L 7 AS 90/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 1 AS 329/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 90/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 8. November 2005 bezüglich der Zeit ab dem 1. August 2005 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger ein Sechstel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger und den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft für die Zeit nach dem 30.06.2005 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zustehen.

Die Beklagte hatte dem 1955 geborenen Kläger und den weiteren Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft, zu der neben dem Kläger die 1969 geborene Ehefrau und die sechs Kinder gehören, auf den Antrag vom 23.05.2005 für das 1. Halbjahr 2005 mit Bescheid vom 14.06.2005 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.07. bis 31.12.2005 bewilligt. Gegen diesen Bescheid hatte der Kläger am 11.07.2005 Widerspruch eingelegt, mit dem er höhere Leistungen begehrte. Die Beklagte stellte während des Widerspruchsverfahrens fest, dass die Eltern der Ehefrau des Klägers dieser am 29.12.1995 zwei Grundstücke in O. unter Einräumung eines lebenslänglichen Nießbrauchs übertragen hatten. Im Überlassungsvertrag vom 29.10.1995 ist zugunsten der Eltern der Ehefrau ein Rücktrittsrecht geregelt. Danach sind die Eltern berechtigt, von dem schuldrechtlichen Teil des Überlassungsvertrages zurückzutreten und die Rückauflassung des gesamten Vertragsbesitzes zu verlangen, wenn eines oder alle Vertragsgrundstücke zu Lebzeiten der Eltern bzw. des länger lebenden Elternteils ohne schriftliche Zustimmung der Eltern bzw. des Elternteils entgeltlich oder unentgeltlich veräußert oder belastet werden. Zur Sicherung des aufschiebend bedingten Rüccerwerbsanspruchs ist im Grundbuch eine Rückauflassungsvormerkung eingetragen. Im Überlassungsvertrag ist ferner eine Weiterübertragungsverpflichtung geregelt, nach der sich die Ehefrau des Klägers gegenüber ihren Eltern im Wege eines Vertrages zugunsten Dritter verpflichtete, für den Fall, dass sie die Eltern überlebe, die überlassenen Vertragsgrundstücke spätestens im Zeitpunkt ihres Todes an ihre Abkömmlinge zu übertragen. Mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2005 hob die Beklagte daraufhin den Bescheid vom 14.06.2005 auf. Dieser wurde vom Kläger nicht angefochten.

Bereits mit Bescheid vom 04.07.2005 hatte die Beklagte die weitere Leistungsbewilligung aufgrund des Antrags vom 23.05.2005 abgelehnt, weil wegen des verwertbaren Vermögens, der Grund-stücke, keine Hilfebedürftigkeit vorliege. Auch gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 11.07.2005 mit dem Hinweis auf das im Überlassungsvertrag geregelte Rücktrittsrecht und die weitere Übertragungspflicht an die Abkömmlinge Widerspruch eingelegt. Diesen hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.07.2005 zurückgewiesen.

