L 3 AS 10/12

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 9 AS 3163/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 10/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Bedingungen der Ernährungstherapie bei Diabetes mellitus erfüllt die Vollkost.
2. Zum Begriff der Vollkost.
3. Dass die Aufwendungen für Diabeteskost oder Diabetes-Mischkost aus dem Anteil für Ernährung, der in der Regelleistung enthalten war, gedeckt werden konnte, ergibt sich nicht aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe.
4. Aus den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 1. Oktober 2008 ergibt sich, dass eine Vollwerternährung aus dem Regelsatz gedeckt werden kann.
5. Der Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II setzt voraus, dass der Bedarf einer kostenaufwändigen Ernährung auf medizinischen Gründen beruht. Das Erfordernis der medizinischen Gründe bedingt, dass für die Prüfung eines Anspruches nach § 21 Abs. 5 SGB II auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abzustellen ist.
6. Eine von § 21 Abs. 5 SGB II abweichende Bestandsschutzregelung des Inhalts, dass ein einmal bewilligter Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bei unveränderter gesundheitlicher Beeinträchtigung unabhängig vom aktuellen – gegebenenfalls gegenüber einem früheren veränderten – wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu gewähren wäre, gibt es nicht.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichtes Leipzig vom 8. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung für die Zeit vom 1. August 2009 bis zum 31. Januar 2010 geltend.

Die Klägerin, die Arbeitslosengeld II bezog, stellte am 25. September 2006 einen Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfes für kostenaufwendige Ernährung. Im Erläuterungsblatt, das sich auf der Rückseite des Antragsformulars findet, ist unter Nummer 2 angegeben: Art der Erkrankung Diabetes Mellitus Typ I konventionelle Insulintherapie Diabetes Mellitus Typ II a Krankenkost Diabeteskost Krankenkostzulage 51,13. In der beigefügten ärztlichen Bescheinigung, dessen Formular auf das Erläuterungsblatt Bezug nimmt, gab Dipl.-Med. S ..., Facharzt für Inneres, am 21. September 2006 an, dass die Klägerin an Diabetes mellitus leide. Die Krankenkost sei für die Zeit vom "1.9. bis 1.3" erforderlich und werde von ihm ärztlich verordnet. Eine Nachuntersuchung erfolge vierteljährlich zwecks Diabeteskontrollen. In der weiteren Bescheinigung vom 23. Februar 2007 gab er an, die Krankenkost sei wegen "Diab. mel. Typ II bestehend lebenslang" "ab sofort bis lebenslang" erforderlich und werde von ihm ärztlich verordnet. Eine Nachuntersuchung sei nicht erforderlich.

Für die Monate Februar bis Juli 2009 bewilligte die Arbeitsgemeinschaft A ... (im Folgenden: ARGE), die Vorgängerin des Beklagten, der Klägerin und ihrer 1990 geborenen Tochter mit Bescheid vom 26. Januar 2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 23. März 2009, 6. Juni 2009 und 8. Juli 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Bei der Klägerin war ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von 51,13 EUR berücksichtigt.

Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 12. Juni 2009 bewilligte die ARGE der Klägerin und ihrer Tochter für die Monate August 2009 bis Januar 2010 mit Bescheid vom 8. Juli 2009 Leistungen in Höhe von insgesamt 908,98 EUR. BAföG-Leistungen, die die Tochter der Klägerin erhielt, wurden nur bei dieser als Einkommen angerechnet. Von den bewilligten Leistungen entfielen auf die Klägerin 359,00 EUR als Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und 198,49 EUR für Kosten für Unterkunft und Heizung, das heißt die Hälfte der monatlich zu entrichtenden Miete. Ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung war in der Bewilligungsentscheidung nicht mehr enthalten. Dies begründete die ARGE unter Hinweis auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 1. Oktober 2008.

Mit Schreiben vom 6. Juli 2009 legte die Klägerin Widerspruch ein. Ihr sei bekannt, dass Diabetiker, die Insulin spritzten, weiterhin den Mehrbedarf für Ernährung erhielten. Sie monierte, dass erst ein Mietzuschuss in Höhe von 38,00 EUR, dann im Jahr 2008 der Mehrbedarf für Alleinerziehende in Höhe von 42,00 EUR und jetzt 51,00 EUR Mehrbedarf für Ernährung gestrichen worden seien. Sie gehe seit 15. Juni 2009 wieder arbeiten für 1,25 EUR/Std. bei 25 Stunden wöchentlich. Den Lohn habe sie noch nicht erhalten.

Die ARGE wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. August 2009 zurück. Sie führte in einer eingehenden Begründung aus, welche Voraussetzungen für einen Anspruch auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung vorliegen müssten, dass es nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe aus dem Jahr 1997 eine Krankenkostzulage bei Diabetes mellitus in Höhe von 51,13 EUR gegeben habe, und dass nach einer Überarbeitung an ihre Stelle die Empfehlungen vom 1. Oktober 2008 getreten seien, nach denen nunmehr kein erhöhter Ernährungsbedarf bestehe. Ferner erläuterte sie, inwiefern die Wissenschaftliche Ausarbeitung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. zum Thema Lebensmittelkosten im Rahmen einer vollwertigen Ernährung vom April 2008 Eingang in die Empfehlungen vom 1. Oktober 2008 gefunden hätten.

