L 8 SB 4553/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 SB 1170/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4553/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. September 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Bei dem 1961 geborenen Kläger wurde 1993 ein malignes Melanom an der linken Halsseite diagnostiziert. Deswegen stellte das Versorgungsamt R. mit Bescheid vom 15.07.1994 zunächst den GdB mit 80 fest. Zuletzt stellte das Versorgungsamt R. mit Teil-Abhilfebescheid vom 11.03.2002 wegen einer Depression (Teil-GdB 30), einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Teil-GdB 10) und einer Narbe an der linken Halsseite (Teil-GdB 10) den GdB mit 30 sowie das Vorliegen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33b Einkommensteuergesetz fest.

Am 02.06.2010 beantragte der Kläger beim zwischenzeitlich zuständigen Landratsamt R. (LRA) die Erhöhung des GdB. Er machte Rückenprobleme, Bandscheibenvorfälle und Dauerschmerzen, eine Refluxkrankheit, eine chronische Lymphadenitis sowie Schlafstörungen und Depressionen geltend.

Das LRA zog medizinische Unterlagen bei (Berichte Dr. Z. vom 09.07.2003; Universitätsklinikum T. vom 04.07.2003, 08.12.2003, 02.07.2004, 29.05.2008; Dr. C. vom 07.10.2003; Dr. N. vom 31.10.2003 und 20.11.2009, Diagnosen: Wurzelreizsyndrom, Bandscheibenvorfall LWK 3/4 und 4/5; Dr. F. vom 09.01.2007; Dr. B. vom 11.01.2007; Dr. B. vom 18.06.2008 und 28.08.2008, Diagnosen: Geringe Hiatusinsuffizienz, Refluxkrankheit mit Ösophagitis, Antrum-Gastritis). Außerdem holte das LRA den Befundbericht der Ärztin S. vom 21.09.2010 ein, die eine rezidivierende depressive Störung als Erkrankung beschrieb und die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers bejahte. In der gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes, Dr. D., vom 21.10.2010, wurde wegen einer Depression (Teil-GdB 30), einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und einer Narbe an der linken Halsseite (Teil-GdB jeweils 10) sowie einer Refluxkrankheit und einem Zustand nach Melanom (Teil-GdB jeweils unter 10) der GdB weiterhin mit 30 vorgeschlagen.

Mit Bescheid vom 05.11.2010 entsprach das LRA dem Antrag des Klägers auf Neufeststellung des GdB nicht.

Gegen den Bescheid vom 05.11.2010 legte der Kläger am 15.11.2010 Widerspruch ein. Nach erfolgter Akteneinsicht machte der Kläger geltend, die Gesamtwürdigung der Funktionsbeeinträchtigungen Narbe am Hals, Depression, Wirbelsäule und Refluxkrankheit bedingten einen GdB von 50. Das LRA holte den Befundbericht des Dr. L. vom 07.01.2011 ein. In der gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes, Dr. M., vom 20.03.2011 wurde unter Erhöhung des Teil-GdB auf 20 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule der Gesamt-GdB weiterhin mit 30 vorgeschlagen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.03.2011 wurde der Widerspruch des Klägers vom Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - zurückgewiesen.

Hiergegen erhob der Kläger (durch seinen vormaligen Prozessbevollmächtigten) am 18.04.2011 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG). Er hielt die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft wegen Gesundheitsbeeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem, internistischem, orthopädischem und dermatologischem Gebiet für gerechtfertigt. Der Kläger legte Bericht des Dr. L. vom 16.06.2011, Dr. L. vom 20.02.2012 und Dr. B. vom 25.01.2012 vor.

Das SG hörte den Orthopäden Dr. L., den Allgemeinmediziner Dr. L. und die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie S. schriftlich als sachverständige Zeugen an. Dr. L. teilte in seiner Stellungnahme vom 13.07.2011 den Behandlungsverlauf (einmalige Untersuchung am 10.06.2011), die Befunde und Diagnosen (Lumboischialgie rechts, lumbales Wurzelreizsyndrom, NPP L3/4 und 4/5, Myogelose der Rückenstrecker und Schulter-Nacken-Muskulatur, Impingement Hüfte) mit. Er schätzte hinsichtlich der Wirbelsäule den GdB auf 30 ein und sah sich im Übrigen zu einer Einschätzung des GdB nicht in der Lage. Dr. L. teilte in seiner Stellungnahme vom 24.07.2011 im Wesentlichen mit, es seien keine neuen Befunde erhoben worden. Eine Verschlechterung sei nicht dokumentiert. Für die gefühlte Depression sei der GdB größer als 30. Die Ärztin S. teilte in ihrer Stellungnahme vom 12.10.2011 den Behandlungsverlauf und die Befunde mit. Zum GdB verwies sie auf ihren Befundbericht an das LRA vom 21.09.2010.