Mit seiner am 19.08.2005 zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, die Grundstücke seien nicht verkäuflich. Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 08.11.2005 verurteilt, dem Kläger, seiner Ehefrau und den Kindern für die Zeit vom 01.07. bis 31.12.2005 Leistungen nach dem SGB II dem Grunde nach zu erbringen, weil die im Eigentum der Ehefrau stehenden Grundstücke nicht verwertbar seien. Der Rückübertragungsanspruch im Fall einer Veräußerung sei auch durch Grundbucheintragung abgesichert. Es sei nicht vorstellbar, dass die Eltern der Ehefrau des Klägers einer Veräußerung zustimmen könnten, weil sie sich damit der Alterssicherung begeben würden. Nach der Ausgestaltung des Überlassungsvertrages habe die Ehefrau des Klägers keine realisierbare Verfügungsmacht über die Häuser. Es liege kein verwertbares Vermögen vor. Damit liege für den streitigen Zeitraum für den Kläger und die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 SGB II vor.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 16.11.2005 zugestellte Urteil am 30.11.2005 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie geltend, es handele sich bei den Grundstücken um verwertbares Vermögen, weil die Ehefrau als Eigentümerin grundsätzlich uneingeschränkt und nach Belieben über diese verfügen könne. Dem stehe auch das Nießbrauchsrecht Dritter nicht entgegen, da dieses kein Recht an der Sache selbst verleihe, sondern sich lediglich auf den Nutzen an den Grundstücken erstrecke. Gleiches gelte auch für das vertraglich vereinbarte Rücktrittsrecht und die Rückauflassungsvormerkung. Die Aufnahme eines rein schuldrecht-lich vereinbarten Darlehens würde die Rechte der Veräußerer gar nicht erst aufleben lassen. Sie habe sich nicht dagegen verschlossen, für die Bedarfsgemeinschaft die gesetzlichen Leis-tungen als Darlehen ohne dingliche Sicherung des Rückzahlungsanspruchs zu erbringen, um ihnen dadurch Gelegenheit zu geben, den momentan notwendigen, laufenden Lebensunterhalt für die Dauer der Bedürftigkeit zu sichern. Dieses Angebot sei jedoch nicht angenommen worden. Von den Antragsstellern könne u.U. erwartet werden, dass sie z. B. ersatzweise auch ihr eigenes Wohnhaus höher belasten, wenn das weitere Grundvermögen für eine Belastung nicht zur Verfügung stehe.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung schlossen die Beteiligten einen Teil-Vergleich, mit dem sich die Beklagte verpflichtete, dem Kläger für den Juli 2005 Leistungen zu erbringen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 8. November 2005 aufzuheben und die Klage bezüglich der Zeit ab dem 1. August 2005 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er vertritt die Ansicht, das Urteil des SG sei nicht zu beanstanden. Es komme auf die konkrete Verwertbarkeit der Grund-stücke an. Die Grundstücke seien im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge zur Vermeidung von Erbschaftsteuernachteilen übertragen worden. Die Objekte seien derzeit aufgrund der schwierigen Immobilienmarktlage nicht veräußerbar und/oder beleihbar. Die Verwertung stelle für die Ehefrau eine besondere Härte dar, weil sie auf das gesetzliche Pflichtteilsrecht verzichtet habe. Er müsse sich nicht auf ein Darlehen verweisen lassen, dass er nicht zurückzahlen könne. Eine höhere Belastung der geschützten Immobilie sei nicht möglich.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten und der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, weil eine Geldleistung von mehr als 500 EUR streitig ist (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Das Rechtsmittel der Beklagten ist sachlich begründet, weil dem Kläger und den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft für den (noch) streitigen Zeitraum kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II als Zuschuss zusteht.

Der Kläger hat zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff. SGB II, weil ein entsprechender Bedarf besteht. Es besteht jedoch nur ein Anspruch auf Gewährung eines Darlehens, da der Kläger nur insoweit hilfebedürftig ist. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus zu berücksichtigendem Vermögen sichern kann. Als Vermögen sind gemäß § 12 Abs. 1 SGB II alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Ist der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich, sind die Leistungen gemäß § 9 Abs. 4 SGB II als Darlehen zu erbringen. Entgegen der Ansicht des SG handelt es sich bei den Grundstücken der Ehefrau des Klägers grundsätzlich um Vermögen, das verwertbar ist. Ein Vermögensgegenstand ist nämlich nach der Rechtsprechung dann verwertbar, wenn der Hilfebedürftige durch dessen Einsatz Geld erhalten kann, mit dem der Bedarf gedeckt und der Bedürftigkeit abgeholfen werden kann (so Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - in BVerwGE 106, 105). Allerdings ist die sofortige Verwertung deshalb ausgeschlossen, weil die Grundstücke nur mit Zustimmung der Eltern der Ehefrau veräußert oder belastet werden können und ein Nießbrauchsrecht für diese eingeräumt ist. Dadurch wird - dies wird von der Beklagten auch nicht bestritten - eine aktuelle Nutzungsmöglichkeit auf ungewisse Dauer ausgeschlossen. Aus diesen Gründen ist eine sofortige Verwertung durch Beleihung gegen ein Darlehen ebenfalls ausgeschlossen.

Aus der mangelnden sofortigen Verwertbarkeit folgt aber - anders als vom Kläger geltend gemacht - nicht die Unverwertbarkeit des Vermögens im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II aus tatsächlichen Gründen. Denn für die Frage der tatsächlichen Verwertbarkeit von Vermögen kommt es grundsätzlich nicht auf die derzeitige Situation an, sondern auf die Frage, ob das Vermögen überhaupt, ggf. auch erst zu einem späteren Zeitpunkt, verwertbar ist.

