Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kr 874/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei Kieferanomalien ist hinsichtlich des Abweichens vom Leitbild des gesunden Gebisses (Krankheit) nicht auf das Aussehen, sondern auf die Funktion der Zähne abzustellen. In diesem Sinne liegt eine Krankheit nur dann und insoweit vor, als die eingeschränkte Funktionsfähigkeit des Gebisses durch eine möglichst frühzeitige Behandlung nicht unwesentlich gebessert werden kann.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Juli 1971 wird mit folgender Maßgabe zurückgewiesen:
Der Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Mai 1971 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß der Kläger Anspruch auf Krankenhilfe in gesetzlichem Umfang für die Behandlung der bei seinem Sohn M. S. bestehenden Kieferanomalie hat.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger ist Pflichtmitglied der Beklagten. Im Oktober 1970 beantragte er für seinen am 1963 geborenen Sohn M. einen Kostenzuschuß zu einer kieferorthopädischen Behandlung. Auf Veranlassung der Beklagten stellte der Fachzahnarzt für Kieferorthopädie Dr. K. als Vertrauenszahnarzt folgende Diagnose:
"OK: Kompression, frontaler Engstand, Diastema
UK: Kompression, frontaler Engstand, Lückenengen 543–345, geringe UK-Mittellinienverschiebung nach links, frontoffener Biss
BL: Klasse II”.
Gleichzeitig stellte Dr. K., folgenden Behandlungsplan auf:
"Behandlungsplan: (Versuch der Durchbehandlung ohne Extraktionen, da juveniler Diabeten vorliegt!)
OK: Dehnung, Ausrichtung der Front, Schluß des Diastemas
UK: Dehnung, Ausrichtung der Front, Lückenöffnung 543–345, Korrektur der Mittellinie, Senkung des frontoffenen Bisses
BL: Einstellung in den Neutralbiß”. Die Behandlungsdauer veranschlagte er auf 3 1/2 bis 4 Jahre, die Behandlungskosten insgesamt DM 1.897,–.
Durch Schreiben vom 26. November 1970 (ohne Rechtsmittelbelehrung) erkannte die Beklagte die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung an und erklärte sich bereit, für die Dauer der geplanten Behandlungszeit einen monatlichen Kostenzuschuß in Höhe von 12,50 DM ab November 1970 zu gewähren.
An 3. Februar 1971 beantragte der Kläger die volle Kostenübernahme und stützte sich auf die Bescheinigung der Schul- und Jugendärztin E. B. vom 11. Januar 1971, die besagt, daß eine kieferorthopädische Behandlung dringend notwendig sei. Auf Grund dieses Antrags holte die Beklagte eine gutachtliche Stellungnahme bei dem Leiter des zahnärztlichen Instituts der J.-L.-Universität in G. Prof. Dr. A. K. ein, aus der hervorgeht, daß die Anomalien der Zahnstellung an und für sich kein Symptom im Zusammenhang mit dem Allgemeinleiden seien, sondern ihren eigenen Ursachen- und Entwicklungsmechanismus hätten. Zwischen dem beim Sohn des Klägers vorliegenden juvenilen Diabetes mellitus und dem Erfordernis der kieferorthopädischen Behandlung bestehe kein zwingender Zusammenhang, schon gar kein Ursachenkomplex. Die Bezeichnung "Krankheit” treffe für Zahnstellungsanomalien so wenig zu, wie für das Fehlen von Zähnen. Beide Erscheinungen seinen allenfalls als "lokalisierte Funktionsmängel” verschiedenen Grades behandlungsbedürftig, nicht aber als Krankheiten.
Auf Grund dieses Gutachtens hat die Beklagte durchs Beschluss vom 23. Februar 1971 den Antrag abgelehnt mit der Begründung, bei der kieferorthopädischen Behandlung handele es sich um eine vorbeugende Maßnahme, deren volle Kosten nicht übernommen werden könnten. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 1971 zurückgewiesen mit der Begründung, die Kieferanomalie sei keine Krankheit im Sinne des § 182 Reichsversicherungsordnung – RVO – so daß auch keine Leistungen der Krankenhilfe (volle Kostenübernahme) zu erbringen seien.