Der Beklagte unterbreitete dem Kläger ein Vergleichsangebot, wegen einer Depression (Teil-GdB 30), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Teil-GdB 20) und einer Narbe an der linken Halsseite (Teil-GdB 10) den GdB mit 40 ab dem 02.06.2010 festzustellen (Schriftsatz vom 14.12.2011) und legte hierzu die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 12.12.2011 vor. Dieses Vergleichsangebot nahm der Kläger nicht an (Schriftsätze vom 09.02.2012, 14.06.2012 und 14.08.2012).

Das SG holte das neurologisch-psychiatrische Gutachten von Professor Dr. L. vom 20.04.2012 ein. Professor Dr. L. diagnostizierte in seinem Gutachten (auf psychologisch-neurologischem Fachgebiet) eine rezidivierende depressive Erkrankung, gegenwärtig in mittelschwerer Ausprägung (Teil-GdB 40), sowie (auf anderen Fachgebieten) degenerative Wirbelsäulenveränderungen und Lumbalgien ohne fassbare neurologische Ausfallsyndrome (Teil-GdB 20), einen Zustand nach Exstirpation eines malignen Melanoms mit reizfreier Narbenbildung und geringen sensiblen Defiziten im Halsbereich (Teil-GdB 10) sowie eine Refluxerkrankung mit Hiatushernie. Die wesentliche Behinderung resultiere aus rezidivierenden depressiven Phasen. Aktuell fänden sich Hinweise auf eine mittelgradige depressive Verstimmung. In Bezug zu dem Bescheid vom 11.03.2002 sei keine relevante Änderung eingetreten. Der GdB-Wert für die depressive Störung könne höher angesetzt werden, da zwischenzeitlich schwere depressive Episoden, vor allem vor 4 Jahren, dokumentiert seien. Den Gesamt-GdB bewertete Professor Dr. L. mit 40 ab dem 02.06.2010 (und für die Zeit davor).

Der Kläger erhob Einwendungen gegen das Gutachten des Professor Dr. L. (Schreiben vom 13.06.2012). Das SG holte hierzu die ergänzende gutachtliche Stellungnahme vom 04.07.2012 ein, in der sich Professor Dr. L. mit den Einwendungen des Klägers im Einzelnen auseinandersetzte und an seinen Bewertungen im Gutachten festhielt. Gegen die ergänzende Stellungnahme erhob der Kläger wiederum Einwendungen (Schreiben vom 14.08.2012).

Mit Gerichtsbescheid vom 24.09.2012 verurteilte das SG den Beklagten, beim Kläger den GdB mit 40 seit dem 02.06.2010 festzustellen. Im Übrigen wies es die Klage ab. Das SG führte zur Begründung aus, es sei insoweit eine wesentliche Änderung eingetreten, als für die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen ein GdB von insgesamt 40 festzustellen sei. Die im Vordergrund stehenden Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet seien mit einem Teil-GdB von 40 angemessen bewertet. Für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule sei ein Teil-GdB von (allenfalls) 20 in Ansatz zu bringen. Einen Teil-GdB von 10 bedinge die Narbe an der linken Halsseite des Klägers. Die Refluxerkrankung und Hiatushernie rufe keine funktionelle Beeinträchtigung hervor, weshalb kein GdB von mindestens 10 bedingt werde. Im Übrigen könne offen bleiben, ob durch die Refluxkrankheit ein GdB von 10 verursacht werde. Professor Dr. L. sei zutreffend zu der Bewertung des Gesamt-GdB von 40 gelangt. Hieran würde auch die Berücksichtigung eines GdB von 10 für die Refluxkrankheit und die Hiatushernie nichts ändern.

In Ausführung des Gerichtsbescheids vom 24.09.2012 stellte das LRA mit Bescheid vom 18.10.2012 beim Kläger den GdB mit 40 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33b Einkommensteuergesetz jeweils seit dem 02.06.2010 fest.

