L 7 AS 216/24

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 25 AS 788/20
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 7 AS 216/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 26. Mai 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen des Bezugs von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) über die Rechtmäßigkeit einer Aufrechnungsverfügung für den Zeitraum ab Mai 2020.

Die 1990 geborene Klägerin stand mit ihrer 2012 geborenen Tochter beim Beklagten im laufenden Bezug von Leistungen.

Auf einen Weiterbewilligungsantrag vom Juni 2019 bewilligte der Beklagte mit Bewilligungsbescheid vom 3. Juli 2019 Leistungen für den Zeitraum August 2019 bis Juli 2020, für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 jeweils in Höhe von EUR 658,26, u.a. unter Berücksichtigung von Wohngeld in Höhe von monatlich EUR 197,00 sowie laufenden Unterhaltszahlungen des Kindesvaters für die Tochter der Klägerin in Höhe von monatlich EUR 304,00. Die Leistungsbewilligung für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 erhöhte sich zunächst mit Änderungsbescheid vom 24. Juli 2019 auf jeweils EUR 659,26 aufgrund einer Anpassung der Wohngeldanrechnung sowie mit weiterem Änderungsbescheid vom 15. Oktober 2019 auf jeweils EUR 666,26 aufgrund der Berücksichtigung erhöhter Abschlagszahlungen für Betriebs- und Heizkosten.

Mit E-Mail vom 14. Oktober 2019 teilte die Stadt I., Fachbereich Kinder, Jugend und Familie, Stelle Amtsvormundschaften, Amtspflegschaften und Beistandschaften (im Folgenden: Stadt I.), mit, dass der unterhaltspflichtige Vater der Tochter der Klägerin Krankengeld beziehe und für Oktober 2019 wegen Unterschreitung des Selbstbehalts keinen Unterhalt zahlen könne.

Mit Änderungsbescheid vom 14. Oktober 2019 bewilligte der Beklagte daraufhin für Oktober 2019 auf EUR 890,86 erhöhte Leistungen ohne Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen.

Einen nachfolgend auf Aufforderung des Beklagten gestellten Antrag der Klägerin auf Bewilligung einer laufenden Leistung nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) lehnte die Stadt Braunschweig mit Bescheid vom 30. Oktober 2019 ab. Der Kindesvater habe mitgeteilt, wieder über ausreichendes Einkommen zu verfügen und zur Unterhaltsleistung bereit zu sein.

Mit weiterer E-Mail vom 18. November 2019 teilte die Stadt Braunschweig mit, dass der Vater der Tochter der Klägerin neben dem laufenden Unterhalt ab Dezember 2019 zudem eine monatliche Tilgungsrate für den rückständigen Unterhalt in Höhe von monatlich EUR 30,00 zahlen werde.

Mit bestandskräftig gewordenem Änderungsbescheid vom 21. November 2019 verringerte der Beklagte daraufhin die Leistungsbewilligung für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 auf jeweils EUR 636,26 unter zusätzlicher Anrechnung der Kindesunterhaltsnachzahlung in Höhe von monatlich EUR 30,00.

Mit weiterem Änderungsbescheid vom 23. November 2019 wurden die Leistungen ab Januar 2020 unter Verweis auf eine Erhöhung des Regelbedarfs auf EUR 651,22 angepasst.

Im Januar 2020 ging beim Beklagten ein befristeter Anstellungsvertrag ein hinsichtlich einer Erwerbstätigkeit der Klägerin als „Modeberater auf Aushilfsbasis“ bei der Firma J. GmbH ab dem 1. Dezember 2019 mit einem monatlichen Nettolohn in Höhe von EUR 448,80, fällig jeweils monatlich am letzten Tag des Monats.

Nach einer mit Schreiben vom 14. Februar 2020 erfolgten Anhörung hob der Beklagte die Leistungsbewilligungsbescheide für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 mit Bescheid vom 13. März 2020 teilweise auf im Umfang von jeweils EUR 309,04, mithin insgesamt im Umfang von EUR 618,08. Im Aufhebungszeitraum sei Einkommen aus der Beschäftigung bei der Firma J. GmbH erzielt worden mit einer Verringerung der Hilfebedürftigkeit und einer Minderung des Anspruchs im berechneten Umfang. Die Bewilligungsentscheidung sei wegen Erzielung von Einkommen aufzuheben gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II iVm § 330 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) iVm § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Auf persönliches Verschulden komme es nicht an. Die überzahlten Leistungen seien gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. Der Erstattungsbetrag werde mit dem Leistungsanspruch ab dem 1. Mai 2020 in Höhe von monatlich 10% der Regelleistung bzw. EUR 43,20 aufgerechnet gemäß § 43 Abs. 1 SGB II. Bei dieser Entscheidung sei Ermessen ausgeübt worden. Es seien weder im Leistungsverfahren entscheidungsrelevante Gründe vorgetragen worden noch ergäben sich nach Aktenlage Anhaltspunkte, die gegen eine Aufrechnung sprechen würden. Das Jobcenter sei verpflichtet, wirtschaftlich zu handeln, wozu insbesondere die Geltendmachung bestehender Forderungen gehöre. Die Höhe der Aufrechnung betrage gemäß § 43 Abs. Abs. 2 SGB II 10 % des für den Leistungsberechtigten maßgebenden Regelbedarfs.