Im Klageverfahren legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. vom 10. Mai 1971 vor Hiernach hat diese Klinik wegen mehrerer Kieferanomalien, die beim Sohn des Klägers zu einer behinderten Nasenatmung und bevorzugten Mundatmung führten und gleichzeitig die Kaufähigkeit beeinträchtigten zu kieferorthopädischen Maßnahmen geraten. Diese seien aus prophylaktischen Gründen notwendig, da der Sohn des Klägers sonst vermehrt zu Infektionen der oberen Luftwege und Magen-Darm-Erkrankungen neige, die sich bei seiner Grunderkrankung (Diabetes mellitus) besonders ungünstig auswirken würden.
Der Kläger vertrat die Auffassung, bei der vorliegenden Kieferanomalie handele es sich um eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO, für die die Beklagte die vollen Behandlungskosten zu übernehmen habe.
Durch Urteil vom 20. Juli 1971 hat das Sozialgericht Gießen die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, sie Kosten der kieferorthopädischen Behandlung ab 1. November 1970 zu tragen. Zur Begründung führt das Urteil aus, die Zahnstellungsanomalien seien eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO, zu deren Behandlung der Kläger einen Anspruch im Rahmen der Familienhilfe gem. § 205 RVO habe. Bei den Zahnstellungsanomalien handele es sich um einen regelwidrigen Körperzustand im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Die erforderliche kieferorthopädische Behandlung sei eine Heilbehandlung, da diese zur Verbesserung der Kaufähigkeit und Nasenatmung erforderlich sei. Sie bezwecke nicht allein die Besserung eines regelwidrigen Körperzustandes, sondern gleichzeitig die Verhütung drohender anderer Krankheiten, die infolge des bestehenden Diabetes mellitus besondere Gefahren in sich trügen. Bei so bedeutsamen angeborenen Kiefermißbildungen und den sich daraus ergebenden Gefahren der Erkrankung anderer Organe liege es zudem im wohlverstandenen Interesse der Versichertengemeinschaft, eine Krankheit in Sinne der RVO bereits dann anzunehmen, wenn der gegenwärtige Zustand noch nicht zu schwerwiegenden Folgeschäden geführt habe. Alle diese Voraussetzungen seien beim Sohn des Klägers erfüllt.
Gegen dieses am 2. August 1971 zugestellte Urteil richtet sich die am 26. August 1971 beim Hess. Landessozialgericht eingelegte Berufung der Beklagten, mit der diese an ihrer Auffassung festhält, daß die kieferorthopädischen Maßnahmen nicht die Behandlung einer Krankheit im Rechtssinne seien. Die beim Sohn des Klägers vorhandene Zahnfehlstellung lasse nach dem Vorbringen des Klägers lediglich die Möglichkeit des Eintritts von Folgeschäden zu. Diese bloße Möglichkeit aber könne keine Heilbehandlung im Rechtssinn erforderlich machen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Juli 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20.7.1971 zurückzuweisen und die angefochtenen Bescheide mit der Maßgabe aufzuheben, daß festgestellt wird, daß der Kläger einen Anspruch auf Krankenhilfe in gesetzlichem Umfang für die Behandlung der bei seinem Sohn M. bestehenden Kieferanomalie hat.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Beschluss vom 3. November 1971 gem. § 75 Abs. 2 SGG beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung Hessen verweist auf die Änderung bzw. Ergänzung des Bundesmantelvertrages – Zahnärzte mit Wirkung vom 1. Januar 1972, wonach die in den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen aufgeführten Zahn- und Kieferfehlstellungen als Krankheiten im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO zu betrachten seien. Für sog. Übergangsfälle, in denen die Behandlung vor dem 1. Januar 1972 begonnen habe, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen gewesen sei, bestehe eine Übergangslösung, wonach die neuen vertraglichen Regelungen anzuwenden seien, soweit nicht private Vereinbarungen zwischen Zahnärzten und Versicherten entgegenstünden. Zu diesen Übergangsfällen zähle der vorliegende Streitfall. Dabei sei durch Einholung eines Gutachtens noch die Frage zu klären, ob beim Sohn des Klägers Zahn- und Kieferfehlstellungen vorhanden seien, die durch den von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der RVO-Krankenkassen vereinbarten Krankheitskatalog erfaßt würden.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die an sich statthafte und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
Mit Recht hat das angefochtene Urteil den Anspruch des Klägers auf volle Krankenhilfe für die Behandlung der bei seinem Sohn M. bestehenden Kieferanomalien aus den §§ 205, 182 Abs. 1 RVO bejaht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (Bd. 13, 134, 136; 16, 177, 178; 19, 179, 181; 26, 240, 242) ist unter Krankheit der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, dessen Eintritt entweder allein die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Behandlungsbedürftigkeit liegt vor, wenn sich durch eine der Art des Leidens angepaßte Heilbehandlung eine nicht unwesentliche Besserung der Körperfunktion erzielen läßt, mag auch der körperliche Defekt selbst nicht zu beheben sein. Ferner besteht Behandlungsbedürftigkeit, wenn sich das Leiden ohne ärztliche Hilfe wahrscheinlich verschlimmern würde. Dabei braucht keine unmittelbare Verschlimmerungsgefahr zu bestehen, auch braucht das Leiden den Betroffenen noch keine besonderen Schmerzen oder Beschwerden zu bereiten; es genügt, daß eine möglichst frühzeitige Behandlung den größten Erfolg verspricht (BSG 30, 151).
Die beim Sohn des Klägers bestehende Zahnstellung weicht schon nach den im Verwaltungsverfahren getroffenen medizinischen Feststellungen von der Norm ab. Dieses Abweichen ist eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO. Bei Kieferanomalien ist hinsichtlich des Abweichens vom Leitbild des gesunden Gebisses nicht auf das Aussehen, sondern auf die Funktion der Zähne abzustellen. In diesem Sinne liegt eine Krankheit nur dann und insoweit vor, als die eingeschränkte Funktionsfähigkeit des Gebisses durch eine möglichst frühzeitige Behandlung nicht unwesentlich gebessert werden kann. Diese Voraussetzungen sind beim Sohn des Klägers erfüllt.
Die Diagnose ergibt sich eindeutig aus den vom Vertrauenszahnarzt der Beklagten Dr. K. erhobenen Befunden. Diese lassen eine Abweichung der Kieferverhältnisse deutlich erkennen. Die Abweichung bezieht sich nicht nur auf das Aussehen des Gebisses (ästhetische bzw. kosmetische Gesichtspunkte), sondern bedingt eine Funktionseinschränkung des Gebisses und kann dadurch weitere Gesundheitsschäden herbeiführen. Dies ergibt sich aus der Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik in G. vom 10. Mai 1971, wonach infolge der Kieferanomalie die Kaufähigkeit beeinträchtigt ist. Eine verminderte Kaufähigkeit kann, wie aus dieser Bescheinigung deutlich hervorgeht, verstärkt zu Magen-Darm-Erkrankungen beitragen. Weiterhin führt die Kieferanomalie zu einer behinderten Nasenatmung und bevorzugten Mundatmung. Auch insoweit besteht ein regelwidriger Körperzustand, der unmittelbar durch die Zahnverhältnisse bedingt ist. Diese Krankheitsfolgen und Begleiterscheinungen gehen weit über die Zahnfehlstellungen hinaus, die lediglich um des besseren Aussehens des Gebisses willen korrigiert werden. In solchen Fällen bestehen nämlich über das Aussehen hinaus keine unmittelbaren Gefährdungen für die Gesundheit.