Gegen den dem vormaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 27.09.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger (persönlich) am 25.10.2012 beim SG Berufung eingelegt. Er hat zur Begründung vorgetragen, es werde gegen Versorgungsmedizinische Grundsätze verstoßen. Mit der Feststellung des GdB von 40 werde den festgestellten Beeinträchtigungen nicht voll Rechnung getragen. Bei einer kritischen Einschätzung der Beeinträchtigungen läge eine höhere Feststellung des GdB vor. Dies werde schon allein dadurch bewiesen, dass die Jahre lang anhaltenden Refluxbeschwerden keine Berücksichtigung fänden. Dabei sei unerheblich, ob diese Beschwerden zu einer Erhöhung des GdB führten. Entscheidungen über diese Beeinträchtigung seien mehrfach positiv von verschiedenen Sozialgerichten getroffen worden. Konkludente Entscheidungen fänden sich auch bei der Einschätzung von Depressionen und der Bewertung des GdB. Auch die Einstufungen der Beschwerden im Halsbereich (Verkrampfungen), die chronische Lymphadenitis und die Wirbelsäulenbeschwerden seien höher zu bewerten. Für ihn sei ärgerlich und fraglich, wenn er sehe, dass Personen einen Schwerbehindertenstatus erhielten, die in ihrer Freizeit Marathon liefen, Bergtouren machten und schwere Waldarbeiten verrichteten und keine körperlichen Beeinträchtigungen hätten.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 24.09.2012 abzuändern sowie den Bescheid des Beklagten vom 05.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.03.2011 aufzuheben, den Ausführungsbescheid vom 18.10.2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von mindestens 50 seit dem 02.06.2010 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hat vorgetragen, entgegen der Auffassung des Klägers könne ein höherer GdB als 40 nicht bestätigt werden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die angefallenen Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie einen Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat den Berufungsantrag des Klägers nach seinem erkennbaren Begehren sachdienlich gefasst.

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist - im Ergebnis - nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Neufeststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen welche ihrerseits nicht zum so genannten Verfügungssatz des Bescheides gehören zugrunde gelegten Teil-GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 10.09.1997 - 9 RVs 15/96 -, BSGE 81, 50 bis 54). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP, die im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewendet wurden, die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Anders als die AHP, die aus Gründen der Gleichbehandlung in allen Verfahren hinsichtlich der Feststellung des GdB anzuwenden waren und dadurch rechtsnormähnliche Wirkungen entfalteten, ist die VersMedV als Rechtsverordnung verbindlich für Verwaltung und Gerichte. Sie ist indes, wie jede untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen (BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - RdNr 27, 30 m.w.N.). Sowohl die AHP als auch die VersMedV (nebst Anlage) sind im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen und - bei Verstößen dagegen - nicht anzuwenden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 SozR 4-3250 § 69 Nr. 10 RdNr. 19 und vom 23.4.2009, a.a.O., RdNr 30).

Hiervon ausgehend ist im Vergleich zu dem im Teil-Abhilfebescheid des Versorgungsamts R. vom 11.03.2002 mit einem GdB von 30 berücksichtigte Gesundheitszustand des Klägers eine wesentliche Änderung dahin eingetreten, dass beim Kläger der GdB nunmehr mit 40 seit dem 02.06.2010 festzustellen ist, wie das SG zutreffend entschieden hat. Ein Anspruch auf Feststellung des GdB von mindestens 50, wie ihn der Kläger anstrebt, besteht dagegen nicht.

Nach dem erstinstanzlich eingeholten Gutachten von Professor Dr. L. vom 25.04.2012 (und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.06.2012) steht beim Kläger als wesentliche Behinderung eine rezidivierende depressive Erkrankung im Vordergrund. Für diese Erkrankung ist zur Überzeugung des Senats ein Teil-GdB von 30 angemessen und ausreichend.

