L 5 V 790/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 790/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine absichtlich erfolgte Selbsttötung schließt den Anspruch auf Verfolgung aus.
2. Der Verdacht, an einer Straftat beteiligt zu sein, ist kein schädigungsbedingter Tatbestand im Sinne des § 1 BVG.
3. Für den Nachweis des Ausschlusses der freien Willensbestimmung durch wehrmachtsbedingte Krankheiten und Belastungen müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Juli 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin ist die Witwe des 1890 geborenen und am 4. August 1942 durch Selbsttötung verschiedenen Hauptmanns F. F. Sch. de G. Aus den KB-Akten der Landesversicherungsanstalt H. ergibt sich, das ihr mit Bescheid vom 20. November 1942 aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes ein Sterbegeld gewährt worden ist. Hinterbliebenenrente wurde dagegen mit Bescheid von 7. Juni 1943 abgelehnt, weil nach dem Gutachten des beratenden Psychiaters beim Wehrkreisarzt IX sich die Selbsttötung mit größter Wahrscheinlichkeit als Flucht vor der Verantwortung für eine strafbare Handlung darstelle und deshalb mit dem Wehrdienst nicht im ursächlichen Zusammenhang stehe. Anhaltspunkte für eine geistige Erkrankung lägen jedenfalls nicht vor. Die Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde am 22. Oktober 1943 durch endgültigen Verwaltungsakt zurückgewiesen. Eine Eingabe an den damaligen Reichsarbeitsminister war erfolglos.

Am 31. August 1950 stellte die Klägerin Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente nach dem Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG), der mit Bescheid vom 18. Dezember 1950 unter Bezugnahme auf den bindenden Vorbescheid zurückgewiesen wurde.

Erneut beantragte die Klägerin im März 1965 Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie trug vor, daß die Gründe des Freitodes ihres Ehemannes nicht bekanntgeworden seien.

Auf Grund der beigezogenen Akten des Bundesarchivs Kornelimünster über diesen äußerte sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. für den Beklagten dahingehend das dessen Tod mit Einflüssen und Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes nicht in einem erkennbar ursächlichen Zusammenhang gestanden habe. Gegen den Ehemann der Klägerin habe der Verdacht bestanden, an Lebensmittelschiebungen beteiligt gewesen zu sein, so daß die Vermutung naheliege, er sei aus Angst vor dem drohenden Strafverfahren freiwillig aus dem Leben geschieden. Der Beklagte hörte noch den Zeugen J. B., dem über die Ursachen des Selbstmordes nichts bekannt war. Der Versuch einer weiteren Sachaufklärung blieb erfolglos. Im Verlauf des Verwaltungsverfahrens ließ die Klägerin ferner vortragen, daß ihr Ehemann sich im ersten Weltkrieg eine Malariaerkrankung zugezogen habe. Seine Selbsttötung könne Folge dieser Krankheit sein. Hierzu äußerte sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. in seiner Stellungnahme vom 1. April 1968. Er vertrat die Auffassung, daß cerebrale Schäden nach Malaria äußerst selten seien. Im vorliegenden Falle habe erkennbar auch keine schwere Wesensveränderung vorgelegen, so daß diese Krankheit als Ursache der Selbsttötung ausscheide. Nachdem der Hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen die Zustimmung zur Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung versagt hatte, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Mai 1968 den Antrag ab, weil die Voraussetzungen der Verwaltungsvorschrift Nr. 11 zu § 1 BVG nicht erfüllt seien. Die freie Willensbestimmung des Ehemannes der Klägerin sei zur Zeit der Tat nicht durch Tatbestände des § 1 BVG ausgeschlossen gewesen.

Der Widerspruch blieb erfolglos und wurde mit Bescheid vom 9. Januar 1969 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß Anhaltspunkte für eine geistige Erkrankung des Verstorbenen nicht vorgelegen hätten. Der Beweggrund der Selbsttötung sei in dem drohenden Strafverfahren zu erblicken. Wehrdiensteigentümliche Einflüsse, die zum Ausschluß der freien Willensbestimmung hätten führen können, lägen nach dem Ergebnis der angestellten Ermittlungen und den vorhandenen Unterlagen nicht vor.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt/Main hat die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und neu vorgetragen, daß sich ihr Ehemann infolge Überforderung im Dienst mit häufigem Schlafentzug in einem sehr schlechten Gesundheitszustand befunden habe, der die Selbsttötung erkläre. Bei seinen Kameraden sei er stets sehr beliebt gewesen, wie sich aus den von ihr überreichten Briefen und Unterlagen ergebe.

