Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 1470/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4848/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 12. August 2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) streitig.
Bei der am 1957 geborenen Klägerin stellte das Landratsamt L. (LRA) mit Abhilfebescheid vom 24.05.2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit 01.12.2004 fest.
Auf den Rücknahmeantrag der Klägerin vom 10.06.2007 nahm das LRA mit Bescheid vom 08.11.2007 den Bescheid vom 24.05.2006 gemäß § 44 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) zurück und stellte einen GdB von 60 seit 01.12.2004 fest. Berücksichtigt wurden:
1.Verdauungsstörungen, Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation, chronische Entzündung des Dickdarms GdB 40 2. Lymphstau beider Beine, Krampfadern GdB 20 3. Depression, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom GdB 20
Nachteilsausgleiche wurden nicht festgestellt. Die Entscheidung des LRA beruhte im wesentlichen auf den von der Deutschen Rentenversicherung Bund eingeholten fachärztlichen Gutachten des Internisten Dr. K. vom 21.06.2006 (Befunde u.a.: Gelenke der unteren Extremitäten frei beweglich, Gangbild flüssig, deutliches teigiges Lymphödem beider Beine) und des Psychiaters A. vom 13.06.2006 (Befunde u.a.: Gangbild eher schonend anmutend, aber flüssig).
Den von der Klägerin am 03.12.2007 gestellten und mit der aus gesundheitlichen Gründen bestehenden Notwendigkeit, rasch eine Toilette aufsuchen zu können, begründeten Antrag auf Feststellung des Nachteilsausgleiches aG lehnte das LRA mit Bescheid vom 27.02.2008 ab.
Mit am 07.01.2009 beim LRA eingegangenem Fax vom 16.09.2008 beantragte die Klägerin erneut die Feststellung des Nachteilsausgleiches aG. Da sie an einer Darmschädigung mit Diarrhoe und Dranginkontinenz leide, sei sie Behinderten mit Morbus Crohn oder solchen, bei denen eine colitis ulcerosa vorliegt, gleichzustellen. Die Klägerin legte den Bericht der F. Klinik St. B. , Fachklinik für Lymphologie und Ödemkrankheiten, über ihre stationäre Behandlung vom 28.10.2007 bis 03.11.2007 vor. Mit Bescheid vom 23.01.2009 lehnte das LRA den Antrag der Klägerin ab. Sie gehöre weder zum Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten noch sei sie diesem gleichzustellen.
Dagegen legte die Klägerin am 19.02.2009 Widerspruch ein und machte geltend, die bei ihr vorliegende Darmschädigung entspreche einem Morbus Crohn oder einer Colitis ulcerosa, für die allein ein GdB von 60 anzusetzen sei. Sie könne in diesem Fall eine Parkerleichterung für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen in Baden-Württemberg erhalten. Mit Widerspruchsbescheid vom 31.03.2009 wies das Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Klägerin sei dem Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten nicht gleichzustellen. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG könnten nur bei einer entsprechenden Einschränkung des Gehvermögens angenommen werden.
Am 30.04.2009 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG), mit der sie ihr Ziel weiter verfolgte. Sie machte geltend, da sie aufgrund ihres Darmleidens im sozialen Bereich stark eingeschränkt sei, müsse sie den Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gleichgestellt werden. Soweit im Widerspruchsbescheid ausgeführt sei, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden könne, treffe dies so nicht zu. Auch sie habe Anspruch auf den Nachteilsausgleich aG, weil sie aufgrund ihres Leidens auf kurze Wege angewiesen sei. Dieses sei für sie schlimmer als wenn sie unter Morbus Crohn oder unter einer Colitis ulcerosa leiden würde. Um allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, müsste sie beim Verlassen des Hauses eine Windel tragen. Aber auch dies sei nicht geeignet, ihr Problem zu lösen. Die Klägerin legte die Kurentlassungsberichte der F. Klinik St. B. vom 06.09.2004 und 03.11.2007 und deren Bericht über ihre stationäre Behandlung vom 26.10.2008 bis 01.11.2008 sowie weitere im Wesentlichen Magen- und Darmuntersuchungen betreffende Facharzt-, Klinik- und Röntgenberichte vor.