Am 23. September 2009 erließ die ARGE einen Änderungsbescheid. In diesem wurden die der Tochter der Klägerin bewilligten Leistungen reduziert. Die die Klägerin betreffende Leistungsbewilligung wurde wie im Ausgangsbescheid festgesetzt.

Die Klägerin hat bereits am 13. September Klage erhoben. Hierbei hat sie ihren Vortrag aus dem Widerspruchsschreiben wiederholt.

Auf die Aufforderung des Sozialgerichtes, zur behaupteten Bewilligungspraxis bei Diabetikern, die Insulin spritzten, Stellung zu nehmen, hat die ARGE ausgeführt, dass nach den aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins bei Diabetikern eine Diabetikerkost nicht zwingend erforderlich sei. Vielmehr genüge alternativ eine Reduktionskost. Diese sei nicht kostenverteuernd. Es sei deshalb nicht mehr entscheidend, ab Diabetes mellitus vorliege, bei der eine Spritze gesetzt werden müsse. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass vorliegend die Erkrankung eine Ausnahme rechtfertige.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 8. Dezember 2011 abgewiesen. Nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1. Oktober 2008 bedürfe es bei Diabetes mellitus Typ I und II einer Vollkost. Nach dem Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichtes vom 15. Februar 2010 (Az. L 3 AS 780/09 NZB) decke die Regelleistung für Haushaltsvorstände und allein Lebende den Mindestaufwand für eine Vollkost. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.

Die Klägerin hat am 4. Januar 2012 Berufung eingelegt. Als Diabetikerin versuche sie, soweit ihr das der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II erlaube, sich so zu ernähren, dass sie irgendwann ein paar Medikamente weglassen könne. Dies sei nur möglich, wenn sie hauptsächlich frisches Gemüse und Obst (in Maßen) zu sich nehme. Wie vielleicht bekannt sei, seien nur in frischer Ware und bei richtiger Zubereitung alle Vitamine und Mineralien, was zu einer gesunden Ernährung gehöre, vorhanden. Dies sei nun einmal wesentlich teurer als Konserven. Außerdem kämen dem Staat ihre Medikamente wesentlich teurer als ein Zuschuss für gesunde Ernährung.

Der Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme von Dr. N ... (Arzt der Agentur für Arbeit A ...), Facharzt für Chirurgie/Sozialmedizin/Notfallmedizin, vom 8. Mai 2013 vorgelegt. Danach bestünden bei der Klägerin gesundheitliche Störungen, bei denen aus sozialmedizinischer Sicht ein notwendiger Bedarf nicht abgeleitet werden könne.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichtes Leipzig vom 8. Dezember 2011 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 8. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23. September 2009 zu verurteilen, an sie für die Zeit vom 1. August 2009 bis zum 31. Januar 2010 weitere 51,13 EUR monatlich zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf den Beschluss des Senates vom 15. Februar 2010 (Az. L 3 AS 780/09 NZB).

Das Gericht hat einen Befundbericht bei Dr. B ... (Fachärztin für Innere Medizin/Naturheilverfahren, eingeholt. Unter dem 16. Juni 2013 hat sie angegeben, dass sich die Klägerin seit der Praxisübernahme im Mai 2010 regelmäßig in ihrer hausärztlicher Betreuung befinde. Sie hat bei der Klägerin Diabetes mellitus mit Angio- und Neuropathie, arterielle Hypothonie, chronischen Nikotinabusus, Lymphödem (links bei Z. n. 3 Etagenthrombose links 06/12), daraus resultierende dauerhafte Antikoagulation bei Gerinnungsdefekt und "paVK" (peripheren arteriellen Verschlusskrankheit) der Beinarterien diagnostiziert. Die Klägerin benötige eine kohlehydratreduzierte Diabetes-Mischkost, welche salz- und fettreduziert sein sollte. Es gebe keine Lebensmittelunverträglichkeit.

Den Beteiligten sind Ab- und Ausdrucke der Urteile des Bundessozialgerichtes vom 22. November 2011 (Az. B 4 AS 138/10 R) und 20. Februar 2014 (Az. B 14 AS 65/12 R), der Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 1. Oktober 2008 (im Folgenden: Empfehlungen 2008) und 10. Dezember 2014 (im Folgenden: Empfehlungen 2014) sowie der wissenschaftlichen Ausarbeitung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. zum Thema Lebensmittelkosten im Rahmen einer vollwertigen Ernährung vom April 2008 zur Kenntnis übersandt worden.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beteiligten verhandeln und entscheiden, weil sie hierauf in der Ladung hingewiesen worden sind (vgl. § 153 Abs. 1 i. V. m. § 110 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

Auf eine mündliche Verhandlung konnte nicht gemäß § 124 Abs. 2 SGG verzichtet werden, da die Klägerin auf eine entsprechende Anfrage lediglich erklärte, dass sie damit einverstanden sei, dass auch in ihrer Abwesenheit verhandelt werden dürfe.

