L 3 R 538/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 28 R 286/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 R 538/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 04. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2014 teilweise aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ausgehend vom Eintritt des Leistungsfalls am 09. November 2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01. Dezember 2016 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. 2. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu drei Vierteln zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1968 in der Türkei geborene und seit 1972 in Deutschland lebende Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung.

Eine Berufsausbildung zum Schlosser hat der Kläger abgebrochen und war zuletzt als Druckerassistent im Vierschichtsystem bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im September 2012 tätig. Krankengeld bezog der Kläger ab dem 18. Oktober 2012. Das Arbeitsverhältnis wurde im Jahr 2014 gekündigt. Nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes I am 27. August 2015 bezog der Kläger nach seinen eigenen Angaben keine Sozialleistungen oder anderweitiges Einkommen. Er gibt an, von seinen Kindern unterstützt zu werden; seine Ehefrau bezieht eine Erwerbsminderungsrente.

Der Kläger verfügt über einen GdB von 40.

Wegen Depressionen, Rückenschmerzen und Darmproblemen beantragte der Kläger am 13. Dezember 2012 bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte Befundberichte von dem Arzt K, V Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) vom 20. Februar 2013 sowie vom Facharzt für Orthopädie Dr. B vom 21. Januar 2014 ein. Des Weiteren veranlasste sie das nach ambulanter Untersuchung des Klägers vom 06. November 2013 erstellte medizinische Sachverständigengutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie – Sozialmedizin - Dr. med. U. G vom 26. November 2013. Darin gelangte die Gutachterin zu der Einschätzung, dass der Kläger, der an einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode, Panikstörung mit Vermeidungsverhalten, Rückenschmerzen und Verkrampfungen der Hände leide, in der Lage sei, körperlich mittelschwere Tätigkeiten – unter Vermeidung von Nachtschichten, Zeitdruck und gehobener Verantwortung für Personen und Sachen – mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Die Einholung eines orthopädischen Gutachtens wurde empfohlen.

Nach Einholung einer vom Facharzt für Allgemeinmedizin – Sozialmedizin – Dr. S verfassten prüfärztlichen Stellungnahme vom 28. Januar 2014, der die Einholung eines orthopädischen Gutachtens nicht für erforderlich hielt, da auf diesem Fachgebiet nur geringe Beeinträchtigungen beim Kläger vorlägen, lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 04. Februar 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2014 ab. Nach ihrer medizinischen Beurteilung könne der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Hiergegen hat der Kläger am 19. Mai 2014 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt und ergänzend vorgetragen hat, dass er nicht in der Lage sei, einen normalen Arbeitsplatz auszufüllen. Aufgrund seines Gesundheitszustandes sei ihm eine Rente zu bewilligen. Neben Schäden an der Wirbelsäule leide er an rheumatischer Versteifung der Hände. Hinzugetreten sei eine chronische Depression. Im Rahmen einer im Juni 2014 aufgrund chronischer Kopfschmerzen durchgeführten MRT-Untersuchung seien zwei Aneurysmen festgestellt worden. Am 03. Juli 2014 sei die operative Versorgung des ACom-Aneurysmas in mikrochirurgischer Technik (Clipping) erfolgreich durchgeführt und die jährliche Verlaufskontrolle eines weiteren, vergleichsweise kleineren, nicht operierten Aneurysmas (vgl. Epikrise der Charité vom 11. Juli 2014) empfohlen worden. Seit der Operation habe sich sein Gemütszustand erheblich verschlechtert, er leide an einem hirnorganischen Psychosyndrom (HOPS). Weiterhin hat der Kläger den MRT-Befund der LWS vom 28. Juli 2015 (Bandscheibenprotrusionen bis kleine -vorfälle bei L5/S1 und L4/L5 bei Spondylolisthesis L5 Meyerding Grad I) sowie ein Attest der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie B vom 10. November 2014 vorgelegt.

