Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 01.06.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine Untätigkeit der Beklagten.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger bezieht von der Beklagten seit dem Jahr 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer.
Mit Bescheid vom 19.09.2022 berechnete die Beklagte die Rente des Klägers wegen voller Erwerbsminderung aufgrund der Änderung der Berechnungsgrundlagen für den Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung ab dem 01.10.2022 neu.
Mit einfacher E-Mail vom 22.09.2022 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.09.2022 ein. Als Anhang war der E-Mail eine pdf-Datei mit einem eingescannten Zettel „Widerspruch gegen Bescheid vom 19.09.2022 – O. I., M.-straße , V. – Vers.-Nr. N01, (000-00)“ beigefügt. Der eingescannte Zettel ist mit einer handschriftlichen „Paraphe/Unterschrift“ gezeichnet.
Mit Schreiben vom 21.10.2022 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass die E-Mail vom 22.09.2022 nicht ausreichend sei um ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Der Kläger habe in dem Bescheid unter „Ihr Recht“ lesen können, dass der Widerspruch schriftlich, zur Niederschrift oder auf elektronischem Weg einzureichen sei. Dabei müssten bestimmte formelle Voraussetzungen erfüllt werden, wozu auch die Unterschrift des Klägers gehöre. Widersprüche könnten zwar per E-Mail erhoben werden, müssten jedoch eine „digitale Unterschrift“, die sogenannte qualifizierte elektronische Signatur, enthalten. Fehle diese „digitale Unterschrift“, sei der Widerspruch nicht wirksam eingelegt. Ein eingescannter Widerspruch mit Unterschrift reiche nicht aus, da die erforderliche „digitale Unterschrift“ mit einer Signaturkarte angebracht werden müsse. Der Kläger wurde aufgefordert, den beigefügten Ausdruck seines per E-Mail eingesandten Widerspruchs zu unterschreiben und bis zum 22.11.2022 zurückzusenden. Hierfür könne er das vorbereitete Antwortschreiben verwenden. Sofern die Unterschrift nicht bis zum genannten Termin nachgereicht werde, liege kein rechtswirksamer Widerspruch vor. Darüber hinaus werde darum gebeten, den Widerspruch zu begründen.
Am 03.11.2022 hat der Kläger zum einen einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Münster (SG) – S 13 R 633/22 ER – beantragt und die Bearbeitung seines Widerspruchs vom 22.09.2022 begehrt. Gegen den seinen Antrag ablehnenden Beschluss vom 03.05.2023 hat der Kläger Beschwerde eingelegt, die der Senat unter dem Aktenzeichen L 3 R 406/23 B ER mit Beschluss vom 09.08.2023 zurückgewiesen hat.
Zeitgleich hat der Kläger am 03.11.2022 Klage beim SG erhoben und angegeben: „Untätigkeit bei der Bearbeitung meines Widerspruchs vom 22.09.2022“.
Die Beklagte hat den Widerspruch des Klägers vom 22.09.2022 mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2023 als unzulässig zurückgewiesen. Der Kläger habe den Ausdruck nicht zurückgeschickt, weshalb kein unterschriebener Widerspruch vorliege. Mit den Formerfordernissen von Widersprüchen per E-Mail habe sich auch das Bundessozialgericht (BSG) bereits auseinandergesetzt. Im Beschluss vom 29.10.2010 (B 11 AL 31/10 BH) werde hierzu ausgeführt, dass nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Widerspruch schriftlich oder zur Niederschrift einzureichen sei. Es fehle an der erforderlichen qualifizierten elektronischen Signatur, die allein die nötige Gewähr für Authentizität und Integrität biete. Die Landessozialgerichte folgten dieser Rechtsprechung, dass eine Widerspruchseinlegung mittels einfacher E-Mail keine Widerspruchseinlegung darstelle. Hiergegen hat der Kläger am 24.03.2023 beim SG Münster Klage erhoben (S 13 R 143/23).
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgetragen, sie habe mit hinreichenden Grund über den Widerspruch nicht vor Ablauf der maßgeblichen Frist entschieden. Denn auf Grund der Vielzahl der bei ihr anhängigen Widersprüche und Klagen des Klägers seien hausintern mehrere Stellen beteiligt, sodass aus verfahrenstechnischen Gründen nicht eher habe entschieden werden können. Durch den Widerspruchsbescheid vom 02.03.2023 sei der Kläger klaglos gestellt.