II. Gegenstand des Rechtsstreites ist das Begehren der Klägerin, für die Zeit vom 1. August 2009 bis zum 31. Januar 2010 weitere 51,13 EUR zu erhalten. Die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung, auf den sie ihr Begehren in der Sache stützt, kann allerdings nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes nicht in zulässiger Weise zum eigenständigen, abtrennbaren Streitgegenstand in einem gerichtlichen Verfahrens im Rahmen der Bewilligung von Arbeitslosengeld II bestimmt werden (vgl. BSG, Urteil vom 22. November 2011 – B 4 AS 138/10 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 14 = juris, jeweils Rdnr. 12, m. w. N ...; BSG, Urteil vom 14. Februar 2013 – B 14 AS 48/12 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 15 = juris, jeweils Rdnr. 9, m. w. N ...; BSG, Urteil vom 20. Februar 2014 – B 14 AS 65/12 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 17 = juris, jeweils Rdnr. 8, m. w. N ...).

Ferner entfaltet eine ablehnende Entscheidung hinsichtlich des Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung wegen der in § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II vorgeschriebenen abschnittsweisen Bewilligung von Leistungen grundsätzlich keine Bindungswirkung für zukünftige Bewilligungsabschnitte, das heißt ab 1. Februar 2010 (vgl. BSG, Urteil vom 14. Februar 2013. a. a. O.).

Da die Klägerin höhere Leistungen begehrt und der Streitgegenstand nicht auf den Anspruch auf Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung beschränkt werden kann, sind in diesem sogenannten Höhenstreit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 119/10 RBSGE 108, 86 ff. = SozR 4-1500 § 54 Nr. 21 = juris, jeweils Rdnr. 32, m. w. N.), vorliegend allerdings begrenzt auf die Zeit vom 1. August 2009 bis zum 31. Januar 2010 und auf den geltend gemachten Zahlbetrag von 51,13 EUR. Soweit die Klägerin auch für andere Zeiträume die Zuerkennung des Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung wünschen sollte, wäre sie gehalten, diese in gesonderten Verfahren geltend zu machen.

III. Die solchermaßen beschriebene Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft. Die Klägerin begehrt für den sechsmonatigen Streitzeitraum weitere Leistungen in Höhe von 51,13 EUR monatlich. Damit beläuft sich der Wert des Beschwerdegegenstandes für das Berufungsverfahren auf insgesamt 306,78 EUR. Dieser Wert übersteigt nicht den Grenzwert von 750,00 EUR aus § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Damit bedarf die Berufung der Zulassung. Eine solche Zulassungsentscheidung hat das Sozialgericht im Urteil vom 8. Dezember 2011 getroffen.

IV. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen hat. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23. September 2009 ist rechtmäßig, weil die Klägerin keinen Anspruch auf die geltend gemachten höheren Leistungen hat.

1. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 19 Satz 1 SGB II in der vom 1. August 2006 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (vgl. Artikel 1 Nr. 18 Buchst. a des Gesetzes vom 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]) in Verbindung mit § 20 Abs. 1 SGB II in der vom 1. August 2006 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (vgl. Artikel 1 Nr. 19 Buchst. a des Gesetzes vom 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]).

Nach § 19 Satz 1 SGB II a. F. erhielten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (vgl. hierzu § 22 SGB II). Zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gehörten neben der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. § 20 SGB II in der vom 1. Juni 2007 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung, vgl. Artikel 1 Nr. 4 des Gesetzes vom 10. Oktober 2007 [BGBl. I S. 2326]) unter anderem die Leistungen für Mehrbedarfe nach § 21 SGB II (vgl. Brünner, in: Münder [Hrsg.], SGB II [3. Aufl., 2009], § 19 Rdnr. 5). Nach § 21 Abs. 1 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung umfassten Leistungen für Mehrbedarfe Bedarfe nach den Absätzen 2 bis 6, die nicht durch die Regelleistung abgedeckt waren. Nach § 21 Abs. 5 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung erhielten erwerbsfähige Hilfebedürftige (seit 1. Januar 2011: Leistungsberechtigte, vgl. Artikel 2 Nr. 31 des Gesetzes vom 24. März 2011 [BGBl. I S. 453]), die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe.

2. Die Klägerin war im streitbefangenen Zeitraum eine erwerbsfähige Hilfebedürftige im Sinne von § 7 Abs. Satz 1 SGB II in der vom 1. Januar 2008 bis zum 31. März 2011 geltenden Fassung (vgl. Artikel 2 Nr. 2 des Gesetzes vom 20. April 2007 [BGBl. I S. 554]).

Die der Klägerin zuerkannte Regelleistung in Höhe von 359,00 EUR entspricht der im streitbefangenen Zeitraum maßgebenden Regelleistungshöhe (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 SGB II i. V. m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Juli 2009 vom 17. Juni 2009 [BGBl. I S. 1342]).

Da die Klägerin die Mietwohnung gemeinsam mit ihrer Tochter nutzte, berücksichtigte die ARGE in Bezug auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem Kopfteilprinzip (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/11b AS 55/06 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 9 = NZS 2009, 109 ff.) zutreffend die Hälfte der Mietaufwendungen.

Zu berücksichtigendes Einkommen und Vermögen, das die Geldleistungen hätte mindern können (vgl. § 19 Satz 2 SGB II i. V. m. § 9 Abs. 1, §§ 10 und 11 SGB II), hatte die Klägerin nicht und wurde von der ARGE in die Leistungsberechnung nicht eingestellt.