Das SG hat die schriftliche Aussage des arbeitsmarkt- und berufskundigen Sachverständigen M L vom 14. Februar 2000 aus dem Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Brandenburg zum Aktenzeichen L 1 RJ 213/97 und vom 21. Januar 2005 aus dem Verfahren vor dem LSG Brandenburg zum Aktenzeichen L 22 RJ 140/02 hinsichtlich der Tätigkeitsbeschreibung eines Pförtners und eines Versandfertigmachers beigezogen.

In medizinischer Hinsicht hat das SG zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt, so vom Facharzt für Allgemeinmedizin M. B vom 24. Februar 2015, von den Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie Drs. v H/ B vom 23. Februar 2015 (depressive Symptomatik habe sich nach Diagnostik und OP des Aneurysmas nochmals verschlechtert, ein weiteres ACI-Aneurysma sei nicht operativ versorgt worden und werde seitdem ständig kontrolliert, der Kläger sei nicht in der Lage, mindestens sechs Stunden körperlich leichte Tätigkeiten durchzuführen, er sei nicht belastbar, leide unter ständigen Kopfschmerzen und Konzentrations- sowie Antriebsstörungen), vom Arzt für Innere Medizin Dr. M vom 02. März 2015, vom Arzt K (V PIA) vom 16. März 2015 (der Kläger könne in einer schweren depressiven Episode keine auch nur körperlich leichten Arbeiten verrichten, eine Verschlechterung sei eingetreten) sowie von den Fachärzten für Orthopädie Dr. B/J vom 25. Februar 2015.

Vom 29. Oktober bis zum 10. November 2015 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung des I Krankenhauses B, Abteilung Naturheilkunde. Aufgrund des Todes seines Vaters in dieser Zeit führte die Therapie bei Kläger nicht zur gewünschten Stabilisierung des Gesundheitszustandes (vgl. Entlassungsbericht vom 10. November 2015).

Im Rahmen der Beweisaufnahme hat das SG sodann das nervenärztliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. M S vom 24. April 2016 veranlasst. Nach ambulanter Untersuchung des Klägers vom 08. April 2016 stellte der Sachverständige fest, dass der Kläger unter folgenden Gesundheitsstörungen leide: ängstlich-depressives Syndrom bei emotional instabiler Persönlichkeit, somatoforme Schmerzstörung bei körperlichen und psychischen Faktoren, chronische Spannungskopfschmerzen, Zustand nach Aneurysmaclipping vom 03. Juli 2014, chronische Lumbalgie und Lumboischialgie bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, beginnendes metabolisches Syndrom. Aufgrund dessen sei der Kläger in der Lage, körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere sowie geistig einfache bis mittelschwierige Tätigkeiten – unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen – sowie die Tätigkeit als Pförtner und im Prinzip auch als Versandfertigmacher mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Ängste des Klägers bei der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) seien mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar. Der Kläger fahre PKW und könne notwendige Fußwege zurücklegen. Ein weiteres Gutachten sei nicht erforderlich.

Mit Urteil vom 29. Juni 2016 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung habe. Er verfüge nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen des Gerichts, d. h. unter Würdigung der eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte und des medizinischen Sachverständigengutachtes des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. M S vom 24. April 2016, noch über ein Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten bei weiteren qualitativen Einschränkungen und könne damit mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, so z.B. als Pförtner, tätig sein.