Den hiergegen vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin für diese am 14. April 2020 ohne Begründung eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2020 zurück. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich.

Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2020 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hiergegen für diese beim Sozialgericht (SG) Braunschweig eine dort zum Aktenzeichen S 25 AS 788/20 geführte Klage erhoben und auf mehrfache gerichtliche Erinnerungen mit am 11. Dezember 2020 eingegangenem Schriftsatz vorgetragen, es gehe inhaltlich um die Anrechnung der Kindesunterhaltsnachzahlung in Raten von monatlich EUR 30,00 ab Dezember 2019. Es sei nicht ersichtlich, wie der Beklagte darauf komme.

Auf mehrfache gerichtliche Hinweise und Aufforderungen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 20. April 2022 vorgetragen, die Anrechnung der EUR 30,00 möge nun doch richtig sein. Die gleichzeitig verfügte und sogar trotz Widerspruch vollzogene Aufrechnung sei jedoch nach dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 18. Mai 2021 zum Aktenzeichen L 13 AS 159/20 nicht rechtmäßig.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 21. September 2022 klarstellend erklärt, dass die Aufrechnung der Forderung aus dem Bescheid vom 13. März 2020 entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin bisher nicht vollzogen worden sei.

Eine Reaktion der Klägerin ist hierauf nicht erfolgt.

Mit Urteil vom 26. Mai 2023 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X seien erfüllt, was zwischen den Beteiligten auch nicht mehr im Streit stehe. Der Beklagte sei daher nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II a. F. iVm § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III im Wege einer gebundenen Entscheidung verpflichtet gewesen, den Bewilligungsbescheid für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 teilweise aufzuheben. Die Klägerin habe über die Anrechnung der Unterhaltszahlungen hinaus auch nicht vorgetragen, dass ihr bzw. ihrer Bedarfsgemeinschaft für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 im Übrigen zu wenig Leistungen bewilligt worden seien. Dies sei auch nicht ersichtlich. Die verfügte Erstattungsentscheidung sei gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X ebenfalls rechtmäßig. Gleiches gelte für die Aufrechnungsverfügung gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 SGB II. Die Erklärung der Aufrechnung habe auch im Bescheid über die Aufhebung und Erstattung erfolgen dürfen. Die Kammer folge nicht der Auffassung im Urteil des 13. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18. Mai 2021 zum Aktenzeichen L 13 AS 159/20, wonach eine mit dem Erstattungsbescheid verfügte Aufrechnung rechtswidrig sei, da eine Aufrechnungslage im Zeitpunkt des Erlasses des Aufrechnungsverwaltungsaktes nicht bestanden habe, sondern schließe sich vielmehr ausdrücklich der Auffassung des 9. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen im Urteil vom 3. März 2022 zum Aktenzeichen L 9 AS 625/20 an. Danach könne die von ihrer Durchführung zu unterscheidende bloße Erklärung der Aufrechnung grundsätzlich zusammen mit der Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung erfolgen. Die für die Aufrechnung erforderliche Aufrechnungslage habe bestanden, weil der Hauptforderung der Klägerin auf Grundsicherungsleistungen im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung die wirksamen und fälligen Gegenforderungen aus den festgesetzten Erstattungen gegenübergestanden hätten. Der streitige Bescheid und mit ihm die Erstattungsverfügungen seien mit der Bekanntgabe gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wirksam geworden. Damit seien die Erstattungsforderungen des Beklagten fällig geworden. Im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung hätten die oben genannten Voraussetzungen somit vorgelegen und es sei noch kein Widerspruch eingelegt gewesen. Sobald die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs eintrete, entstehe aber ein Schwebezustand, währenddessen eine Vollziehung der Erstattungsverfügung – etwa durch die Durchführung der zuvor erklärten Aufrechnung – ausgeschlossen sei. Da die Aufrechnung der Forderung bisher nicht vollzogen worden sein, bestünden auch insoweit keine rechtlichen Bedenken. Das Urteil könne nicht mit der Berufung angefochten werden.