Das für die Beklagte erstattete Gutachten von Prof. Dr. Dr. A. K. vom 8. Februar 1971 vermag gegenüber der ärztlichen Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik nicht zu überzeugen. Es geht nur allgemein davon aus, daß Zahnstellungsanomalien ebenso wie das Fehlen von Zähnen keine Krankheit seien. Dies mag in der überwiegenden Zahl aller Fälle zutreffen, doch hätte gerade im vorliegenden Falle hinreichende Veranlassung bestanden, die Auswirkungen der Zahnfehlstellungen auf die Funktionsfähigkeit des Gebisses und der sich daraus ergehenden gesundheitlichen Folgen auch unter Berücksichtigung des bestehenden Diabetes mellitus zu prüfen und gutachtlich zu behandeln. Hingegen wird gerade der wesentliche Punkt der Funktionsfähigkeit des Gebisses von Prof. Dr. Dr. K. nicht gewürdigt. Andererseits bringt sein Gutachten auch nicht klar zum Ausdruck, warum ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Zahnstellungsanomalien und eingeschränkter Funktionsfähigkeit des Gebisses schlechthin nicht bestehen kann. Diese Frage behandelt dagegen gerade die amtliche Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. vom 10. Mai 1971, weshalb ihr der erkennende Senat die größere Überzeugungskraft beimißt.
Die beim Sohn des Klägers durchgeführte Behandlung der Kieferanomalie ist ersichtlich geeignet, die Funktionsfähigkeit des Gebisses zu verbessern. Auch dies ist aus der Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. vom 10. Mai 1971 zu entnehmen. Aus der Bescheinigung ergibt sich weiter, daß die möglichst frühzeitige durchgeführte Behandlung den größten Erfolg verspricht; denn es sind keine Umstände dafür erkennbar, das eine kieferorthopädische Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt entweder überflüssig würde oder mit einem nicht unerheblich geringeren Kostenaufwand verbunden wäre. Im Hinblick auf den Inhalt der Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. kann nicht von einer bloßen Möglichkeit des Eintritts von Folgeschäden (Erkrankungen) gesprochen werden; vielmehr besteht zumindest für eine längere Dauer eine eingeschränkte Kaufähigkeit mit den in dieser Bescheinigung aufgeführten sicheren Folgen für die Gesundheit.
Das von der Beigeladenen angeregte Gutachten brauchte nicht eingeholt zu werden, weil es für den Leistungsanspruch nach § 182 Abs. 1 RVO nicht darauf ankommt, ob eine Erkrankung in einem von den Verbänden der RVO-Kassen und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung aufgestellten Katalog enthalten ist. Liegt eine Erkrankung im Sinne des Gesetzes und der dazu ergangenen ständigen Rechtsprechung des BSG vor, so besteht kraft Gesetzes ein Anspruch auf Heilbehandlung. Dieser Anspruch kann nicht durch Richtlinien oder Vereinbarungen inhaltlich geschmälert werden. Es wäre dann höchstens eine Aufgabe der Kassen und der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, den Katalog der Erkrankungen ständig zu überprüfen und ggf. zu erweitern.
Der Beklagten ist allerdings darin zu folgen, daß die vom Kläger begehrte kieferorthopädische Behandlung für seinen Sohn nur als Sachleistung durch Kassenzahnärzte bewirkt werden kann. Dies berührt jedoch nicht die Richtigkeit des angefochtenen Urteils; denn das Begehren des Klägers ging ersichtlich auf Gewährung von Heilbehandlung, die im vorliegenden Falle nur als Sachleistung möglich ist. Sie fällt nach den §§ 368 ff. RVO in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen. Dennoch ist die AOK Wetzlar die richtige Beklagte, weil sie die angefochtenen Bescheide erlassen hat. Im Streit stehen somit die angefochtenen Bescheide und der Anspruch auf Heilbehandlung als Sachleistung. Dieser Anspruch ist Grundlage von wechselseitigen Rechten und Pflichten. Der Kläger hat den Behandlungsausweis (Krankenschein) vorzulegen und kann für seinen Sohn lediglich die von einem Kassenzahnarzt im Rahmen der Wirtschaftlichkeit (§ 368 e RVO) zu bewirkenden Leistungen erhalten. Die Beklagte hat das hierfür entstehende Honorar aufzubringen und die Beigeladene ist verpflichtet, insoweit die kassenzahnärztliche Versorgung sicherzustellen und den Kassenzahnarzt zu honorieren. Der Umfang dieser Rechte und Pflichten kann in derzeitigen Stand des Verfahrens noch nicht festgestellt werden, so daß der Klageanspruch als Rechtsverhältnis (Grundlage von Rechten und Pflichten) der Beklagten wie auch der Beigeladenen gegenüber festzustellen ist (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Dem entspricht im Ergebnis auch das angefochtene Urteil.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Mai 1971 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß der Kläger Anspruch auf Krankenhilfe in gesetzlichem Umfang für die Behandlung der bei seinem Sohn M. S. bestehenden Kieferanomalie hat.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger ist Pflichtmitglied der Beklagten. Im Oktober 1970 beantragte er für seinen am 1963 geborenen Sohn M. einen Kostenzuschuß zu einer kieferorthopädischen Behandlung. Auf Veranlassung der Beklagten stellte der Fachzahnarzt für Kieferorthopädie Dr. K. als Vertrauenszahnarzt folgende Diagnose:
"OK: Kompression, frontaler Engstand, Diastema
UK: Kompression, frontaler Engstand, Lückenengen 543–345, geringe UK-Mittellinienverschiebung nach links, frontoffener Biss
BL: Klasse II”.