Gegen das ihm am 04. Juli 2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 06. Juli 2016 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung hat er vorgetragen, über kein Leistungsvermögen mehr zu verfügen. Aufgrund der Hirnoperation und der immer noch wachsenden Zyste käme es bei ihm zu gehäuften motorischen Fehlhandlungen, auch zu Stürzen. Zudem leide er gegenwärtig an einer schweren Depression, weswegen er auch den Termin vor dem SG nicht habe wahrnehmen können. Er verfüge aufgrund des Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 27. Februar 2017 seit dem 01. Januar 2017 über den Pflegegrad 2 (aus dem Gutachten: vorher kein Pflegegrad, der Kläger benötige Hilfe beim Aufstehen von der Couch oder dem Stuhl bzw. aus dem Liegen zum nächtlichen Toilettengang - eine Toilettensitzerhöhung wurde dem Kläger bewilligt, Gehen sei ohne Hilfsmittel möglich, Gang langsam, bei der Begutachtung erschien der Kläger voll orientiert, antwortete klar, konnte zu allen Sachverhalten Auskunft geben, er sei meist gedrückter Stimmung aufgrund der chronischen Schmerzen, sei antriebsgemindert, müsse motiviert werden, Schwindel trete auf, häufig Kopfschmerzen, finde sich außerhalb des Wohnbereichs örtlich zurecht, benötige dabei jedoch Begleitung und Hilfe, auch im ÖPNV, vergesse aber Termine, müsse erinnert und zu Arztbesuchen und Therapien begleitet werden, beschäftige sich tagsüber mit Fernsehen, sonst interessenlos, Gespräche in größeren Gruppen würden ihn überfordern, halte Kontakt zur Familie, könne selbst Entscheidungen treffen und äußere Wünsche, psychisch wurden keine auffälligen Verhaltensweisen in die Bewertung eingestellt, das An- und Auskleiden des Unterkörpers erfolge überwiegend unselbstständig, die Kontaktpflege und Interaktion überwiegend selbstständig, das Einkaufen für den täglichen Bedarf, einfache Aufräum- und Reinigungsarbeiten sowie Wäschepflege erfolgten unselbstständig, das Zubereiten einfacher Mahlzeiten überwiegend unselbstständig, hingegen die Nutzung von Dienstleistungen, der Umgang mit finanziellen sowie Behördenangelegenheiten überwiegend selbstständig.). Im Hinblick darauf seien die Ausführungen des Sachverständigen Dr. S mit dem Pflegegutachten nicht in Übereinstimmung zu bringen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Cottbus vom 29. Juni 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 04. Februar 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das psychiatrisch-neurologische Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie M. S vom 11. Mai 2017 eingeholt. Der Sachverständige hat aufgrund persönlicher Untersuchung des Klägers vom 09. November 2016 bei diesem eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und physischen Faktoren, den Zustand nach Aneurysma-OP der ACI vom 03. Juli 2014, eine Änderung der Persönlichkeit bei langjähriger chronischer psychophysisch beeinträchtigender Krankheitsentwicklung sowie eine chronifizierte depressive Episode festgestellt. Der Kläger könne durch ärztliche Behandlung nicht aus der Fehlhaltung gelöst werden. Vor diesem Hintergrund sei der Kläger nicht in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten drei Stunden und mehr zu verrichten. Es bestehe eine sehr geringe psychische Belastbarkeit. Für den Weg zur Arbeitsstelle sei er auf eine Begleitperson angewiesen, da er nachvollziehbar angebe, bei öffentlichen Verkehrsmitteln Schweißausbrüche sowie Herzrasen zu erleiden, und der Kläger aufgrund von nicht zu verhindernden und die körperliche Integrität beeinflussenden Sturzereignissen erhebliche Angsterlebensweisen verinnerlicht habe. Gegen das Führen eines PKW bestünden gesundheitliche Bedenken, da die Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit des Klägers erheblich beeinträchtigt sein. Vielfältige psychiatrische Behandlungsmaßnahmen seien erfolgt und ausgeschöpft. Infolge der langjährigen Krankheitsentwicklung und der chronifizierten Krankheitsausprägung bestehe eine schwere Beeinträchtigung des qualitativen und quantitativen Leistungsvermögens. Das reduzierte Leistungsvermögen sei nach der Begutachtung durch Frau Dr. G, etwa zeitgleich mit dem Attest der Frau Dr. B vom November 2014 eingetreten.