Dies ergibt sich aus dem Zusammenspiel der §§ 12 Abs. 1 SGB II und § 9 Abs. 4 SGB II. § 9 Abs. 4 SGB II regelt den Fall, dass der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich ist und setzt damit im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II verwertbares Vermögen voraus. Daraus folgt, dass eine Verzögerung bei der Verwertung die tatsächliche Verwertbarkeit im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB II grundsätzlich nicht ausschließt. Dem Wortlaut des § 9 Abs. 4 ("der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung") ist nicht zu entnehmen, dass § 9 Abs. 4 SGB II auf Fälle einer zeitlich absehbaren Unverwertbarkeit, d.h. auf Übergangszeiträume, beschränkt wäre. Das Wort "sofortig" ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass mit der Grundsicherung immer ein aktuell bestehender Bedarf abgedeckt werden soll. Dem Wortlaut des Gesetzes lässt sich daher nur entnehmen, dass bei Vorhandensein verwertbaren Vermögens, das aber nicht sofort zur Deckung des aktuellen Bedarfs eingesetzt werden kann, unmittelbar im Zeitpunkt des Hilfeeintritts Leistungen zu gewähren sind (vgl. zur Vorgängerregelung des § 89 BSHG Fichtner in Fichtner/Wenzel, § 89 BSHG, RdNr 2). Eine zeitliche Beschränkung "nach oben hin", etwa für den Fall, dass eine Verwertung nicht in angemessener Zeit erfolgen kann, ist § 9 Abs. 4 SGB II nicht zu entnehmen (a.A. Brühl in LPK-SGB II, § 9 RdNr 40 ohne Begründung und Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 9 RdNr 45).

Damit ist jedenfalls bei sicherer Verwertungsmöglichkeit zu einem späteren Zeitpunkt die tatsächliche Verwertbarkeit nach § 12 Abs. 1 SGB II zu bejahen (so VGH München v. 27.09.2005). Das ist nach Überzeugung des Gerichts bezüglich der Grundstücke der Fall. Das die Verwertung behindernde Nießbrauchrecht wird mit Sicherheit fortfallen, nur der Zeitpunkt ist ungewiss; dass dieser ggf. nach Ende der konkreten Hilfebedürftigkeit liegt, schadet nicht (vgl. Mecke in: Eicher/Spellbrink, § 9 RdNr 45). Mit dem Wegfall des Nießbrauchsrechts ist von einer Verwertbarkeit des Eigentums der Ehefrau des Klägers auszugehen.

Der Kläger und die Bedarfsgemeinschaft werden durch eine Leistungsgewährung als ggf. längerfristiges Darlehen nicht unzumutbar belastet, da das Darlehen zinslos ist. Erweist sich der Verwertungserlös später geringer als das Darlehen, kann immer noch eine Umwandlung der zunächst als Darlehen gewährten Leistungen in einen Zuschuss erfolgen. Eine andere Auslegung würde den Kläger gegenüber jenen ungerechtfertigt besser stellen, die ihr Vermögen sofort verwerten müssen; das widerspräche zudem der umfassenden Selbsthilfeverpflichtung des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wonach Hilfebedürftige alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen müssen.

Der Verwertbarkeit des Eigentums an den Grundstücken steht auch nicht § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II entgegen, wonach ein selbstgenutztes Hausgrundstück von angemessener Größe zum Schonvermögen zählt. Diese Norm greift hier nicht, weil die Grundstücke nicht vom Kläger und den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft selbst bewohnt werden.

Da es sich bei dem Eigentum an den Grundstücken also um verwertbares Vermögen im Sinne von § 12 SGB II handelt, scheidet ein Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Zuschuss in der Zeit vom 01.07. bis 31.12. 2005 aus. Die Bewilligung von Leistungen als Darlehen statt als Zuschuss konnte nicht zugesprochen werden, weil der Kläger die Bewilligung eines Darlehens ausdrücklich abgelehnt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde zugelassen, weil dem Rechtstreit nach Ansicht des Senats grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Rechtskraft
Aus
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