Mit Urteil vom 23. Juli 1970 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Selbsttötung sei absichtlich erfolgt. Demzufolge liege ein Tatbestand nach § 1 Abs. 4 BVG vor. Die freie Willensbestimmung sei nach den vorliegenden Unterlagen des Bundesarchivs Kornelimünster im Zeitpunkt der Tat nicht ausgeschlossen gewesen. Dies beweise der Umstand, daß der Ehemann der Klägerin den Besitz einer Waffe verschwiegen habe. Außerdem habe er nach kurz vor seinem Tod ein Testament verfaßt und einen Abschiedsbrief an seine Ehefrau geschrieben. Nach allem müsse angenommen werden, daß der Verdacht, an Lebensmittelschiebungen beteiligt gewesen zu sein, für ihn unerträglich gewesen sei. Hierin sei die Ursache der Selbsttötung zu suchen, jedoch habe dieser Umstand mit Einflüssen des Wehrdienstes nichts zu tun. Die im ersten Weltkrieg durch gemachte Malariaerkrankung scheide nach der überzeugenden Auffassung des Dr. H. als Ursache aus. Das gleiche müsse auch für den behaupteten Schlafentzug gelten. Selbst wenn sich der Verdacht der Lebensmittelschiebungen als unbegründet herausgestellt haben sollte, sei dies ohne rechtliche Bedeutung.

Gegen das am 31. Juli 1970 zur Zustellung gegebene Urteil richtet sich die von der Klägerin fristgerecht am 1. September 1970 eingelegte Berufung. Sie nimmt auf ihre Begründung im Vorverfahren und in der ersten Instanz Bezug.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 23. Juli 1970 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Mai 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1969 zu verurteilen, Hinterbliebenenrente ab Antragstellung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur mündlichen Verhandlung am 25. Februar 1971 war die Klägerin weder erschienen noch vertreten.

Die Witwenakten und die KB-Akten des Versorgungsamtes Frankfurt/Main sowie die Unterlagen des Bundesarchivs in K.-M. haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt sowie auf den der Gerichtsakten beider Instanzen wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, über die der Senat auf Antrag des Beklagten gemäß § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Lage der Akten entscheiden konnte, ist zulässig; sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden, (§§ 143, 151 Abs. 1 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 21. Mai 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1969 ist nicht rechtswidrig.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung, da die Voraussetzungen des § 38 in Verbindung mit § 1 BVG nicht vorliegen. Denn nach § 1 Abs. 4 BVG gilt eine von dem Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung nicht als solche im Sinne dieses Gesetzes. Eine Selbsttötung ist nur dann nicht als absichtlich herbeigeführte Schädigung anzusehen, wenn eine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung durch Tatbestände im Sinne des § 1 BVG wahrscheinlich ist (Nr. 11 der Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 1 BVG). Daß die Willensbestimmung des Ehemannes der Klägerin durch solche Fakten beeinträchtigt gewesen ist, ist jedoch weder erwiesen noch hinreichend wahrscheinlich. Das hat das frühere Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamt in seinem Bescheid vom 7. Juni 1943 bereits zutreffend angenommen. Durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Selbstmordfällen hat sich hieran nichts geändert. Zwar ist in dem Urteil vom 11.11.1959 (Az.: 11/9 RV-290/57) ausgeführt werden, daß es nicht mehr allein auf die objektive Belastung eines Soldaten, sondern auch auf seine subjektive Belastbarkeit ankomme, um zu einem rechtlich umfassenden Ergebnis zu kommen. Die Anwendung dieser Gedankengänge führt vorliegend indessen zu keinem anderen Ergebnis. Denn es ist nach wie vor zunächst zu fragen, ob ein Freitod mit wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen in Zusammenhang gebracht werden kann. Bereits daran mangelt es jedoch vorliegend. Der Verdacht, an Lebensmittelschiebungen größeren Umfanges beteiligt gewesen zu sein, ist seiner Natur nach kein wehrmachtsspezifischer Tatbestand. Handlungen dieser Art waren für Zivilisten mindestens ebenso strafbar, zumal wenn die verschärften kriegsbedingten Strafbestimmungen in Betracht gezogen werden. Einschlägige Verdachtsmomente hätten gleichfalls zu Vernehmungen und zur vorläufigen Festnahme geführt. Hieraus folgt, daß ein wehrdienstbedingter Einfluß auf die freie Willensbestimmung des Ehemannes der Klägerin als Ausgangspunkt der Kausalkette schon nicht vorhanden ist, wobei ohne wesentliche rechtliche Bedeutung bleibt, ob sich später etwa herausgestellt hat oder hätte, daß er an Lebensmittelschiebungen tatsächlich unbeteiligt gewesen war. Denn auch die Wehrmachtsbehörde hatte als autonome Rechtsträgerin ebenso wie der Staat die Berechtigung, zunächst alle erforderlich scheinenden Schritte zu unternehmen, um dem Verdacht einer strafbaren Handlung nachzugehen und die zugrundeliegenden Tatsachen zu klären.