Der Sachverständige Dr. S hat daraufhin in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 17. November 2017 mitgeteilt, dass die vom Sachverständigen S herausgestrichene Änderung der Persönlichkeit des Klägers infolge langjähriger chronischer psychischer Erkrankung nebst hirnorganischer Komponente zwar aus seiner Sicht nicht sicher ausgeschlossen werden könne. Die wesentliche Ursache für die festgestellten psychopathologischen Auffälligkeiten dürfte jedoch in einem reaktiven Geschehen mit Entwicklung einer Fehlhaltung zu suchen sein. Im Krankheitsverlauf sei es zu einer Chronifizierung der Schmerzstörung und auch der ängstlich-depressiven Symptomatik gekommen. Weiter hätte sich durch die Arbeitslosigkeit auch die soziale Situation des Klägers verschlechtert. Der Kläger werde von seiner Tochter und der Ehefrau versorgt, und es habe sich aus psychodynamischer Sicht eine so genannte Regression, d.h. ein Rückzug in Krankheit und Schmerz entwickelt, wobei der Kläger gedanklich auf seine körperlichen Beschwerden eingeengt und fixiert sei. Es bleibe letztlich bei dem gutachterlich eingeschätzt Leistungsvermögen. Die vom Kläger vorgebrachten Beschwerden einschließlich Antriebslosigkeit könnten durch eigene Anstrengung bzw. Willensanspannung, gegebenenfalls mit flankierender ärztlicher oder psychotherapeutischer Unterstützung, durchaus überwunden werden. Derzeit sei die Motivation des Klägers zur willentlichen Überwindung seiner Beschwerden nachvollziehbar als nur gering anzusehen, zumal sie aufgrund des bisherigen Chronifizierungsprozesses auch nicht durch eine einfache Verhaltensänderung überwunden werden könnten. Im konkreten Fall sei die Prognose sowohl für die chronische Schmerzstörung als auch die Chronifizierung der ängstlich-depressiven Symptomatik ungünstig, andererseits sei der Schweregrad der psychischen Störung als nicht außerordentlich ausgeprägt anzusehen. Insofern erscheine eine dahingehende Willensanspannungen zur Überwindung der seelischen Störung als zumutbar und eine Besserung der psychischen Störungen durchaus möglich.

Der Senat hat den Versicherungsverlauf des Klägers vom 29. Dezember 2017 von der Beklagten angefordert.

In seiner weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 27. Januar 2018 zum Pflegegutachten des MDK hat der Sachverständige Dr. S keine über die in seinem Gutachten vom 24. April 2016 aufgeführten Erkrankungen hinausgehenden Gesundheitsstörungen feststellen können.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts einschließlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise begründet.

Das Urteil des SG Cottbus vom 29. Juni 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 04. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2014 sind teilweise rechtswidrig, soweit sie einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 01. Dezember 2016 – bezogen auf einen Leistungsfall am 09. November 2016 - abgelehnt haben. Im Übrigen, soweit der Anspruch auch für einen früheren Leistungsfall geltend gemacht wurde, sind Urteil und Bescheide nicht zu beanstanden, daher die Berufung in diesem Umfang unbegründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls am 09. November 2016. Hierfür sind die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI erfüllt.

Nach § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch behinderte Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist dagegen nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage insoweit nicht zu berücksichtigen ist.

Dies zugrunde gelegt steht das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 des SGG zur Überzeugung des Senats mit einem Leistungsfall am 09. November 2016 fest. Denn der Kläger ist - mit dem erforderlichen Beweismaßstab des Vollbeweises - zumindest ab diesem Zeitpunkt angesichts der bei ihm festgestellten Leiden und unter Beachtung der daraus folgenden qualitativen Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Nach dem Gutachten des Sachverständigen M. S vom 11. Mai 2017, dem die persönliche und ambulante Untersuchung des Klägers vom 09. November 2016 vorausging, leidet der Kläger an den ihn psychisch und physisch erheblich beeinträchtigenden Auswirkungen einer chronischen Schmerzstörung, an einem angstbesetzten Zustand nach Aneurysma-OP der ACI vom 03. Juli 2014, einer Änderung der Persönlichkeit bei langjähriger chronischer, psychophysisch beeinträchtigender Krankheitsentwicklung und kombiniert mit den Auswirkungen einer chronifizierten depressiven Episode. Der Sachverständige hat an Befunden festgehalten, dass der formale Gedankengang bedächtig und verlangsamt war, aber geordnet und ohne inhaltliche Denkstörungen, paranoide Erlebnisweisen sowie Ich-und/oder Wahrnehmungsstörungen. Der Sachverständige S hat weiterhin aufgrund der ambulanten Untersuchung beim Kläger eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten, insbesondere des Konzentrationsvermögens und der konzentrativen Belastbarkeit, anhaltende Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit, starren Affekt - begleitet von mittelgradiger depressiver Stimmung - bei erheblicher Antriebsarmut festgestellt.