Nach den VG Teil B 3.7 ist bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder Folgen psychischer Traumen mit leichteren psychovegetative oder psychische Störungen der GdB mit 0 bis 20, bei stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) der GdB mit 30 bis 40 und bei schweren Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 80 bis 100 zu bewerten. Nach dem im Gutachten von Professor Dr. L. beschriebenen psychischen Befund ist beim Kläger eine ausgeprägte Hypomimie (nur geringe Bewegungen der Gesichtsmuskulatur) auffällig. Der Kläger ist in seiner Grundstimmung ernsthaft, die Stimmung ist gesenkt. Die affektive Schwingungsfähigkeit ist reduziert bei nur gering ausgeprägtem Gestikulieren. Der Antrieb ist etwas reduziert. Es bestehen Anlaufschwierigkeiten am Morgen bei besserer Stimmung zum Abend hin. Der Kläger hat Angstzustände im Hinblick auf die frühere Karzinomerkrankung ohne Hinweise auf eine bestehende Suizidalität. Er ist wach, bewusstseinsklar und in allen Qualitäten vollständig orientiert. Es bestehen keine Hinweise auf relevante kognitive oder neurophysiologische Defizite. Der Kläger ist familiär gut integriert und lebt in einer intakten Beziehung mit erhaltenen familiären Strukturen. Weiter berichtet die Ärztin S. in ihrer schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage an das SG vom 11.10.2011 über innere Unruhe tagsüber und sozialen Rückzug des Klägers. Danach ist zur Überzeugung des Senats mit Professor Dr. L. vom Vorliegen ausgeprägterer depressiver Störungen mit phobischen Anteilen auszugehen, die nach den dargestellten Bewertungsgrundsätzen der VG einen Teil-GdB von 30 bis 40 rechtfertigen. Schwere Störungen liegen nicht vor. Dafür, dass beim Kläger eine schwere Zwangskrankheit besteht, fehlt jeder Hinweis.

Zur Überzeugung des Senats ist es nicht gerechtfertigt, den vorgegebenen GdB-Rahmen von 30 bis 40 nach oben auszuschöpfen. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen im Gutachten von Professor Dr. L. bestehen beim Kläger rezidivierende depressive Störungen, bei denen es zwar immer wieder zu Phasen mit schweren depressiven Episoden jedoch in Abwechslung mit einer geringer ausgeprägten Symptomatik, zur Zeit der Untersuchung durch Professor Dr. L. in Form einer mittelgradigen depressiven Verstimmung, kommt. Nach den VG Teil A 2f) ist Schwankungen im Gesundheitszustand bei längerem Leidensverlauf mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen. Dies bedeutet: Wenn bei einem Leiden der Verlauf durch sich wiederholende Besserungen und Verschlechterungen des Gesundheitszustandes geprägt ist, wie dies beim Kläger hinsichtlich der depressiven Störungen zutrifft, können die zeitweiligen Verschlechterungen - aufgrund der anhaltenden Auswirkungen auf die gesamte Lebensführung - nicht als vorübergehende Gesundheitsstörungen betrachtet werden. Dementsprechend muss in solchen Fällen bei der GdB-Beurteilung von dem "durchschnittlichen" Ausmaß der Beeinträchtigung ausgegangen werden. Weiter befindet sich der Kläger nach seinen Angaben bei der Begutachtung durch Professor Dr. L. in einer ambulanten Psychotherapie in etwa 4-wöchigen Abständen, was gegen einen starken Leidensdruck des Klägers wegen der seelischen Störungen spricht. Zudem sind bedeutsame Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers wegen der seelischen Störung nicht ersichtlich. Weiter lässt sich nach dem Gutachten von Professor Dr. L. wegen der ausgeprägten Hypomimie eine relevante Beeinträchtigung nicht ableiten. Der Senat erachtet deshalb wegen der depressiven Erkrankung des Klägers (im Durchschnitt) einen Teil-GdB von 30 für angemessen und ausreichend.

Der abweichenden Bewertung von Professor Dr. L. kann nicht gefolgt werden. Professor Dr. L. hat eine relevante Änderung in Bezug auf die im Teil-Abhilfebescheid vom 11.03.2002 mit einem Teil-GdB von 30 berücksichtigten Depression verneint. Er hält eine höhere Bewertung des Teil-GdB für die depressive Störung deshalb für gerechtfertigt, weil vor etwa 4 Jahren (vor der Begutachtung, d.h. im Jahr 2008) beim Kläger zwischenzeitlich schwere depressive Episoden aufgetreten sind. Ungeachtet des Umstandes, dass das Auftreten dieser schweren depressiven Episoden vor dem vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum liegt, rechtfertigen diese nicht den Teil-GdB von 40. Schwere depressive Episoden liegen beim Kläger nicht dauerhaft vor. Vielmehr kommt es zu einem rezidivierenden Verlauf, der nach dem oben Ausgeführten mit einem Durchschnittswert zu berücksichtigen ist. Die Teil-GdB-Bewertung von 40 ist deswegen nicht überzeugend. Entsprechendes gilt für die Bewertung von Dr. L. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage an das SG vom 24.07.2011, der keine neuen Gesichtspunkte aufzeigt, die einen höheren Teil-GdB als 30 rechtfertigen.