Gleichzeitig stellte Dr. K., folgenden Behandlungsplan auf:
"Behandlungsplan: (Versuch der Durchbehandlung ohne Extraktionen, da juveniler Diabeten vorliegt!)
OK: Dehnung, Ausrichtung der Front, Schluß des Diastemas
UK: Dehnung, Ausrichtung der Front, Lückenöffnung 543–345, Korrektur der Mittellinie, Senkung des frontoffenen Bisses
BL: Einstellung in den Neutralbiß”. Die Behandlungsdauer veranschlagte er auf 3 1/2 bis 4 Jahre, die Behandlungskosten insgesamt DM 1.897,–.
Durch Schreiben vom 26. November 1970 (ohne Rechtsmittelbelehrung) erkannte die Beklagte die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung an und erklärte sich bereit, für die Dauer der geplanten Behandlungszeit einen monatlichen Kostenzuschuß in Höhe von 12,50 DM ab November 1970 zu gewähren.
An 3. Februar 1971 beantragte der Kläger die volle Kostenübernahme und stützte sich auf die Bescheinigung der Schul- und Jugendärztin E. B. vom 11. Januar 1971, die besagt, daß eine kieferorthopädische Behandlung dringend notwendig sei. Auf Grund dieses Antrags holte die Beklagte eine gutachtliche Stellungnahme bei dem Leiter des zahnärztlichen Instituts der J.-L.-Universität in G. Prof. Dr. A. K. ein, aus der hervorgeht, daß die Anomalien der Zahnstellung an und für sich kein Symptom im Zusammenhang mit dem Allgemeinleiden seien, sondern ihren eigenen Ursachen- und Entwicklungsmechanismus hätten. Zwischen dem beim Sohn des Klägers vorliegenden juvenilen Diabetes mellitus und dem Erfordernis der kieferorthopädischen Behandlung bestehe kein zwingender Zusammenhang, schon gar kein Ursachenkomplex. Die Bezeichnung "Krankheit” treffe für Zahnstellungsanomalien so wenig zu, wie für das Fehlen von Zähnen. Beide Erscheinungen seinen allenfalls als "lokalisierte Funktionsmängel” verschiedenen Grades behandlungsbedürftig, nicht aber als Krankheiten.
Auf Grund dieses Gutachtens hat die Beklagte durchs Beschluss vom 23. Februar 1971 den Antrag abgelehnt mit der Begründung, bei der kieferorthopädischen Behandlung handele es sich um eine vorbeugende Maßnahme, deren volle Kosten nicht übernommen werden könnten. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 1971 zurückgewiesen mit der Begründung, die Kieferanomalie sei keine Krankheit im Sinne des § 182 Reichsversicherungsordnung – RVO – so daß auch keine Leistungen der Krankenhilfe (volle Kostenübernahme) zu erbringen seien.