Der Senat folgt der Einschätzung des Sachverständigen, dass durch den beim Kläger eingetretenen chronifizierten Krankheitsverlauf die Fähigkeit, den Alltag zielführend, strukturiert und mit einer zeitlichen Dichte und Abstimmung zu gestalten, schwer beeinträchtigt ist. Dies wird anhand des vom Sachverständigen in seinem Gutachten dokumentierten Tagesablaufs des Klägers hinreichend deutlich.

Zudem besteht beim Kläger eine Beeinträchtigung der Persönlichkeit mit impulsiven und nicht situationsangemessenen Reaktions- und Verhaltensweisen sowie einer wesentlichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit. Begleitend bestehen die Auswirkungen einer chronifizierten depressiven Erkrankung mit einer Adynamie, Antriebsarmut, einer Störung des Schlafes und begleitet von Ängsten, die aktuelle Lebenssituation und die zukünftig zu erwartenden Lebensumstände betreffend. Die das komplexe Krankheitsbild des Klägers zusätzlich komplizierend gestaltende chronische Schmerzstörung, die nur zum Teil organisch, überwiegend psychosomatisch bedingt ist, ist nicht der bewussten Willensbildung des Klägers zugänglich. Die daraus abgeleitete Bewertung des Sachverständigen S, dass der Kläger nur über eine sehr geringe psychische Belastbarkeit verfügt, ist für den Senat nachvollziehbar. Dies insbesondere auch deshalb, weil medikamentöse, ambulante und stationäre Maßnahmen ausgeschöpft wurden und keine dauerhafte Verbesserung des physischen und psychischen Gesundheitszustandes für den Kläger erbracht haben: medikamentös ist der Kläger auf Cymbalta (1 bis 2 mal täglich 60 mg) eingestellt, seit Juni 2008 ist er wegen seiner psychischen Erkrankung in Behandlung der psychiatrischen Institutsambulanz des V Klinikums W, wo er zumindest seit ca. 2012 regelmäßig in zwei-wöchentlichem Abstand psychotherapeutische Behandlungstermine wahrnimmt. Zudem befindet er sich seit 2014 in psychiatrischer Behandlung bei Frau Dr. B, nimmt regelmäßig physiotherapeutische Maßnahme in Anspruch und konnte auch durch die im Herbst 2015 im I Krankenhaus in B erfolgte stationäre Behandlung nur eine kurzzeitige Verbesserung erzielen. Das Führen eines PKW hat er seit 2012 aufgegeben.

Zusätzlich ist der Kläger durch die der Aneurysma-OP nachfolgenden, zum Teil auch durch mehrfache Sturzerlebnisse ausgelösten Angsterlebnisweisen mit erheblicher Intensität beeinträchtigt (Schweißausbrüche sowie Herzrasen). Infolge dessen ist der Kläger nicht in der Lage, seine Wohnung ohne Begleitung im größeren Radius (mehr als 500 m) zu verlassen, was auch die regelmäßige Begleitung durch seine Tochter zu allen ärztlichen und therapeutischen Maßnahmen erforderlich macht. Zwar ist dem Sachverständigen S zuzugestehen, dass diese Angaben nicht zu objektivieren sind, wie es auch der Sachverständige Dr. S angemerkt hat. Jedoch sieht es der Senat mit den von beiden Sachverständigen getroffenen Feststellungen zum chronifizierten Krankheitsbild und auch aufgrund des vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks als erwiesen an, dass er dieser räumlichen Einschränkung und damit einer fehlenden Wegefähigkeit unterliegt, was gleichfalls dessen volle Erwerbsminderung zur Folge hat. Denn in der Regel ist auch derjenige erwerbsgemindert, welcher selbst unter Verwendung von Hilfsmitteln, zum Beispiel von Gehstützen, nicht in der Lage ist, täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als fünfhundert Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991, - 13/5 RJ 73/90 -, zitiert nach juris Rn. 19).