Der Beklagte trat der Klage entgegen und machte unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 04.09.2009 geltend, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Nachteilsausgleich lägen aufgrund der Darmerkrankung der Klägerin in keiner Weise vor.
Mit Gerichtsbescheid vom 12.08.2010 wies das SG die Klage ab. Es verneinte einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Nachteilsausgleiches aG und begründete dies damit, dass sich den vorliegenden ärztlichen Unterlagen keine funktionelle Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin - auch nicht durch die Lymphstauung im Bereich beider Beine und die Krampfadern - entnehmen lasse. Die Darmerkrankung wirke sich nicht auf die Gehfähigkeit der Klägerin aus. Sie sei in der Lage, sich außerhalb ihres PKW allein und ohne fremde Hilfe sowie ohne große Anstrengung fortzubewegen. Dass sie die Fortbewegung durch einen plötzlich auftretenden Stuhldrang möglicherweise unterbrechen müsse, bedinge keine eine Gleichstellung mit dem begünstigen Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten rechtfertigende funktionelle Beeinträchtigung ihrer Gehfähigkeit.
Dagegen hat die Klägerin am 09.09.2010 Berufung eingelegt, mit der sie weiterhin den Nachteilsausgleich aG geltend macht. Sie verweist auf die im für die Deutsche Rentenversicherung erstatteten Gutachten von Dr. A. beschriebenen Auswirkungen ihrer Inkontinenzerkrankung und bringt vor, das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 08.05.1981, wonach Leiden, die das Gehen selbst nicht einschränken, also z.B. Inkontinenzleiden, nicht für die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ausreichten, sei überholt. Die Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises sei sinnvoll, da Behinderte wie sie darauf angewiesen seien, in der Nähe von Toiletten parken zu können. Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 10.12.2002 (B 9 SB 7/01 R) festgestellt, dass der Nachteilsausgleich aG nicht voraussetze, dass der Schwerbehinderte nahezu unfähig sei, sich fortzubewegen. Im Übrigen seien die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG auch bei Erkrankungen der inneren Organe wie beispielsweise bei Herzschäden und Lungenkrankheiten zu bejahen, so dass die Auffassung des Beklagten, wonach der Nachteilsausgleich aG nur bei einer außergewöhnlichen Gehbehinderung in Frage komme, unzutreffend sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 12. August 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 23. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Nachteilsausgleich aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen. Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und macht geltend, die angeführte Inkontinenzerkrankung könne nicht zur Zuerkennung des Nachteilsausgleiches aG führen. Allein die Notwendigkeit, in der Nähe von Toiletten parken zu können, begründe diesen Nachteilsausgleich nicht. Die genannten Erkrankungen der inneren Organe seien mit einer entsprechenden Beeinträchtigung des Gehvermögens verbunden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die Akten des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft und insgesamt zulässig.
Die Berufung ist aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs aG.
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) iVm §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742), ist auf Antrag des behinderten Menschen der Nachteilsausgleich aG in den Schwerbehindertenausweis einzutragen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Ein solcher Vermerk ist Grundlage für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen, die von den Straßenverkehrsbehörden für bestimmte Ausnahmefälle vorgesehen sind.
Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, ber. S. 5206), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVwV vom 10.04.2006 (BAnz S. 2968). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlichen Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).
Soweit der Beklagte sich auf die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) beruft, ist dies allerdings rechtlich nicht beachtlich. Die Regelungen der VersMedG zum Merkzeichen aG sind mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und unwirksam. Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Der Senat geht insoweit von einer Teilnichtigkeit der VersMedV aus, da der Teil der VG - als Anhang zu § 2 Teil der Verordnung - durch die Unwirksamkeit der genannten Regelungen nicht berührt wird und auch im übrigen die Regelungen der VersMedV nicht betroffen sind (vgl. Urteil des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08; veröffentl. in Juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs sind daher allein die genannten gesetzlichen Regelungen, die StVO und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.
Die Klägerin, die in erster Linie durch ihr Darmleiden beeinträchtigt ist, gehört unstreitig nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Sie ist diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt, da ihre Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VwV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Dies steht aufgrund der aktenkundigen ärztlichen Unterlagen fest.