Insoweit ist die Leistungsbewilligung nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat diesbezüglich auch nichts geltend gemacht. Soweit sie allgemein gerügt hat, ihr seien Leistungen wiederholt gekürzt worden, ist lediglich informatorisch anzumerken, dass Leistungen für die Bedarfe, die sie angesprochen hat, nicht bereits zu erbringen sind, wenn ein Antragsteller hilfebedürftig im Sinne des SGB II ist, sondern wenn die im Einzelfall maßgebenden Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. So setzt der Anspruch auf Mehrbedarf bei alleiniger Pflege und Erziehung von Kindern nach dem klaren Wortlaut von § 21 Abs. 3 SGB II unter anderem voraus, dass das Kind minderjährig ist. Daraus folgt zwingend, dass die Klägerin für ihre im November 1990 geborene Tochter ab dem Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 2008 keinen Anspruch nach § 21 Abs. 3 SGB II mehr hatte.

3. Ein höherer Leistungsanspruch ergibt sich auch nicht aus dem behaupteten Anspruch auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 21 Abs. 5 SGB II a. F. (inhaltsgleich mit der seit 1. Januar 2011 geltenden Fassung; vgl. Artikel 2 Nr. 31 des Gesetzes vom 24. März 2011 [BGBl. I S. 453]).

Die Prüfung des Anspruches auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung erfolgt in mehreren Schritten (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O., Rdnr. 16, m. w. N.). Anspruchsvoraussetzungen sind, dass 1. der Antragsteller eine erwerbsfähige, hilfebedürftige (seit 1. Januar 2011: leistungsberechtigte) Person ist (was vorliegend nach den obigen Feststellungen der Fall ist), 2. medizinische Gründe im Sinne von gesundheitlichen Beeinträchtigungen (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O.) vorliegen, 3. die Ernährung kostenaufwändig(er) ist (zum begrifflichen Unterschied von kostenaufwendiger und kostenaufwendigerer Ernährung: S. 5 f. der Empfehlungen 2008), 4. ein Ursachenzusammenhang zwischen den medizinischen Gründen und der kostenaufwändigen Ernährung besteht, ohne dass es auf die Einhaltung dieser Ernährung ankommt, und 5. die betreffende Person Kenntnis von dem medizinisch bedingten besonderen Ernährungsbedürfnis hat.

Hierbei dienen die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe als Orientierungshilfe. Sie können zu einem Abgleich mit den Ergebnissen der Einzelfallermittlungen führen. Weitere Ermittlungen medizinischer und gegebenenfalls ernährungswissenschaftlicher Art sind entbehrlich, wenn die Ergebnisse der individuellen behördlichen und gerichtlichen Amtsermittlung keine Abweichungen von den Empfehlungen des Deutschen Vereins erkennen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 22. November 2011 – B 4 AS 138/10 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 14 = juris, jeweils Rdnr. 23, m. w. N.). Besonderheiten, die Anlass zu weiteren Ermittlungen geben können, sind substantiiert geltend zu machen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 12 = juris, jeweils Rdnr. 23, m. w. N.).

a) Medizinische Gründe im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II a. F. lagen bei der Klägerin vor. Sie litt und leidet, soweit dies für den geltend gemachten Mehrbedarf maßgebend ist, nach allen vorliegenden medizinischen Unterlagen unter Diabetes mellitus. Hierbei handelt es sich um eine Krankheit (vgl. ICD-10-GM 2016 E10-E14) und damit um eine gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II a. F. Entsprechendes gilt für die weiteren von Dr. B ... diagnostizierten Erkrankungen, nämlich Angiopathie (vgl. ICD-10-GM 2016 I79.2*), Neuropathie (vgl. ICD-10-GM 2016 G60.-), arterielle Hypothonie (vgl. ICD-10-GM 2016 I10.-), chronischen Nikotinabusus (vgl. ICD-10-GM 2016 I17.-) und das Lymphödem (vgl. ICD-10-GM 2016 Q82.-).

b) Als Kostform benötigte die Klägerin Diabeteskost, wie Dipl.-Med. S ... auf der Grundlage der Angaben im Erläuterungsblatt zum Antragsformular für Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bescheinigte, oder kohlehydratreduzierte Diabetes-Mischkost, die salz- und fettreduziert sein sollte, wie Dr. B ... im Befundbericht mitteilte.

Die Bedingungen der Ernährungstherapie bei Diabetes mellitus erfüllt die Vollkost, wie im Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziehner (BDEM) e. V., der Deutschen Adipositas Gesellschaft e. V., der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin (DAEM) e. V., der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) e. V., der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) e. V., des Verbandes der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband (VDD) e. V. und des Verbandes der Diplom-Oecotrophologen (VDOE) (vgl. Kluthe/Dittrich/Everding/Gebhardt/Hund-Wissner/Kasper/ Rottka/Rabast/Weingard/Wild/Wirth/Wolfram, Rationalisierungsschema 2004, Aktuelle Ernährungsmedizin 2004, 245 [247]) ausgeführt ist.