Der Senat vermag dem Sachverständigen S zum Zeitpunkt des Leistungsfalles insoweit zu folgen, als dieser schlüssig dargelegt hat, dass das reduzierte Leistungsvermögen zeitlich nach der ambulanten Untersuchung im Rahmen der Begutachtung durch Frau Dr. G, also nach dem 06. November 2013, eingetreten sein muss. Allerdings sieht der Senat den Leistungsfall nicht bereits zeitgleich mit dem Attest der Frau Dr. B-B vom November 2014 als vollbeweislich gesichert an. Hiergegen spricht bereits das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. S vom 24. April 2016, der seinerzeit ein aufgehobenes Leistungsvermögen beim Kläger (noch) nicht feststellen konnte. Erstmals wurden ein auf unter drei Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen und fehlende Wegefähigkeit aufgrund der bei der ambulanten Begutachtung des Klägers durch den Sachverständigen Sam 09. November 2016 erhobenen Befunde dokumentiert und sind - darauf gestützt- für den Senat nachvollziehbar.

Der Leistungseinschätzung des im erstinstanzlichen Verfahren beauftragten Sachverständigen Dr. S im Gutachten vom 24. April 2016 nebst den ergänzenden Stellungnahmen vom 17. November 2017 und vom 27. Januar 2018 vermag der Senat im Ergebnis nicht zu folgen. Zum einen hält es Dr. S – in seiner ergänzenden Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen S - zumindest ebenfalls für möglich, dass beim Kläger aufgrund der Aneurysma-OP auch eine hirnorganische Komponente mit Persönlichkeitsveränderung für die psychischen Störungen verantwortlich ist und benennt auch beim Kläger anzutreffende Symptome dafür, wie z. B. andauernde und unflexible Muster im Erleben, passive Grundhaltung, vermindertes Interesse mit Vernachlässigung früherer Freizeitaktivitäten. Letztlich setzt sich Dr. S selbst in Widerspruch zu seinem eigenen Gutachten, indem er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 17. November 2017 – wiederum mit dem Sachverständigen S – davon ausgeht, dass die beim Kläger vorliegenden psychischen Störungen nur schlecht oder nicht beeinflusst werden können, aber im selben Text postuliert, dass die vom Kläger vorgebrachten Beschwerden in Form von Ängsten und Antriebslosigkeit durch eigene Anstrengungen des Klägers, ggf. flankierende ärztliche und psychotherapeutische Unterstützung, durchaus überwunden werden könnten. Gänzlich außer Betracht lässt er hierbei die bereits seit vielen Jahren mehr oder weniger erfolglos mit dem Kläger durchgeführten medikamentösen, ambulanten und stationären Behandlungsmaßnahmen, womit seiner Einschätzung die Grundlage entzogen ist.

Der Kläger erfüllt auch die sonstigen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 SGB VI.

Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ist für einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung als weitere Voraussetzung erforderlich, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat (Nr. 3). Ausweislich des Versicherungsverlaufs des Klägers vom 29. Dezember 2017 hat dieser sowohl die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren an Beitragszeiten (§§ 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 51 Abs. 1, 55 SGB VI) als auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, da in der Zeit vom 09. November 2011 bis zum 08. November 2016 mehr als 36 Kalendermonate an Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung (§§ 55 Abs. 1 und 2 SGB VI) nachgewiesen sind.

Der Rentenbeginn bestimmt sich nach § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache, wonach der Kläger letztlich nur mit einem, jedoch dem überwiegenden Teil seines ursprünglichen Klagebegehrens Erfolg hatte.

Die Revision ist mangels Zulassungsgrundes gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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