Das Gehvermögen der Klägerin ist nicht wesentlich eingeschränkt. Dies macht sie auch selbst nicht geltend. Soweit sie vorbringt, sie müsse dem Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gleichgestellt werden, weil sie wegen ihrem Inkontinenzleiden darauf angewiesen sei, in der Nähe von Toiletten parken zu können, vermag dies den Nachteilsausgleich aG nicht zu begründen. Maßgebend sind für diesen Nachteilsausgleich nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst (die auch auf schweren Herz- und Lungenkrankheiten beruhen können) und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen als solches nicht beeinträchtigen. Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist. Für die vorzunehmende Beurteilung sind folglich nur die Funktionsbeeinträchtigungen von Belang, die sich auf das Gehvermögen selbst auswirken. Hierzu gehört das Darmleiden der Klägerin nicht.
Die Rechtsprechung des BSG (grundlegend Urteil vom 08.05.1981 - 9 RVs 5/80 -), wonach der Leidenszustand die Möglichkeit der Fortbewegung auf das Schwerste behindern muss, ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht überholt. Die genannte Rechtsprechung ist in der Folgezeit durch weitere Entscheidungen des BSG bestätigt worden (z. B. Urteile vom 06.11.1985 - 9a RVs 7/83 - und vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - betreffend Anfallsleiden und Störungen der Orientierungsfähigkeit ; zuletzt Urteile vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R - und 05.07.2007 - B 9/9a SB 5/06 R betreffend den Begriff der großen Anstrengung). Auch die Entscheidung des BSG vom 10.12.2002 (B 9 SB 7/01 R), auf die sich die Klägerin stützt, hat nichts daran geändert, dass das Gehvermögen des betreffenden Behinderten auf das Schwerste eingeschränkt sein muss. Damit hat das BSG (lediglich) entschieden, dass der Schwerbehinderte nicht unfähig sein muss, sich fortzubewegen, sondern dass es ausreicht, wenn er sich praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an nur noch mit großer Anstrengung fortbewegen kann und unter welchen Voraussetzungen dies anzunehmen ist. Hiervon kann aber bei der Klägerin nicht die Rede sein.
Dass sich die Klägerin infolge ihres Darmleidens ebenso für beeinträchtigt hält wie dies an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa Erkrankte sind, rechtfertigt den Nachteilsausgleich aG nicht, da diese inneren Leiden - im Unterschied zu Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz und Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades - das Gehvermögen selbst gerade nicht einschränken. Dass eine Stuhlinkontinenz, so beschwerlich sie ist, die Fortbewegungsfähigkeit als solche nicht beeinträchtigt und daher den Nachteilsausgleich aG nicht rechtfertigt, hat im Übrigen auch schon das BSG in seinem Urteil vom 09.03.1988 (9/9a RVs 15/87) entschieden. Der Senat sieht keinen Grund, dieser Rechtsprechung des BSG nicht zu folgen. Daher verneint der Senat in Anwendung der Rechtsgrundsätze die Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" bei Stuhlinkontinenz (vgl. stellvertr. zuletzt Urteil vom 14.08.2009 - L 8 SB 4835/08 - unveröffentl.)
Dass die von der Klägerin erwähnten Erkrankungen - allerdings erst bei einem hier nicht vorliegenden GdB von mindestens 60 - einen Anspruch auf Parkerleichterungen für besondere Gruppen Schwerbehinderter in Baden-Württemberg begründen, lässt die medizinischen Voraussetzungen für den hier allein streitigen Nachteilsausgleich aG unberührt.
Im Übrigen ist das von der Klägerin mit dem geltend gemachten Nachteilsausgleich aG verfolgte Ziel, in der Nähe von Toiletten parken zu können, nicht mit Sinn und Zweck des Nachteilsausgleiches aG vereinbar. Dieser soll allein die neben der Benutzung des Pkw unausweichlich anfallende tatsächliche Wegstrecke (zu Behörden, Krankenhäusern usw) infolge einer erheblichen Gehbeeinträchtigung soweit wie möglich verkürzen (vgl. Urteil des BSG vom 03.02. 1988 - 9/9a RVs 19/86 -).