Gegen das am 5. Juni 2023 zugestellte Urteil hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 26. Juni 2023 eine beim LSG Niedersachsen Bremen zum Aktenzeichen L 7 AS 324/23 NZB geführte Nichtzulassungsbeschwerde eingereicht und diese mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2023 dahin begründet, dass das Urteil des SG vom Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18. Mai 2021 zum Aktenzeichen L 13 AS 159/20 abweiche. Danach werde eine zusammen mit Erstattungsbescheiden verfügte Aufrechnung für rechtswidrig gehalten.

Nach der mit Beschluss vom 12. April 2024 erfolgten Zulassung der Berufung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im zum Aktenzeichen L 7 AS 216/24 geführten Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 17. Januar 2025 vorgetragen, dass die streitgegenständliche Frage der gleichzeitig mit einer Aufhebung verfügten Aufrechnung nach wie vor beim Bundessozialgericht (BSG) anhängig sei. Hinsichtlich des Klagantrags werde verwiesen „auf Seite 3/6 des Urteils Sozialgerichts Braunschweig“.

Die Klägerin beantragt danach schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 26. Mai 2023 und den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2020 insoweit aufzuheben, als gleichzeitig die monatliche Aufrechnung der zu erstattenden Leistungen in Höhe von 10 % des Regelbedarfs (EUR 43,20) verfügt wurde.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 17. Januar 2025 und vom 12. März 2025 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der Leistungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1.      

Der Senat kann den vorliegenden Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 1 iVm § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihre Zustimmung erteilt haben.

2.      

Die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

a)        

Der angefochtene Bescheid vom 13. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 2020 ist zunächst rechtmäßig, soweit die Leistungsbewilligung für die Monate Dezember 2019 und Januar 2020 im Umfang von jeweils EUR 309,04, mithin insgesamt EUR 618,08, aufgehoben und eine Erstattung verfügt wird. Der Beklagte hat im Ergebnis rechtsfehlerfrei die Bewilligungsentscheidung im entsprechenden Umfang wegen Erzielung von Einkommen gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II iVm § 330 Abs. 3 SGB III iVm § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X aufgehoben und gemäß § 50 Abs. 1 SGB X eine Erstattung verfügt. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung. Hinsichtlich der Aufhebung und Erstattung sind im Berufungsverfahren eine abweichende Entscheidung rechtfertigende Gesichtspunkte weder von der Klägerin geltend gemacht worden noch anderweitig zu Tage getreten.

b)

Auch die von der Klägerin im Berufungsverfahren allein angegriffene Aufrechnungserklärung im angefochtenen Bescheid vom 13. März 2020 ist mit entsprechender Ermessensausübung gemäß § 43 Abs. 1 SGB II im Umfang von 10 % des für die Klägerin maßgebenden Regelbedarfs aufgrund des aus § 50 Abs. 1 SGB X resultierenden Erstattungsanspruchs rechtmäßig.