Das Wirbelsäulenleiden des Klägers ist mit einem Teil-GdB von 20 zu berücksichtigen. Dem entspricht die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 12.12.2011, der hinsichtlich der Funktionsbehinderung der Wirbelsäule den Teil-GdB von 20 als voll ausgefüllt ansieht und nach seiner Ansicht beim Gesamt-GdB zu berücksichtigen ist. Dem schließt sich der Senat an. Ein höherer Teil-GdB als 20 für das Wirbelsäulenleiden des Klägers ist jedoch nicht gerechtfertigt. Nach den VG Teil B 18.9 rechtfertigen erst Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) einen Teil-GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen Teil-GdB von 30 bis 40. Nach der schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage von Dr. L. vom 13.07.2011 besteht beim Kläger hinsichtlich der Wirbelsäule ein Finger-Boden-Abstand von über 20 cm, Zeichen nach Schober der LWS von 10/12, der BWS von 30/31. Weiter bestehen Myogelosen am Oberrand des Trapezius sowie eine konzentrische eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule (Rotation beidseits 50°, Lateralflexion unter 20°, Kinn-Jugulum-Abstand zwei Querfinger) und Druckschmerz an den Facettengelenken der unteren Halswirbelsäule. Dem entspricht auch die Befundbeschreibung in dem vom Kläger vorgelegten Bericht des Dr. L. vom 16.06.2011. Eine eindeutige Wurzelschädigung ist nicht nachgewiesen. Auch eine neurologische Ausfallsymptomatik bzw. Defizite liegen nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen im Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme von Professor Dr. L. nicht vor. Dagegen sprechen die objektiven neurologischen Untersuchungsbefunde. Dass beim Kläger weiter eine außergewöhnliche Schmerzsymptomatik vorliegt, die nach den VG zusätzlich zu berücksichtigen ist (vgl. hierzu VB Teil A 2j), ist nicht ersichtlich. Damit liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten beim Kläger nicht vor. Davon geht auch Professor Dr. L. in seinem Gutachten aus, der in Bezug auf das Wirbelsäulenleiden des Klägers einen Teil-GdB von 20 in keinem Fall als zu niedrig ansieht. Die abweichende Bewertung von Dr. L. in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 13.07.2011 überzeugt nicht. Dr. L. nennt keine Funktionsbeeinträchtigen der Wirbelsäule, die nach den genannten Vorgaben der VG einen Teil-GdB von 30 rechtfertigen, weshalb auch seiner Bewertung nicht gefolgt werden kann.

Die durch die Exstirpation des malignen Melanoms an der linken Halsseite des Klägers verbliebene Narbe rechtfertigt keinen höheren Teil-GdB als 10. Nach dem Gutachten von Professor Dr. L. bestehen durch diese Narbe, abgesehen von einer leichten Sensibilitätsstörung im Narbenbereich, keine motorischen und neurologischen Beeinträchtigungen. Auch unter zusätzlicher Berücksichtigung vom Kläger geltend gemachter (immer wieder auftretender) Verkrampfungen im Halsbereich, ist die Bewertung mit einem Teil-GdB von über 10 wegen der verbliebenen Narbe an der linken Halsseite nicht gerechtfertigt.

Nach den vorliegenden Befundunterlagen sind keine Funktionsbehinderungen wegen der Lymphadenitis (Lymphknotenentzündung) belegt. Unabhängig davon ist das Auftreten einer Lymphadenitis durch die zu den Akten gelangten Unterlagen und durch die Aussagen der schriftlich als sachverständige Zeugen angehörten Ärzte jedenfalls für die Zeit ab dem 02.06.2010 nicht mehr belegt. Die im Gutachten von Professor Dr. L. beschriebene Angst des Klägers, dass ein Lymphknoten mit Metastasen befallen sein könnte, wird bereits vom Teil-GdB für die depressive Erkrankung des Klägers erfasst und kann nicht doppelt berücksichtigt werden. (Ein Rezidiv des malignen Melanoms ist nach den vorliegenden Befundunterlagen nicht aufgetreten.)