Im Klageverfahren legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. vom 10. Mai 1971 vor Hiernach hat diese Klinik wegen mehrerer Kieferanomalien, die beim Sohn des Klägers zu einer behinderten Nasenatmung und bevorzugten Mundatmung führten und gleichzeitig die Kaufähigkeit beeinträchtigten zu kieferorthopädischen Maßnahmen geraten. Diese seien aus prophylaktischen Gründen notwendig, da der Sohn des Klägers sonst vermehrt zu Infektionen der oberen Luftwege und Magen-Darm-Erkrankungen neige, die sich bei seiner Grunderkrankung (Diabetes mellitus) besonders ungünstig auswirken würden.
Der Kläger vertrat die Auffassung, bei der vorliegenden Kieferanomalie handele es sich um eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO, für die die Beklagte die vollen Behandlungskosten zu übernehmen habe.
Durch Urteil vom 20. Juli 1971 hat das Sozialgericht Gießen die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, sie Kosten der kieferorthopädischen Behandlung ab 1. November 1970 zu tragen. Zur Begründung führt das Urteil aus, die Zahnstellungsanomalien seien eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO, zu deren Behandlung der Kläger einen Anspruch im Rahmen der Familienhilfe gem. § 205 RVO habe. Bei den Zahnstellungsanomalien handele es sich um einen regelwidrigen Körperzustand im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Die erforderliche kieferorthopädische Behandlung sei eine Heilbehandlung, da diese zur Verbesserung der Kaufähigkeit und Nasenatmung erforderlich sei. Sie bezwecke nicht allein die Besserung eines regelwidrigen Körperzustandes, sondern gleichzeitig die Verhütung drohender anderer Krankheiten, die infolge des bestehenden Diabetes mellitus besondere Gefahren in sich trügen. Bei so bedeutsamen angeborenen Kiefermißbildungen und den sich daraus ergebenden Gefahren der Erkrankung anderer Organe liege es zudem im wohlverstandenen Interesse der Versichertengemeinschaft, eine Krankheit in Sinne der RVO bereits dann anzunehmen, wenn der gegenwärtige Zustand noch nicht zu schwerwiegenden Folgeschäden geführt habe. Alle diese Voraussetzungen seien beim Sohn des Klägers erfüllt.
Gegen dieses am 2. August 1971 zugestellte Urteil richtet sich die am 26. August 1971 beim Hess. Landessozialgericht eingelegte Berufung der Beklagten, mit der diese an ihrer Auffassung festhält, daß die kieferorthopädischen Maßnahmen nicht die Behandlung einer Krankheit im Rechtssinne seien. Die beim Sohn des Klägers vorhandene Zahnfehlstellung lasse nach dem Vorbringen des Klägers lediglich die Möglichkeit des Eintritts von Folgeschäden zu. Diese bloße Möglichkeit aber könne keine Heilbehandlung im Rechtssinn erforderlich machen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Juli 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20.7.1971 zurückzuweisen und die angefochtenen Bescheide mit der Maßgabe aufzuheben, daß festgestellt wird, daß der Kläger einen Anspruch auf Krankenhilfe in gesetzlichem Umfang für die Behandlung der bei seinem Sohn M. bestehenden Kieferanomalie hat.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Beschluss vom 3. November 1971 gem. § 75 Abs. 2 SGG beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung Hessen verweist auf die Änderung bzw. Ergänzung des Bundesmantelvertrages – Zahnärzte mit Wirkung vom 1. Januar 1972, wonach die in den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen aufgeführten Zahn- und Kieferfehlstellungen als Krankheiten im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO zu betrachten seien. Für sog. Übergangsfälle, in denen die Behandlung vor dem 1. Januar 1972 begonnen habe, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen gewesen sei, bestehe eine Übergangslösung, wonach die neuen vertraglichen Regelungen anzuwenden seien, soweit nicht private Vereinbarungen zwischen Zahnärzten und Versicherten entgegenstünden. Zu diesen Übergangsfällen zähle der vorliegende Streitfall. Dabei sei durch Einholung eines Gutachtens noch die Frage zu klären, ob beim Sohn des Klägers Zahn- und Kieferfehlstellungen vorhanden seien, die durch den von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der RVO-Krankenkassen vereinbarten Krankheitskatalog erfaßt würden.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die an sich statthafte und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
Mit Recht hat das angefochtene Urteil den Anspruch des Klägers auf volle Krankenhilfe für die Behandlung der bei seinem Sohn M. bestehenden Kieferanomalien aus den §§ 205, 182 Abs. 1 RVO bejaht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (Bd. 13, 134, 136; 16, 177, 178; 19, 179, 181; 26, 240, 242) ist unter Krankheit der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, dessen Eintritt entweder allein die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Behandlungsbedürftigkeit liegt vor, wenn sich durch eine der Art des Leidens angepaßte Heilbehandlung eine nicht unwesentliche Besserung der Körperfunktion erzielen läßt, mag auch der körperliche Defekt selbst nicht zu beheben sein. Ferner besteht Behandlungsbedürftigkeit, wenn sich das Leiden ohne ärztliche Hilfe wahrscheinlich verschlimmern würde. Dabei braucht keine unmittelbare Verschlimmerungsgefahr zu bestehen, auch braucht das Leiden den Betroffenen noch keine besonderen Schmerzen oder Beschwerden zu bereiten; es genügt, daß eine möglichst frühzeitige Behandlung den größten Erfolg verspricht (BSG 30, 151).