Die auch für eine Aufrechnung im Rahmen des öffentlichen Rechts erforderliche Aufrechnungslage lag vor, weil den Hauptforderungen der Klägerin auf Grundsicherungsleistungen im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung die wirksame und fällige Gegenforderung aus der festgesetzten Erstattung gegenüberstand. Die Erklärung der Aufrechnung kann nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil des Senats vom 12. März 2024 - L 7 AS 458/22) auch grundsätzlich bereits zusammen in einem Bescheid mit der Erstattungsentscheidung erfolgen (so auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. Juni 2022 – L 9 AS 521/20 B –, Urteil vom 3. März 2022 – L 9 AS 625/20 - und Urteil vom 13. März 2013 – L 13 AS 109/11 –; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 21. Oktober 2024, § 43 Rn 26.3; Kallert in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand: September 2017, § 43 SGB II Rn 28; Loose in: Hohm, SGB II, Stand: Dezember 2019, § 43 Rn 37; Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 50 Rn 32, 34). Soweit demgegenüber teilweise abweichend eine gemeinsame Verfügung der Erstattung und der Aufrechnung in einem Bescheid ohne Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Erstattungsbescheids nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG für unzulässig gehalten wird (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18. Mai 2021 – L 13 AS 159/20 – und Urteil vom 16. März 2021 - L 15 AS 139/20), berücksichtigt diese Bewertung nicht, dass für die Aufrechnungslage nach § 387 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) das Entstehen und die Fälligkeit der Gegenforderung ausreicht, die bei Erstattungsforderungen bereits mit Bekanntgabe und Wirksamkeit des Erstattungsbescheids nach §§ 37, 39 SGB X eintritt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 3. März 2022 – L 9 AS 625/20 -; R. Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., Stand: 14. Januar 2025, § 51 SGB I Rn 47 ff.). Die Argumentation der einer Aufrechnung entgegenstehenden aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Erstattungsbescheid (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18. Mai 2021 – L 13 AS 159/20 – und Urteil vom 16. März 2021 - L 15 AS 139/20) greift entsprechend erst für die Verfahrenskonstellation ab Eingang von Widerspruch bzw. Klage. Erst ab diesem Zeitpunkt werden durch die eintretende aufschiebende Wirkung die bereits mit Wirksamkeit des Verwaltungsakts gemäß § 39 SGB X für den Adressaten zum Tragen kommenden ungünstigen Regelungen, einschließlich der etwaig im Verfügungssatz getroffenen und zunächst zu befolgenden Anordnungen, z.B.  bzgl. der Erstattung erhaltener Leistungen, bis zur Bestandskraft suspendiert (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 3. März 2022 – L 9 AS 625/20 -; vgl. zur Wirkung eines wirksamen Verwaltungsakts: Luik in: Hennig, SGG, 53. Lfg. Juni 2023, § 77 Rn 8; Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand: 15. Juni 2022, § 77 SGG Rn 9 ff.). Erst ab diesem Zeitpunkt kann folglich auch eine Aufrechnung aufgrund der aufschiebenden Wirkung des § 86 a Abs. 1 SGG bis zum Eintritt der Bestandskraft des Erstattungsbescheids zunächst nicht mehr erfolgen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 3. März 2022 – L 9 AS 625/20 – und Urteil vom 17. Dezember 2019 – L 9 AS 238/19 -; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 21. Oktober 2024, § 43 Rn 26; Loose in: Hohm, SGB II, Stand: Dezember 2019, § 43 Rn 37; Kallert in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand: September 2017, § 43 SGB II Rn 28; Keller in: Mayer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023; § 86a Rn 5). Bei Ausdehnung dieser Wirkung auch bereits auf den vorherigen Zeitraum eines noch möglichen, aber gerade noch nicht eingelegten Rechtsbehelfs, würde im Ergebnis die (theoretische) Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs und dessen tatsächliche Einlegung gleichgesetzt und letztere liefe dann ggf. ins Leere (so zutreffend: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 3. März 2022 – L 9 AS 625/20). Für eine solche Ausdehnung ist weder ein dogmatischer Anknüpfungspunkt ersichtlich noch erscheint dies zum Schutz des Aufrechnungsadressaten erforderlich. Auch gegen die als Verwaltungsakt zu erfolgende Aufrechnungserklärung besteht Rechtsschutz durch Widerspruch und Klage mit jeweils aufschiebender Wirkung (vgl. Loose in: Hohm, SGB II, Stand: Dezember 2019, § 43 Rn 78; Hengelhaupt in: HauckNoftz, SGB II, Stand: 3/2003, Erg.-Lfg. 5/20, § 43 Rn 291; Kemper in: Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 43 Rn 49). Bei einem im Fall eines einheitlichen Erstattungs- und Aufrechnungsbescheids auch regelmäßig einheitlichen Widerspruchs- und Klageverfahrens wird die Aufrechnung daher ohnehin erst mit der Bestandskraft auch der festgesetzten Erstattung vollzogen werden können mit dem dann alleinigen verfahrenspraktischen und zeitlichen Unterschied eines nicht erforderlichen nochmaligen (gesonderten) Aufrechnungsbescheids mit ggf. nachfolgenden erneuten Widerspruchs- und Klageverfahren. Entsprechend ist nach dem ausdrücklichen und unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Beklagten auch im vorliegenden Verfahren die Aufrechnung mit der noch nicht bestandskräftigen Forderung noch nicht vollzogen worden.

Ein im Aufrechnungszeitraum in der Gesamtschau mit weiteren Aufrechnungserklärungen die monatliche Aufrechnungsgesamtobergrenze von 30% des für die Klägerin maßgebenden Regelbedarfs überschreitender und gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB II rechtswidriger und anfechtbarer Aufrechnungsbetrag ist weder vorgetragen noch aus den Umständen ersichtlich.

Der Endzeitpunkt der Aufrechnung muss nach der Regelungssystematik des § 43 Abs. 4 SGB II nicht zwingend im Verwaltungsakt angegeben werden und die nach den gesetzlichen Vorschriften gemäß § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II längstmögliche Aufrechnungsdauer von drei Jahren muss nicht ausgeschöpft, sondern lediglich vom Leistungsträger unter Kontrolle gehalten werden (vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2016 – B 14 AS 20/15 R – SozR 4-4200 § 43 Nr. 1).

3.      

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG

4.      

Die Revision wird aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtmäßigkeit eines einheitlichen Erstattungs- und Aufrechnungsbescheids zugelassen (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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