Eine Vollkost (vgl. Rationalisierungsschema 2004, Aktuelle Ernährungsmedizin 2004, 245) ist eine Kost, die 1. den Bedarf an essentiellen Nährstoffen deckt, 2. in ihrem Energiehaushalt den Energiebedarf berücksichtigt, 3. Erkenntnisse der Ernährungsmedizin zur Prävention und auch zur Therapie berücksichtigt, 4. in ihrer Zusammensetzung den üblichen Ernährungsgewohnheiten angepasst ist, soweit Punkt 1 bis 3 nicht tangiert werden. Bei einer Vollkost sollte beachtet werden: 1. Maximal zweimal bis dreimal pro Woche Fleisch- oder Wurstmahlzeiten. 2. Einmal bis zweimal pro Woche eine Seefischmalzeit zur Erhöhung der n-3-Fettsäurenzufuhr. 3. Ansonsten Bevorzugung vegetarischer Kost. 4. Die Regel "5-am-Tag", das heißt fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, sollte gewährleistet sein.

Wenn lediglich diätisch behandelt wird, das heißt blutzuckerersetzende Substanzen nicht gegeben werden, reicht die Behandlung nach diesen Prinzipien aus (vgl. Rationalisierungsschema 2004, Aktuelle Ernährungsmedizin 2004, 245 [248]; vgl. auch: Toeller u. a., Evidenz-basierte Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes mellitus, veröffentlicht unter https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/ws/EBL-Ernaehrung.pdf).

Nach dem Rationalisierungsschema 2004 erfüllt die Vollkost auch die Bedingungen der Ernährungstherapie bei arterieller Hypertonie (Bluthochdruck) und Ödemen. Gerade bei Hypertonie sollte darauf geachtet werden, dass 2.000 bis 2.400 mg Natrium/Tag in keinem Fall überschritten werden. Außerdem wird zusätzlich empfohlen (vgl. Rationalisierungsschema 2004, Aktuelle Ernährungsmedizin 2004, 245 [248 f.]): 1. Bei Übergewicht sollte das Gewicht auf ein Normalgewicht mit einem Body-Mass-Index von 25 kg/m² oder weniger reduziert werden. 2. Frische unzubereitete Lebensmittel sollten bevorzugt werden, weil diese nativ natriumarm sind. 3. Es sollte bei Tisch nicht nachgesalzen werden. 4. Alkohol sollte weitestgehend ausgeschalten werden. 5. Salzhaltige Fertiggerichte sollten gemieden werden. 6. Gepökelte Fleisch- und Räucherware sollte gemieden werden. 7. Bei normaler Kaliumzufuhr (2.000 bis 4.000 mg/Tag) in der Ernährung und ohne Hinweis auf einen Kaliummangel ist eine zusätzliche Kaliumsupplementation nicht notwendig.

Ausgehend unter anderem vom Rationalisierungsschema 2004 ist nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 1. Oktober 2008 nach dem aktuellen Stand der Ernährungsmedizin sowohl bei Diabetes mellitus als auch Hypertonie regelmäßig eine Vollkost angezeigt (S. 11).

Soweit Dr. B ..., im Gegensatz zu Dipl.-Med. S ..., mitteilte, dass die Diabetes-Mischkost kohlehydrat-, salz- und fettreduziert sein sollte, resultieren daraus gemessen an den im Rationalisierungsschema 2004 beschriebenen Kriterien keine Besonderheiten, die eine Krankenkost erfordern würde, die von der Regelempfehlung einer Vollkost abweichen würde. Insbesondere sind weder Ersatzprodukte noch -bestandteile notwendig noch weist die Klägerin eine Lebensmittelunverträglichkeit auf. Auch hat die Klägerin zu ihrem Ernährungsverhalten keine von der Vollkost abweichenden Besonderheiten mitgeteilt. Vielmehr entspricht die von ihr beschriebene Ernährungsweise den Empfehlungen im Rationalisierungsschema 2004.

Ein erhöhter Ernährungsbedarf kann nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1. Oktober 2008 im Einzelfall bei verzehrenden (konsumierenden) Erkrankungen mit erheblichen körperlichen Auswirkungen, wie zum Beispiel fortschreitendem/ fortgeschrittenen Krebsleiden, HIV/AIDS, Multipler Sklerose (degenerative Erkrankung des Zentralnervensystems) sowie schweren Verläufen entzündlicher Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa vorliegen. Gleiches gilt für andere Erkrankungen, die mit einer gestörten Nährstoffaufnahme oder Nährstoffverwertung (Malabsorption/Maldigestion) einhergehen (vgl. S. 12 der Empfehlungen 2008, S. 10 f. der Empfehlungen 2014). Bei Glutenunverträglichkeit und Niereninsuffizienz sind spezielle Kostformen einzuhalten, die einen erhöhten Aufwand für Ernährung bedingen (vgl. S. 12 f. der Empfehlungen 2008, S. 11 der Empfehlungen 2014). Da die Ernährung bei Mukoviszidose besonderen diätetischen Anforderungen, die einen erhöhten Ernährungsbedarf begründen, unterliegt, ist ein Mehrbedarf wegen des erhöhten Energiebedarfs in Kombination mit dem zusätzlichen Erfordernis der Zufuhr hochwertiger modifizierter Fette gegeben (vgl. S. 11 der Empfehlungen 2014). Bei der Klägerin liegt jedoch keine dieser Erkrankungen vor.

c) Die Ernährung mit einer sogenannten "Vollkost" bei Diabetes mellitus Typ I und II ist, wie das Bundessozialgericht bereits im Urteil vom 10. Mai 2011 entschieden hat, keine kostenaufwändige Ernährung im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II a. F ... Denn es handelt sich nicht um eine Krankenkost, auf die die Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 12 = juris, jeweils Rdnr. 25). Deshalb ist die Vollkost aus der Regelleistung zu bestreiten (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011, Rdnr. 25).