Die beim Sohn des Klägers bestehende Zahnstellung weicht schon nach den im Verwaltungsverfahren getroffenen medizinischen Feststellungen von der Norm ab. Dieses Abweichen ist eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO. Bei Kieferanomalien ist hinsichtlich des Abweichens vom Leitbild des gesunden Gebisses nicht auf das Aussehen, sondern auf die Funktion der Zähne abzustellen. In diesem Sinne liegt eine Krankheit nur dann und insoweit vor, als die eingeschränkte Funktionsfähigkeit des Gebisses durch eine möglichst frühzeitige Behandlung nicht unwesentlich gebessert werden kann. Diese Voraussetzungen sind beim Sohn des Klägers erfüllt.
Die Diagnose ergibt sich eindeutig aus den vom Vertrauenszahnarzt der Beklagten Dr. K. erhobenen Befunden. Diese lassen eine Abweichung der Kieferverhältnisse deutlich erkennen. Die Abweichung bezieht sich nicht nur auf das Aussehen des Gebisses (ästhetische bzw. kosmetische Gesichtspunkte), sondern bedingt eine Funktionseinschränkung des Gebisses und kann dadurch weitere Gesundheitsschäden herbeiführen. Dies ergibt sich aus der Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik in G. vom 10. Mai 1971, wonach infolge der Kieferanomalie die Kaufähigkeit beeinträchtigt ist. Eine verminderte Kaufähigkeit kann, wie aus dieser Bescheinigung deutlich hervorgeht, verstärkt zu Magen-Darm-Erkrankungen beitragen. Weiterhin führt die Kieferanomalie zu einer behinderten Nasenatmung und bevorzugten Mundatmung. Auch insoweit besteht ein regelwidriger Körperzustand, der unmittelbar durch die Zahnverhältnisse bedingt ist. Diese Krankheitsfolgen und Begleiterscheinungen gehen weit über die Zahnfehlstellungen hinaus, die lediglich um des besseren Aussehens des Gebisses willen korrigiert werden. In solchen Fällen bestehen nämlich über das Aussehen hinaus keine unmittelbaren Gefährdungen für die Gesundheit.
Das für die Beklagte erstattete Gutachten von Prof. Dr. Dr. A. K. vom 8. Februar 1971 vermag gegenüber der ärztlichen Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik nicht zu überzeugen. Es geht nur allgemein davon aus, daß Zahnstellungsanomalien ebenso wie das Fehlen von Zähnen keine Krankheit seien. Dies mag in der überwiegenden Zahl aller Fälle zutreffen, doch hätte gerade im vorliegenden Falle hinreichende Veranlassung bestanden, die Auswirkungen der Zahnfehlstellungen auf die Funktionsfähigkeit des Gebisses und der sich daraus ergehenden gesundheitlichen Folgen auch unter Berücksichtigung des bestehenden Diabetes mellitus zu prüfen und gutachtlich zu behandeln. Hingegen wird gerade der wesentliche Punkt der Funktionsfähigkeit des Gebisses von Prof. Dr. Dr. K. nicht gewürdigt. Andererseits bringt sein Gutachten auch nicht klar zum Ausdruck, warum ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Zahnstellungsanomalien und eingeschränkter Funktionsfähigkeit des Gebisses schlechthin nicht bestehen kann. Diese Frage behandelt dagegen gerade die amtliche Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. vom 10. Mai 1971, weshalb ihr der erkennende Senat die größere Überzeugungskraft beimißt.