Die Berufung der Klägerin ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) streitig.
Bei der am 1957 geborenen Klägerin stellte das Landratsamt L. (LRA) mit Abhilfebescheid vom 24.05.2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit 01.12.2004 fest.
Auf den Rücknahmeantrag der Klägerin vom 10.06.2007 nahm das LRA mit Bescheid vom 08.11.2007 den Bescheid vom 24.05.2006 gemäß § 44 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) zurück und stellte einen GdB von 60 seit 01.12.2004 fest. Berücksichtigt wurden:
1.Verdauungsstörungen, Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation, chronische Entzündung des Dickdarms GdB 40 2. Lymphstau beider Beine, Krampfadern GdB 20 3. Depression, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom GdB 20
Nachteilsausgleiche wurden nicht festgestellt. Die Entscheidung des LRA beruhte im wesentlichen auf den von der Deutschen Rentenversicherung Bund eingeholten fachärztlichen Gutachten des Internisten Dr. K. vom 21.06.2006 (Befunde u.a.: Gelenke der unteren Extremitäten frei beweglich, Gangbild flüssig, deutliches teigiges Lymphödem beider Beine) und des Psychiaters A. vom 13.06.2006 (Befunde u.a.: Gangbild eher schonend anmutend, aber flüssig).
Den von der Klägerin am 03.12.2007 gestellten und mit der aus gesundheitlichen Gründen bestehenden Notwendigkeit, rasch eine Toilette aufsuchen zu können, begründeten Antrag auf Feststellung des Nachteilsausgleiches aG lehnte das LRA mit Bescheid vom 27.02.2008 ab.
Mit am 07.01.2009 beim LRA eingegangenem Fax vom 16.09.2008 beantragte die Klägerin erneut die Feststellung des Nachteilsausgleiches aG. Da sie an einer Darmschädigung mit Diarrhoe und Dranginkontinenz leide, sei sie Behinderten mit Morbus Crohn oder solchen, bei denen eine colitis ulcerosa vorliegt, gleichzustellen. Die Klägerin legte den Bericht der F. Klinik St. B. , Fachklinik für Lymphologie und Ödemkrankheiten, über ihre stationäre Behandlung vom 28.10.2007 bis 03.11.2007 vor. Mit Bescheid vom 23.01.2009 lehnte das LRA den Antrag der Klägerin ab. Sie gehöre weder zum Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten noch sei sie diesem gleichzustellen.
Dagegen legte die Klägerin am 19.02.2009 Widerspruch ein und machte geltend, die bei ihr vorliegende Darmschädigung entspreche einem Morbus Crohn oder einer Colitis ulcerosa, für die allein ein GdB von 60 anzusetzen sei. Sie könne in diesem Fall eine Parkerleichterung für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen in Baden-Württemberg erhalten. Mit Widerspruchsbescheid vom 31.03.2009 wies das Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Klägerin sei dem Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten nicht gleichzustellen. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG könnten nur bei einer entsprechenden Einschränkung des Gehvermögens angenommen werden.
Am 30.04.2009 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG), mit der sie ihr Ziel weiter verfolgte. Sie machte geltend, da sie aufgrund ihres Darmleidens im sozialen Bereich stark eingeschränkt sei, müsse sie den Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gleichgestellt werden. Soweit im Widerspruchsbescheid ausgeführt sei, dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden könne, treffe dies so nicht zu. Auch sie habe Anspruch auf den Nachteilsausgleich aG, weil sie aufgrund ihres Leidens auf kurze Wege angewiesen sei. Dieses sei für sie schlimmer als wenn sie unter Morbus Crohn oder unter einer Colitis ulcerosa leiden würde. Um allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, müsste sie beim Verlassen des Hauses eine Windel tragen. Aber auch dies sei nicht geeignet, ihr Problem zu lösen. Die Klägerin legte die Kurentlassungsberichte der F. Klinik St. B. vom 06.09.2004 und 03.11.2007 und deren Bericht über ihre stationäre Behandlung vom 26.10.2008 bis 01.11.2008 sowie weitere im Wesentlichen Magen- und Darmuntersuchungen betreffende Facharzt-, Klinik- und Röntgenberichte vor.