Darüber hinaus kann der Klägerin aber auch nicht gefolgt werden, wenn sie Momente objektiver Überbelastung und subjektiver Minderbelastbarkeit in den Vordergrund schiebt, um bei ihrem Ehemann im Zeitpunkt der Suicidhandlung einen Zustand des Ausschlusses der freien Willensbestimmung zu belegen. Dagegen spricht einmal schon sein Verhalten bei und nach der Vernehmung bis zum Einschluß in das Arrestzimmer, wie es sich aktenkundig darstellt. Denn er hat nichts zu erkennen gegeben, was für eine besonders erregte oder depressive Gemütsverfassung Anhaltspunkte gäbe. Ganz im Gegenteil hat er darauf hingewiesen, man brauche keine Angst zu haben, daß er sich etwas antue, als man seinen Dolch einbehielt, hat die Frage nach dem Besitz einer Pistole verneint, sich Literatur und Zigaretten geben lassen und um Verständigung seiner Ehefrau gebeten. Das alles spricht einmal für eins völlig normale geistige Verfassung und zum andern für einen vorbedachten Plan zur Selbsttötung, da der Ehemann der Klägerin gewußt haben muß, daß sich in seinem Mantel die –verleugnete– Waffe befand, deren er sich bedienen wollte und bedient hat.

Auch in dem Arrestzimmer kann sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine akute geistige Verwirrung mit Ausschluß der freien Willensbestimmung eingestellt haben. Anderenfalls wäre unerklärlich, wie es zu der klaren Testamentsbestimmung und weiter noch zu einem Abschiedsbrief gekommen ist, der sowohl in Schrift als auch in Wortwahl völlige Selbstbeherrschung und Übersicht über die Situation erkennen läßt. Daß der Ehemann der Klägerin in diesem Brief um Verzeihung bittet, weil er oft nicht nett gewesen sei, was auf seine Nerven zurückzuführen sei, beweist das Gegenteil keinesfalls, sondern läßt gerade darauf schließen, daß er sich geistige Klarheit bewahrt hatte und sich seines Wesens und seiner Handlungsweisen bewußt war. Seine Tat stellt sich in Wertung sämtlicher vorhandenen Unterlagen allein als vorsätzlich ausgeführt dar, um weiteren wehrmachtsamtlichen Nachforschungen mit dem Ergebnis einer eventuellen Bestrafung wegen Beteiligung an Lebensmittelschiebungen zu entgehen. Damit ist aber der Tatbestand des § 1 Abs. 4 BVG erfüllt, der die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung an die Klägerin ausschließt.

Ihrer weiteren Einlassung, ihr Ehemann sei durch besonders anstrengenden Dienst mit Schlafentzug und ohne ausreichenden Urlaub sowie durch die Folgen einer im ersten Weltkrieg durchgemachten Malariaerkrankung in einen Zustand geistiger Verwirrung geraten, der den Selbstmord veranlasst habe, ist nicht zu folgen. Denn Dr. H. hat sich zu beiden Punkten überzeugend gegenteilig geäußert, wobei er sich hinsichtlich des ersteren mit dem Psychiater in Übereinstimmung befindet, der nach der Tat eine Begutachtung vorgenommen hat. Der Senat hatte keinen Anlaß, an der Richtigkeit dieser ärztlichen Auffassung zu zweifeln. Denn eine cerebrale Schädigung nach Malaria ist so selten, daß sie hier ohne einschlägige konkrete Anhaltspunkte nicht unterstellt werden kann. Der Ehemann der Klägerin hätte dann in nervlicher Hinsicht schon massiv auffällig gewesen sein müssen. Das war aber offenbar zumindest während seiner Dienstausübung nie der Fall, da er bei seinen Kameraden sehr beliebt gewesen war. Eheliche Streitigkeiten mit der Klägerin, wie sie in seinem Abschiedsbrief anklingen, besagen in dieser Richtung zu wenig, ebenso eine Gereiztheit, welche von Verwandten im letzten Jahr vor seinem Tode bemerkt worden sein soll. Denn ein Leben als Soldat im Kriege außerhalb des gewohnten häuslichen Bereiche bedeutete für jeden eine Belastung, die je nach Veranlagung und Einsicht verarbeitet werden konnte und mußte und ggfs. neue Wesenseigentümlichkeiten im Gefolge hatte. Da der Ehemann der Klägerin die Malaria bereits im ersten Weltkrieg durchgemacht hatte, hätten bei ihm abgesehen davon cerebrale Störungen jedenfalls schon vor seiner Einberufung im zweiten Weltkrieg sichtbar werden müssen, wenn sie tatsächlich vorgelegen hätten. Dafür ist jedoch nichts vorgetragen worden oder aus den Akten ersichtlich. Da er als Reserveoffizier ab Sommer 1940 zunächst in der Heimat und alsdann in Fronthinterland in L. Dienst getan hat, kann von einer besonderen Stress-Situation nervenzerrüttender Art auch nicht gesprochen werden. Zwar mag die Tätigkeit als Flugplatzkommandant verantwortungsvoll und in zeitlicher Hinsicht anstrengend gewesen sein. Sie war jedoch keinesfalls mit dem Dienst an der Front zu vergleichen, den er im zweiten Weltkrieg nicht zu leisten gehabt hatte. Die Annahme einer Einschränkung der freien Willenstätigkeit mit der Folge des Selbstmordes durch Schlafentzug und Überanstrengung ist deshalb zu weit hergeholt, so daß sie der Urteilsbildung des Senats nicht zugrundegelegt werden konnte.

Nach alledem war der Berufung der Erfolg mit der Kostenfolge aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG– zu versagen.
Rechtskraft
Aus
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