Die beim Sohn des Klägers durchgeführte Behandlung der Kieferanomalie ist ersichtlich geeignet, die Funktionsfähigkeit des Gebisses zu verbessern. Auch dies ist aus der Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. vom 10. Mai 1971 zu entnehmen. Aus der Bescheinigung ergibt sich weiter, daß die möglichst frühzeitige durchgeführte Behandlung den größten Erfolg verspricht; denn es sind keine Umstände dafür erkennbar, das eine kieferorthopädische Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt entweder überflüssig würde oder mit einem nicht unerheblich geringeren Kostenaufwand verbunden wäre. Im Hinblick auf den Inhalt der Bescheinigung der Universitäts-Kinderklinik G. kann nicht von einer bloßen Möglichkeit des Eintritts von Folgeschäden (Erkrankungen) gesprochen werden; vielmehr besteht zumindest für eine längere Dauer eine eingeschränkte Kaufähigkeit mit den in dieser Bescheinigung aufgeführten sicheren Folgen für die Gesundheit.
Das von der Beigeladenen angeregte Gutachten brauchte nicht eingeholt zu werden, weil es für den Leistungsanspruch nach § 182 Abs. 1 RVO nicht darauf ankommt, ob eine Erkrankung in einem von den Verbänden der RVO-Kassen und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung aufgestellten Katalog enthalten ist. Liegt eine Erkrankung im Sinne des Gesetzes und der dazu ergangenen ständigen Rechtsprechung des BSG vor, so besteht kraft Gesetzes ein Anspruch auf Heilbehandlung. Dieser Anspruch kann nicht durch Richtlinien oder Vereinbarungen inhaltlich geschmälert werden. Es wäre dann höchstens eine Aufgabe der Kassen und der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, den Katalog der Erkrankungen ständig zu überprüfen und ggf. zu erweitern.
Der Beklagten ist allerdings darin zu folgen, daß die vom Kläger begehrte kieferorthopädische Behandlung für seinen Sohn nur als Sachleistung durch Kassenzahnärzte bewirkt werden kann. Dies berührt jedoch nicht die Richtigkeit des angefochtenen Urteils; denn das Begehren des Klägers ging ersichtlich auf Gewährung von Heilbehandlung, die im vorliegenden Falle nur als Sachleistung möglich ist. Sie fällt nach den §§ 368 ff. RVO in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen. Dennoch ist die AOK Wetzlar die richtige Beklagte, weil sie die angefochtenen Bescheide erlassen hat. Im Streit stehen somit die angefochtenen Bescheide und der Anspruch auf Heilbehandlung als Sachleistung. Dieser Anspruch ist Grundlage von wechselseitigen Rechten und Pflichten. Der Kläger hat den Behandlungsausweis (Krankenschein) vorzulegen und kann für seinen Sohn lediglich die von einem Kassenzahnarzt im Rahmen der Wirtschaftlichkeit (§ 368 e RVO) zu bewirkenden Leistungen erhalten. Die Beklagte hat das hierfür entstehende Honorar aufzubringen und die Beigeladene ist verpflichtet, insoweit die kassenzahnärztliche Versorgung sicherzustellen und den Kassenzahnarzt zu honorieren. Der Umfang dieser Rechte und Pflichten kann in derzeitigen Stand des Verfahrens noch nicht festgestellt werden, so daß der Klageanspruch als Rechtsverhältnis (Grundlage von Rechten und Pflichten) der Beklagten wie auch der Beigeladenen gegenüber festzustellen ist (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Dem entspricht im Ergebnis auch das angefochtene Urteil.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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