Der Beklagte trat der Klage entgegen und machte unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 04.09.2009 geltend, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Nachteilsausgleich lägen aufgrund der Darmerkrankung der Klägerin in keiner Weise vor.
Mit Gerichtsbescheid vom 12.08.2010 wies das SG die Klage ab. Es verneinte einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Nachteilsausgleiches aG und begründete dies damit, dass sich den vorliegenden ärztlichen Unterlagen keine funktionelle Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin - auch nicht durch die Lymphstauung im Bereich beider Beine und die Krampfadern - entnehmen lasse. Die Darmerkrankung wirke sich nicht auf die Gehfähigkeit der Klägerin aus. Sie sei in der Lage, sich außerhalb ihres PKW allein und ohne fremde Hilfe sowie ohne große Anstrengung fortzubewegen. Dass sie die Fortbewegung durch einen plötzlich auftretenden Stuhldrang möglicherweise unterbrechen müsse, bedinge keine eine Gleichstellung mit dem begünstigen Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten rechtfertigende funktionelle Beeinträchtigung ihrer Gehfähigkeit.
Dagegen hat die Klägerin am 09.09.2010 Berufung eingelegt, mit der sie weiterhin den Nachteilsausgleich aG geltend macht. Sie verweist auf die im für die Deutsche Rentenversicherung erstatteten Gutachten von Dr. A. beschriebenen Auswirkungen ihrer Inkontinenzerkrankung und bringt vor, das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 08.05.1981, wonach Leiden, die das Gehen selbst nicht einschränken, also z.B. Inkontinenzleiden, nicht für die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ausreichten, sei überholt. Die Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises sei sinnvoll, da Behinderte wie sie darauf angewiesen seien, in der Nähe von Toiletten parken zu können. Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 10.12.2002 (B 9 SB 7/01 R) festgestellt, dass der Nachteilsausgleich aG nicht voraussetze, dass der Schwerbehinderte nahezu unfähig sei, sich fortzubewegen. Im Übrigen seien die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches aG auch bei Erkrankungen der inneren Organe wie beispielsweise bei Herzschäden und Lungenkrankheiten zu bejahen, so dass die Auffassung des Beklagten, wonach der Nachteilsausgleich aG nur bei einer außergewöhnlichen Gehbehinderung in Frage komme, unzutreffend sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 12. August 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 23. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Nachteilsausgleich aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen. Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und macht geltend, die angeführte Inkontinenzerkrankung könne nicht zur Zuerkennung des Nachteilsausgleiches aG führen. Allein die Notwendigkeit, in der Nähe von Toiletten parken zu können, begründe diesen Nachteilsausgleich nicht. Die genannten Erkrankungen der inneren Organe seien mit einer entsprechenden Beeinträchtigung des Gehvermögens verbunden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die Akten des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft und insgesamt zulässig.
Die Berufung ist aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs aG.
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) iVm §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742), ist auf Antrag des behinderten Menschen der Nachteilsausgleich aG in den Schwerbehindertenausweis einzutragen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Ein solcher Vermerk ist Grundlage für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen, die von den Straßenverkehrsbehörden für bestimmte Ausnahmefälle vorgesehen sind.
Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, ber. S. 5206), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVwV vom 10.04.2006 (BAnz S. 2968). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlichen Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).
Soweit der Beklagte sich auf die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) beruft, ist dies allerdings rechtlich nicht beachtlich. Die Regelungen der VersMedG zum Merkzeichen aG sind mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und unwirksam. Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Der Senat geht insoweit von einer Teilnichtigkeit der VersMedV aus, da der Teil der VG - als Anhang zu § 2 Teil der Verordnung - durch die Unwirksamkeit der genannten Regelungen nicht berührt wird und auch im übrigen die Regelungen der VersMedV nicht betroffen sind (vgl. Urteil des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08; veröffentl. in Juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs sind daher allein die genannten gesetzlichen Regelungen, die StVO und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.
Die Klägerin, die in erster Linie durch ihr Darmleiden beeinträchtigt ist, gehört unstreitig nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Sie ist diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt, da ihre Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VwV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Dies steht aufgrund der aktenkundigen ärztlichen Unterlagen fest.