(1) Das Bundessozialgericht hat im Urteil vom 20. Februar 2014 ausgeführt, dass die Konkretisierung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II im Zusammenhang mit § 20 SGB II erfolgen muss (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O., Rdnr. 12, m. w. N.). § 20 SGB II umfasst die für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen und üblichen Bedarfslagen und Bedürfnisse des täglichen Lebens. Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II in der vom 1. August 2006 bis zum 2. Juni 2010 geltenden Fassung (vgl. Artikel 1 Nr. 1a des Gesetzes vom 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]; seit 3. Juni 2010: § 3 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB II; vgl. Artikel 3a Nr. 1 des Gesetzes vom 27. Mai 2010 [BGBl. I S. 671]) decken die nach dem SGB II vorgesehenen Leistungen den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Der notwendige Bedarf für Ernährung ist als ein Teil der Regelleistung (seit 1. Januar 2011: des Regelbedarfs) typisierend zuerkannt worden. Dabei wurde von der Deckung der laufenden Kosten eines typischen Leistungsberechtigten im Rahmen eines soziokulturellen Existenzminimums für eine ausreichende ausgewogene Ernährung im Sinne einer ausreichenden Zufuhr von Proteinen, Fetten, Kohlehydraten, Mineralstoffen und Vitaminen ausgegangen (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O., Rdnr. 13, m. w. N.). Damit gilt im Ergebnis eine Vollkosternährung als vom Regelbedarf gedeckt, weil es sich hierbei um eine ausgewogene Ernährungsweise handelt, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O., m. w. N.).

Das Bundessozialgericht hat weiter ausgeführt, dass § 20 SGB II keine im Einzelfall abweichende Bedarfsermittlung und -festsetzung zulässt. Deshalb soll nach § 21 SGB II für bestimmte, laufende, aufgrund besonderer Lebensumstände bestehende Bedarfe, die nicht (gegebenenfalls ausreichend) von der Regelleistung abgedeckt sind, Zugang zu zusätzlichen Leistungen eröffnet werden. Der Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen soll helfen, im Hinblick auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine Ernährung zu finanzieren, mit der der Verlauf einer (bestehenden) gesundheitlichen Beeinträchtigung durch Abmilderung von deren Folgen, Verhinderung oder Hinauszögern einer Verschlechterung oder deren (drohenden) Eintretens beeinflusst werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O., Rdnr. 15, m. w. N.).

Zusammenfassend hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass ausgehend von der Konkretisierung des Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung in Relation zum Regelbedarf eine Ernährung kostenaufwändiger im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II ist, die von dem im Regelbedarf umfassten typisierten Bedarf abweicht und von diesem nicht gedeckt ist. Da die Vollkosternährung vom Regelbedarf gedeckt ist, besteht eine kostenaufwändige Ernährung im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II grundsätzlich nur bei einer besonderen, von der Vollkost abweichenden Ernährung(sform) (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a. a. O., Rdnr. 19, m. w. N.).

Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Urteil vom 9. Februar 2010, das die Unvereinbarkeit der Regelungen über die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG zum Gegenstand hatte, auf die Empfehlungen des Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V bezogen und dies als einen Beleg dafür gewertet hat, dass die Regelleistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend erkannt werden könnten (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09BVerfGE 125, 175 ff. = SozR 4-4200 § 20 Nr. 12 = NJW 2010, 505 ff. = juris Rdnr. 152).

(2) Dass die Aufwendungen für die von der Klägerin benötigte Diabeteskost oder Diabetes-Mischkost aus dem Anteil für Ernährung, der in der Regelleistung enthalten war, gedeckt werden konnte, ergibt sich allerdings nicht aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, auf deren Grundlage sowohl bis zum 31. Dezember 2010 die pauschalierten Regelleistungen als auch ab 1. Januar 2011 die pauschalierten Regelbedarfe festgelegt worden sind (vgl. BT-Drs. 15/1516 S. 56; BT-Drs. 17/3404 S. 71 ff.)

Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ist eine amtliche Statistik über die Lebensverhältnisse privater Haushalte in Deutschland. Sie liefert unter anderem statistische Informationen über die Ausstattung mit Gebrauchsgütern, die Einkommens-, Vermögens- und Schuldensituation sowie die Konsumausgaben privater Haushalte. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wird alle fünf Jahre durchgeführt. Hinsichtlich des Erhebungsablaufs und -designs gliedert sie sich in vier Erhebungsteile. Im Teil Allgemeine Angaben werden neben den soziodemografischen und sozioökonomischen Grunddaten der Haushalte und Einzelpersonen, die Wohnsituation sowie die Ausstattung mit Gebrauchsgütern erfasst. Der Fragebogen Geld- und Sachvermögen umfasst Angaben zum Geld- und Immobilienvermögen sowie zu Konsumentenkredit- und Hypothekenschulden der Haushalte. Den dritten Erhebungsteil bildet das Haushaltsbuch, in dem die teilnehmenden Haushalte drei Monate lang (Quartalsanschreibung) alle ihre Einnahmen und Ausgaben registrieren. Den abschließenden Erhebungsteil stellt das Feinaufzeichnungsheft für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren dar (vgl. https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/Methoden/ Einkommens Verbrauchsstichprobe.html).