Die Refluxkrankheit des Klägers rechtfertigt keinen höheren Teil-GdB als 10. Eine Hiatushernie ist nach den vorliegenden Befundberichten nicht nachgewiesen. Nach dem Befundbericht des Dr. B. vom 25.01.2012 besteht vielmehr eine Hiatusinsuffizienz. Nach den VG Teil B 10.1 ist bei einer Refluxkrankheit der Speiseröhre mit anhaltenden Refluxbeschwerden je nach dem Ausmaß der Teil-GdB mit 10 bis 30 zu bewerten. Auswirkungen auf Nachbarorgane sind zusätzlich zu bewerten. Anhaltende Refluxbeschwerden, die einen GdB von über 10 rechtfertigen, sind nicht dokumentiert. Dr. L. nennt in den vom Kläger vorgelegten Befundangaben vom 20.02.2012 zwar oft auftretende Refluxbeschwerden bzw. anhaltende Refluxbeschwerden höheren Ausmaßes mit Beteiligung des Ösophagus, ohne diese Beschwerden jedoch konkret zu beschreiben. Dr. B. diagnostiziert aufgrund einer am 25.01.2012 durchgeführten Gastroskopie eine gastroösophagale Refluxkrankheit ohne Ösophagitis (Befundbericht vom 25.01.2012). Ein Ulcus sowie eine HP-Gastritis werden nach dem Befundbericht ausgeschlossen. An Beschwerden lässt sich diesem Befundbericht lediglich (als Indikation der Untersuchung) Oberbauchschmerzen entnehmen. Nach dem im Gutachten von Professor Dr. L. beschriebenen Beschwerdeangaben des Klägers leidet der Kläger unter einer Refluxsymptomatik, bei der es vor allem zur Nacht zu Missempfindungen im Brustbereich kommt. Damit sind allenfalls anhaltende Refluxbeschwerden leichten Grades ohne Organbeteiligung dokumentiert, die keinen höheren Teil-GdB als 10 rechtfertigen.

Sonstige zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen sind nicht ersichtlich. Solche Gesundheitsstörungen macht der Kläger im Übrigen auch nicht geltend.

Den vom Kläger gegen das Gutachten des Professor Dr. L. vom 20.04.2012 erhobenen Einwendungen (Schreiben vom 13.06.2012) kann nicht gefolgt werden. Professor Dr. L. hat zu diesen Einwendungen des Klägers in der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme im Einzelnen eingehend Stellung genommen. Dem schließt sich der Senat an. Soweit der Kläger mit Schreiben vom 14.08.2012 weitere Einwendungen erhoben hat, sind diese ebenfalls nicht stichhaltig. Der Kläger setzt eigene Ansichten gegen das Gutachten des Professor Dr. L., die nach der ergänzenden Stellungnahme vom 04.07.2012 nicht überzeugen, und äußert Mutmaßungen, für deren Richtigkeit (objektive) Hinweise fehlen.

Die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen rechtfertigten damit einen GdB von 40. Eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X, die die Neufeststellung des GdB mindestens 50 rechtfertigt, liegt beim Kläger jedoch nicht vor.

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Die AHP und die VG führen zur Umsetzung dieser Vorschriften aus, dass eine Addition von Einzel-GdB-Werten grundsätzlich unzulässig ist und auch andere Rechenmethoden für die Gesamt-GdB-Bildung ungeeignet sind. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird; ein Einzel GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. AHP Nr. 19 Abs. 3; VG Teil A Nr. 3). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung dieser Bewertungsgrundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG, SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5).

Hiervon ausgehend sind beim Kläger ein Teil-GdB von 30 für seelische Störung sowie ein Teil-GdB von 20 für die Wirbelsäule in die Bildung des Gesamt-GdB mit 40 einzubeziehen. Die übrigen Funktionseinschränkungen (Narbe an der linken Halsseite sowie Refluxkrankheit) bedingen jeweils einen Teil-GdB von 10, die bei der Bildung des Gesamt-GdB nicht erhöhend zu berücksichtigen sind.

Anlass für weitere Ermittlungen besteht nicht. Der Senat hält den entscheidungserheblichen Sachverhalt durch die zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen und die vom SG durchgeführten Ermittlungen für geklärt. Neue Gesichtspunkte, die dem Senat Anlass zu weiteren Ermittlungen geben, hat der Kläger nicht aufgezeigt.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
Saved