Das Gehvermögen der Klägerin ist nicht wesentlich eingeschränkt. Dies macht sie auch selbst nicht geltend. Soweit sie vorbringt, sie müsse dem Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gleichgestellt werden, weil sie wegen ihrem Inkontinenzleiden darauf angewiesen sei, in der Nähe von Toiletten parken zu können, vermag dies den Nachteilsausgleich aG nicht zu begründen. Maßgebend sind für diesen Nachteilsausgleich nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst (die auch auf schweren Herz- und Lungenkrankheiten beruhen können) und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen als solches nicht beeinträchtigen. Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist. Für die vorzunehmende Beurteilung sind folglich nur die Funktionsbeeinträchtigungen von Belang, die sich auf das Gehvermögen selbst auswirken. Hierzu gehört das Darmleiden der Klägerin nicht.
Die Rechtsprechung des BSG (grundlegend Urteil vom 08.05.1981 - 9 RVs 5/80 -), wonach der Leidenszustand die Möglichkeit der Fortbewegung auf das Schwerste behindern muss, ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht überholt. Die genannte Rechtsprechung ist in der Folgezeit durch weitere Entscheidungen des BSG bestätigt worden (z. B. Urteile vom 06.11.1985 - 9a RVs 7/83 - und vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - betreffend Anfallsleiden und Störungen der Orientierungsfähigkeit ; zuletzt Urteile vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R - und 05.07.2007 - B 9/9a SB 5/06 R betreffend den Begriff der großen Anstrengung). Auch die Entscheidung des BSG vom 10.12.2002 (B 9 SB 7/01 R), auf die sich die Klägerin stützt, hat nichts daran geändert, dass das Gehvermögen des betreffenden Behinderten auf das Schwerste eingeschränkt sein muss. Damit hat das BSG (lediglich) entschieden, dass der Schwerbehinderte nicht unfähig sein muss, sich fortzubewegen, sondern dass es ausreicht, wenn er sich praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an nur noch mit großer Anstrengung fortbewegen kann und unter welchen Voraussetzungen dies anzunehmen ist. Hiervon kann aber bei der Klägerin nicht die Rede sein.
Dass sich die Klägerin infolge ihres Darmleidens ebenso für beeinträchtigt hält wie dies an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa Erkrankte sind, rechtfertigt den Nachteilsausgleich aG nicht, da diese inneren Leiden - im Unterschied zu Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz und Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades - das Gehvermögen selbst gerade nicht einschränken. Dass eine Stuhlinkontinenz, so beschwerlich sie ist, die Fortbewegungsfähigkeit als solche nicht beeinträchtigt und daher den Nachteilsausgleich aG nicht rechtfertigt, hat im Übrigen auch schon das BSG in seinem Urteil vom 09.03.1988 (9/9a RVs 15/87) entschieden. Der Senat sieht keinen Grund, dieser Rechtsprechung des BSG nicht zu folgen. Daher verneint der Senat in Anwendung der Rechtsgrundsätze die Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" bei Stuhlinkontinenz (vgl. stellvertr. zuletzt Urteil vom 14.08.2009 - L 8 SB 4835/08 - unveröffentl.)
Dass die von der Klägerin erwähnten Erkrankungen - allerdings erst bei einem hier nicht vorliegenden GdB von mindestens 60 - einen Anspruch auf Parkerleichterungen für besondere Gruppen Schwerbehinderter in Baden-Württemberg begründen, lässt die medizinischen Voraussetzungen für den hier allein streitigen Nachteilsausgleich aG unberührt.
Im Übrigen ist das von der Klägerin mit dem geltend gemachten Nachteilsausgleich aG verfolgte Ziel, in der Nähe von Toiletten parken zu können, nicht mit Sinn und Zweck des Nachteilsausgleiches aG vereinbar. Dieser soll allein die neben der Benutzung des Pkw unausweichlich anfallende tatsächliche Wegstrecke (zu Behörden, Krankenhäusern usw) infolge einer erheblichen Gehbeeinträchtigung soweit wie möglich verkürzen (vgl. Urteil des BSG vom 03.02. 1988 - 9/9a RVs 19/86 -).
Die Berufung der Klägerin ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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