Nach Anhörung der Beteiligten mit einfach signierten Schreiben vom 17.01.2023, 12.04.2023 und 25.04.2023 hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.06.2023 abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, da sich der Streitgegenstand zwischenzeitlich erledigt habe. Ergehe im laufenden Verfahren nach Ablauf der Frist nach § 88 Abs. 2 SGG ein für den Kläger ungünstiger Widerspruchsbescheid gelte die Klage als erledigt, da der Streitgegenstand der sozialgerichtlichen Untätigkeitsklage allein die Bescheidung schlechthin sei. Gegen den Widerspruchsbescheid vom 02.03.2023 sei bereits am 24.03.2023 eine Klage des Klägers eingegangen, sodass eine Umstellung zur Anfechtungsklage nicht mehr in Betracht komme.
Gegen den ihm am 14.06.2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 27.06.2023 Berufung eingelegt. Er hat diese weder begründet noch einen Antrag gestellt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Inhalt des angefochtenen Urteils.
Mit Postzustellungsurkunde vom 12.02.2025 ist dem Kläger die Terminsmitteilung zum Verhandlungstermin am 12.03.2025 mit dem Hinweis zugestellt worden, dass auch im Falle seines Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann. Mit E-Mail vom 11.03.2025, 16:56 Uhr hat der Kläger mitgeteilt:
„(…) leider kann ich morgen nicht zum Termin erscheinen, weshalb er verschoben werden muss. Heute hat man mir mitgeteilt, dass ich morgen meinen Scheck der Grundsicherung für März 2025 abholen kann. Ich hatte schon drei mal versucht einen Termin zu bekommen, aber keinen bekommen. Es kommt immer wieder zu verspäteten Auszahlungen, weil man darauf besteht, dass nur eine ganz bestimmte Person den Scheck ausstellt und dieser nicht zu den Öffnungszeiten abgeholt werden kann, sondern nur nach Vereinbarung eines Termins. Da ich auf die Grundsicherung dringend angewiesen bin, muss ich morgen den Scheck abholen, weil ich sonst nur weitere Tage ohne Grundsicherung wäre, was deshalb kritisch ist, weil man seit zweieinhalb Jahren wesentliche Teile meiner Grundsicherung zurück hält und ich gezwungen war alles ersparte auszugeben und so im Monat nur das Geld habe, was für diesen ausgezahlt wird.
Ihre Kollegen sahen es nicht für notwendig an eine flexiblere Regelung oder eine Vertreterregelung bei Krankheit oder Urlaub des Sachbearbeiters einzufordern, wobei entsprechende Verfahren noch laufen.
Weil ich aber unbedingt an der Verhandlung teilnehmen will, ist der Termin zu verschieben. (…)“.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat in Abwesenheit des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden können. Auf diese, sich aus dem Regelungsgehalt der §§ 110 Abs. 1 Satz 2, 111 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1 SGG ergebende Möglichkeit ist der Kläger mit der ordnungsgemäß zugestellten Ladung hingewiesen worden.
Dem vom Kläger am Vorabend des Termins sinngemäß gestellten Verlegungsantrag ist der Senat nicht nachgekommen.
Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 SGG bestimmt der Vorsitzende Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Gemäß § 202 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein Termin aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden, wenn es dafür einen „erheblichen Grund“ gibt. Über die Aufhebung bzw. Verlegung eines Termins entscheidet der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung, über die Vertagung einer Verhandlung entscheidet das Gericht (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 227 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „erheblichen Gründe“ i.S.d. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfolgt vor dem Hintergrund einer Kollision rechtlicher Prinzipien. Das objektive Interesse an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung trifft auf das subjektive Interesse des Rechtssuchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz. Die Auflösung der Prinzipienkollision muss unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher erheblicher Umstände in jedem und für jeden Einzelfall geleistet werden. Das verfassungsrechtliche Erfordernis des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG) verlangt, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern und sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten im Prozess zu behaupten, wobei das rechtliche Gehör auch das Recht eines Beteiligten einschließt, sich durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen. Allerdings ist der Beteiligte gehalten, sich im Rahmen des Zumutbaren das rechtliche Gehör zu verschaffen, sodass letztlich nur eine ihm trotz zumutbaren eigenen Bemühens um die Erlangung rechtlichen Gehörs verweigerte oder abgeschnittene Möglichkeit zur Äußerung eine Gehörsverletzung darstellt. Eine Terminverlegung rechtfertigende „erhebliche Gründe“ i.S.d. § 202 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO sind nur solche Umstände, die auch und gerade zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebotes erfordern (BSG, Beschluss vom 30.09.2015 - B 3 KR 23/15 B -, juris Rn. 6f. m.w.N.). Das ist bei einem Ausleiben der Partei oder der Ankündigung, nicht zu erscheinen, nach § 227 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht der Fall, wenn das Gericht dafürhält, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist.