An keiner Stelle werden Daten erhoben, die Aussagen zulassen, in welchem Verhältnis Aufwendungen für Ernährung bei einem statistisch durchschnittlichen Verbrauchsverhalten zu Aufwendungen für eine besondere Kostform stehen. Dies gilt insbesondere für das Feinaufzeichnungsheft für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren (ein Formular dieses Heftes für die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 ist veröffentlicht unter https://www.stla.sachsen.de/download/Erhebungsboegen/2O EVS Feinauf.pdf). Für Eintragungen sind nur die Spalten "Tag", "Art der Ausgaben", "Menge (Gramm, Kilogramm, Liter, Stück)", "Betrag" mit Unterspalten für Euro und Cent sowie "Falls im Ausland getätigt: Land" vorgesehen. Angaben zur Beschaffenheit von gekauften Lebensmitteln wie zum Beispiel zur Gluten- oder Laktosefreiheit wurden nicht abgefragt. Es gab auch keine Spalte, in der entsprechende Angaben hätten optional eingetragen werden können.

(3) Dass eine Vollwerternährung aus dem Regelsatz gedeckt werden kann, ergibt sich aber aus den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 1. Oktober 2008. Dort wird auf die wissenschaftliche Ausarbeitung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. zum Thema Lebensmittelkosten im Rahmen einer vollwertigen Ernährung vom April 2008 Bezug genommen (S. 17 der Empfehlungen 2008). Der Deutsche Verein kommt zu dem Schluss, dass mit einem Ansatz von 4,52 EUR für Nahrungsmittel und Getränke (einschließlich Tabakwaren) der Regelsatz für Haushaltsvorstände und allein Lebende den Mindestaufwand für eine Vollkost deckt (S. 19 der Empfehlungen 2008). Diese Einschätzung wurde in den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 10. Dezember 2014 bestätigt (S. 8 der Empfehlungen 2014).

Die Empfehlungen betreffen allerdings nur den Regelfall. Ein krankheitsbedingt erhöhter Ernährungsbedarf kann deshalb nach den Empfehlungen bestehen, wenn im konkreten Einzelfall Besonderheiten gegeben sind. Dies ist hier nicht der Fall. Eine kohlehydratreduzierte, salzreduzierte und fettreduzierte Diabetes-Mischkost verursacht keine höheren Kosten, weil diese Nahrungsbestandteile nur reduziert werden sollen, nicht aber weggelassen und gegebenenfalls durch Ersatzprodukte ersetzt werden sollen oder müssen.

Auch leidet die Klägerin nach den Angaben von Dr. B. nicht an einer Lebensmittelunverträglichkeit (z. B. Gluten-, Laktose-, Fruktose- oder Histaminintolleranz), die einen Mehrbedarf begründen könnten (vgl. S. 8 ff. der Empfehlungen 2014).

d) Dass bei Diabetes Mellitus, wenn keine Besonderheiten vorliegen, kein Anspruch auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 21 Abs. 5 SGB II besteht, wird seit langem in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten (vgl. z. B. Sächs. LSG, Beschluss vom 27. August 2010 – L 3 AS 245/08 – juris Rdnr. 23 ff.; Sächs. LSG, Beschluss vom 15. Februar 2010 – L 3 AS 780/09 NZB – juris Rdnr. 26; Sächs. LSG, Beschluss vom 26. Februar 2009 – L 2 AS 152/07 – juris Rdnr. 33 ff.; Bay. LSG, Urteil vom 23. April 2009 – L 11 AS 124/08 – juris Rdnr. 30; Bay. LSG, Urteil vom 6. Juni 2011 – L 8 AS 770/10 – juris Rdnr. 22; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Oktober 2009 – L 12 AS 4179/08– juris Rdnr. 22 ff.; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Juni 2011 – L 19 AS 1023/11 B ER – FEVS 63, 371 ff. = juris Rdnr. 31; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Januar 2012 – L 19 AS 1747/11 B – juris Rdnr. 4; LSG Hamburg, Urteil vom 18. Juli 2011 – L 5 AS 83/11 – juris Rdnr. 25; LSG Hamburg, Urteil vom 19. März 2015 – L 4 AS 333/12 – juris Rdnr. 38; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. März 2016 – L 6 AS 403/14 – juris).

4. Die Klägerin kann sich vor dem Hintergrund, dass sie früher einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung zuerkannt bekommen hat, nicht auf Bestandsschutz berufen.

