren einer unbefristeten Rente auszulegen ist, war die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung nicht in vollem Umfang erfolgreich war.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.  




 

Rechtskraft
Aus
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