Der Kläger hat zur Überzeugung des Senats nicht dargetan, dass er ohne Verschulden an der Wahrnehmung des für 2 Stunden angesetzten Termins am 12.03.2025 um 10:15 Uhr gehindert gewesen ist. Denn der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, dass er überhaupt einen Termin beim Träger der Grundsicherungsleistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) hatte oder dieser hinsichtlich der Uhrzeit am 12.03.2025 mit dem Gerichtstermin kollidiert wäre. Er hat auch nicht dargetan, dass und aus welchen Gründen ein öffentlich-rechtlicher Leistungsträger die - vom Kläger im Hinblick auf den Gerichtstermin, für den er bereits eine Freifahrkarte erhalten hat, vorgebrachte - Bitte um Verlegung des kollidierenden Termins (wenn z.B. auch nur auf den Nachmittag) abgelehnt hat. Vielmehr liegt es eher fern, dass ein Leistungsträger den Termin für die Aushändigung eines Schecks an den – nach den aktenkundigen Informationen des Senats – über ein Girokonto verfügenden Kläger kurzfristig telefonisch an einem Nachmittag für den darauffolgenden Tag vereinbart und sich – unterstellt, dies träfe zu – nicht zu einer Verschiebung des Termins im Hinblick auf den einen Monat vorher bekanntgegebenen Termin bei einem Berufungsgericht bereit erklärt. Die Behauptung, bereits zuvor dreimal erfolglos versucht zu haben einen Termin für die Abholung seiner Grundsicherungsleistungen zu vereinbaren, belegt nicht, dass der erwerbslose Kläger nur am 12.03.2025 einen solchen hätte erhalten können.
Der Senat kann in der Sache entscheiden, da die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 SGG aufgrund eines Verfahrensmangels durch das SG wegen nur einfach signierter Anhörung zum Gerichtsbescheid nicht vorliegen. Nach § 159 Abs. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden (Nr. 1) oder das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist (Nr. 2).
Die Voraussetzungen des einzig in Betracht kommenden § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG liegen nicht vor, da schon keine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. So kann die Frage offen bleiben, ob eine nur einfache Signatur statt einer Unterschrift oder qualifizierten Signatur unter der Anhörung zum Gerichtsbescheid einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, der zu einer Unwirksamkeit der nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG erforderlichen Anhörung vor Erlass des Gerichtsbescheides und damit zu einer Verletzung des in § 62 SGG festgeschriebenen Anspruchs auf rechtliches Gehörs der Beteiligten führt (eine Unterschrift für erforderlich haltend z.B. Hessisches LSG, Urteil vom 12.06.2017 – L 9 U 168/16, juris Rn. 26; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 09.11.2010 – L 12 R 793/09, juris Rn. 22 und vom 29.11.2011 – L 14 AS 1663/11, juris Rn. 25 jeweils m.w.N.; a.A. unter Hinweis darauf, dass sich im Gesetzeswortlaut hierfür kein Anhalt findet: B. Schmidt in: Meyer-Ladewig, SGG, 14. Auflage 2023, § 105 Rn. 10 und Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 SGG (Stand: 11.03.2025), Rn. 56).
Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Untätigkeitsklage zu Recht abgewiesen, denn die Untätigkeitsklage ist mit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 02.03.2023 unzulässig geworden. Dies hat das SG in dem angefochtenen Urteil zutreffend begründet dargelegt. Insoweit nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids und auf seine eigenen Ausführungen im Senatsbeschluss vom 09.08.2023 – L 3 R 406/23 B ER – Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.