Der Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II setzt voraus, dass der Bedarf einer kostenaufwändigen Ernährung auf medizinischen Gründen beruht. Das Erfordernis der medizinischen Gründe bedingt, dass für die Prüfung eines Anspruches nach § 21 Abs. 5 SGB II auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abzustellen ist (in diesem Sinne: BSG, Urteil vom 22. November 2011 – B 4 AS 138/10 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 14 = juris, jeweils Rdnr. 21; BSG, Urteil vom 14. Februar 2013 – B 14 AS 48/12 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 15 = juris, jeweils Rdnr. 11). In den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe von 1997 (Kleine Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 48) war bei Diabetes mellitus Typ I und IIa eine Diabeteskost vorgesehen und daraus folgend eine Krankenkostzulage in Höhe von 100,00 EUR empfohlen worden. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGB II am 1. Januar 2005 wurde eine Krankenkostzulage in Höhe von 51,13 DM gewährt (vgl. Lang, in: Eicher/Spellbrink SGB II SGB II [2005], § 20 Rdnr. 65). Zu diesem Zeitpunkt war jedoch bereits umstritten, ob die Empfehlungen des Deutschen Vereins aus dem Jahr 1997 zur Ernährungsform bei Diabetes mellitus noch dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprachen (vgl. hierzu: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Juni 2006 – L 20 B 109/06 AS – juris Rdnr. 18 ff.; S. 3 der Empfehlungen 2008). Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge sah sich deshalb veranlasst, seine Empfehlungen zu überprüfen und – auch wegen des Inkrafttretens des SGB II – zu überarbeiten. Die Empfehlungen vom 1. Oktober 2008 mit den oben beschriebenen neuen Empfehlungen bei Diabetes mellitus waren das Ergebnis dieser Arbeiten. Da die Empfehlungen vom 1. Oktober 2008 den nunmehr aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergaben, durften die Empfehlungen von 1997 fortan bei der Prüfung eines Anspruches nach § 21 Abs. 5 SGB II nicht mehr herangezogen werden.

Eine von § 21 Abs. 5 SGB II abweichende Bestandsschutzregelung des Inhalts, dass ein einmal bewilligter Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bei unveränderter gesundheitlicher Beeinträchtigung unabhängig vom aktuellen – gegebenenfalls gegenüber einem früheren veränderten – wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu gewähren wäre, gibt es nicht. Ein Anspruch auf Bestandsschutz besteht auch nicht auf Grund verfassungsrechtlicher Vorgaben, insbesondere denen aus Artikel 1 Abs. 1 des GG in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 GG. Denn das Grundgesetz enthält nur ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 [Hartz IV-Regelsatz, Hartz IV-Gesetz] – BGBl I S. 2010, 193 = BVerfGE 125, 175 ff. = NJW 2010, 505 ff. = juris Rdnr. 133, m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann der Umfang dieses Anspruchs nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden, sondern hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab. Bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums kommt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs umfasst (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, a. a. O., Rdnr. 138, m. w. N.). Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn bei einem besonderen Anspruch im Gesamtkomplex der Gewährleistung des Existenzminimums, bei dem es auf das Vorliegen von Voraussetzungen aus einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin – wie vorliegend der Medizin – ankommt, gefordert wird, dass auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abzustellen ist.

5. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die geltend gemachten höheren Leistungen auch nicht auf Grund eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarfs.

Die gesetzliche Anspruchsgrundlage in § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II, nach der erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf erhalten, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht, ist im Falle der Klägerin nicht anwendbar. Denn die Regelung trat erst am 3. Juni 2010, mithin nach dem Ende des streitbefangenen Zeitraums, in Kraft (vgl. Artikel 3a Nr. 2 Buchst. b des Gesetzes vom 27. Mai 2010 [BGBl. I S. 671]).

Ein Anspruch besteht aber auch nicht auf der Grundlage von Nummer 3 des Tenors des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010. Danach hatte der Gesetzgeber bei der Neuregelung der Vorschriften über die Regelleistung einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten vorzusehen, der bisher nicht von den Leistungen nach §§ 20 ff. SGB II erfasst wurde, zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken war. Das Bundesverfassungsgericht ordnete bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber an, dass dieser Anspruch nach Maßgabe der Urteilsgründe unmittelbar aus Artikel 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 GG zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden konnte (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 [Hartz IV-Regelsatz, Hartz IV-Gesetz] – BGBl I S. 193 = BVerfGE 125, 175 ff. = NJW 2010, 505 ff.). Wegen des Rangverhältnisses greift dieser subsidiäre Anspruch aber nicht, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen einer anderen Anspruchsgrundlage, hier § 21 Abs. 5 SGB II, nicht vorliegen.

6. Schließlich kann die Klägerin keinen Anspruch aus einer entsprechenden Anwendung des § 73 SGB XII herleiten. Nach § 73 Satz 1 SGB XII können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Voraussetzung eines Anspruchs nach § 73 SGB XII war nach der Rechtsprechung der mit dem SGB II betrauten Senate des Bundessozialgerichtes eine besondere Bedarfslage, die eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist. Zugleich musste auch der Bereich der Grundrechtsausübung tangiert sein (vgl. die Nachweise bei BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R – SozR 4-4200 § 21 Nr. 12 = juris Rdnr. 35). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, weil es sich bei der Ernährung mit ausgewogener Mischkost oder sogenannter "Vollkost" um einen typischen, innerhalb des SGB II zu befriedigenden Bedarf handelt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011, a. a. O.).

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

V. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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