S 62 AS 1701/06

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
62
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 62 AS 1701/06
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. 3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist eine Sanktion nach § 31 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 1. Juni 2006 bis 31. August 2006 in Höhe von 30 vom Hundert der Regelleistung.

Der 1965 geborene Kläger bezieht seit 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II. Die Beklagte wies ihm mit Rechtsfolgenbelehrung eine Maßnahme nach § 37 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) zu (Betreuung durch die M. Partner GmbH als beauftragtem Dritten). Der Kläger begann diese Maßnahme, die vom 7. Oktober 2005 bis 6. Oktober 2006 dauern sollte. Aufgrund der Zuweisung und des am 11. Oktober 2005 durch die M. Partner GmbH erstellten Profilings wurde mit dem Kläger eine Integrationsstrategie entwickelt und ein Folgetermin für den 9. Dezember 2005 vereinbart.

Durch Schreiben des Klägers vom 5. Dezember 2005, eingegangen bei der Beklagten am 9. Dezember 2005, erklärte dieser: "Hiermit kündige ich die eventuell bestehende Vertragsbindung mit der Firma M. Partner GmbH fristlos; ich bitte um Ersatz. Unter konstruktiver Beratung verstehe ich etwas anderes."

Hierauf reagierte die Beklagte zunächst mit einem Schreiben an den Kläger vom 14. Dezember 2005, in dem sie ausführte, der dargestellte Sachverhalt rechtfertige eine Beendigung der Betreuung durch die M. Partner GmbH nicht. Es seien weiterhin vereinbarte Termine bei der M. Partner GmbH wahrzunehmen. Die Beklagte verwies zudem auf die erfolgte Belehrung über die Rechtsfolgen der Nichtwahrnehmung von Terminen.

Weitere Termine fanden nicht statt. Die M. Partner GmbH bot dem Kläger keine weiteren an, der Kläger fragte nach weiteren Terminen nicht nach.

Mit Schreiben vom 24. März 2006 hörte die Beklagte den Kläger wegen eines in Aussicht genommen Sanktionsbescheides an; er habe die Maßnahme zur Eingliederung (§ 37 Abs. 1 SGB III) bei der M. Partner GmbH abgebrochen, denn er sei zu den Terminen ab 9. Dezember 2005 ohne Angaben von Gründen dort nicht mehr erschienen. Der Kläger äußerte sich hierauf nicht.

Durch Sanktionsbescheid vom 8. Mai 2006 stellte die Beklagte die Absenkung des Arbeitslosengeldes II für die Zeit vom 1. Juni 2006 bis 31. August 2006 um 30 vom Hundert der Regelleistung (103,50 EUR) unter Aufhebung der ursprünglichen Bewilligungsentscheidung fest, weil der Kläger trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nach § 37 SGB III bei der M. Partner GmbH abgebrochen habe. Gründe, die dieses Verhalten erklärten und als wichtig im Sinne des § 31 SGB II anerkannt werden könnten, seien trotz der Aufforderung vom 24. März 2006 nicht angegeben und nachgewiesen worden.

Hiergegen erhob der Kläger am 29. Mai 2006 Widerspruch und trug vor, die M. Partner GmbH habe seine damalige Kündigung ohne Reaktion angenommen. Die Beklagte habe ihn mit Schreiben vom 14. Dezember 2005 darauf hingewiesen, er habe weiterhin vereinbarte Termine wahrzunehmen. Solche seien ihm jedoch nie gegeben worden.

Durch Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gestützt auf § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II hielt sie an der Sanktion fest und sah den Kläger für verpflichtet gewesen an, anstatt gleich den Weg einer Kündigung zunächst ein Gespräch mit der M. Partner GmbH zu suchen, um ggf. andere und weitere Ergebnisse herauszuarbeiten.

Gegen den Bescheid vom 8. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 hat der Kläger am 28. Juli 2006 Klage erhoben. Mit dieser trägt er unter anderem vor, er bestreite, verpflichtet gewesen zu sein, sich weitere Termine von der M. Partner GmbH nach dem 14. Dezember 2005 zu holen. Vielmehr habe das Nichtreagieren der M. Partner GmbH nahe gelegt, seine Kündigung sei von deren Seite akzeptiert worden.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 8. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihren Widerspruchsbescheid und eine Stellungnahme des JobCenters vom 1. August 2006.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung der Kammer gemachten Prozessakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben.

Sie ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er ist aufzuheben. Die Beklagte hat die aufgrund des Sanktionsbescheides nicht erbrachten Leistungen in Höhe von 103,50 EUR für die Monate Juni bis August 2006 an den Kläger auszukehren.

Zwar liegt ein Sanktionssachverhalt nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II vor. Danach wird unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 SGB II das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn dieser trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit abgebrochen hat. Das gilt nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige einen wichtigen Grund für sein Verhalten nachweist.

Vorliegend befand sich der Kläger aufgrund der Zuweisung und seiner Unterzeichnung der erforderlichen Erklärungen auf der Informationsveranstaltung am 6. Oktober 2005 seit 7. Oktober 2005 in einer Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit, mit deren Durchführung die M. Partner GmbH beauftragt war. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, an deren Eignung und Zumutbarkeit zu zweifeln. Diese Maßnahme brach der Kläger ab, indem er die Teilnahme an ihr schriftlich aufkündigte. Sein Kündigungsschreiben vom 5. Dezember 2005 und das Unterlassen jeder Kontaktaufnahme mit der M. Partner GmbH nach dem Schreiben der Beklagten vom 14. Dezember 2005 lassen einen anderen Schluss als den des dem Kläger zuzurechnenden Abbruchs der Maßnahme zur Überzeugung der Kammer nicht zu. Über die Rechtsfolgen des Abbruchs einer zumutbaren Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit war der Kläger vorher belehrt. Am 6. Oktober 2005 unterschrieb er die entsprechende Belehrung. Einen wichtigen Grund für seinen Abbruch hat er zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen. Hierfür ist unerheblich, ob er sich durch die M. Partner GmbH schlecht betreut fühlte. Selbst eine tatsächliche schlechte Betreuung würde nicht die sofortige Kündigung gerechtfertigt haben; vielmehr wäre der Kläger auch in diesem Fall zunächst verpflichtet gewesen, seinen Teil beizutragen, um zu einer Verbesserung der Betreuung zu gelangen. Anhaltspunkte dafür, dass ihm dies nicht zumutbar oder nicht möglich war, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Dennoch ist die Feststellung der Absenkung des Arbeitslosengeldes II vorliegend rechtswidrig und der Bescheid vom 8. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 deshalb aufzuheben. Denn der diesen Bescheiden zugrunde liegende Sanktionssachverhalt war bereits durch das Kündigungsschreiben des Klägers vom 5. Dezember 2005 eingetreten und der Beklagten seit 9. Dezember 2005 bekannt; bekannt war ihr noch im Dezember 2005 auch, dass der Kläger nach dem Schreiben der Beklagten vom 14. Dezember 2005 die Korrektur seines Verhaltens durch eine Kontaktaufnahme mit der M. Partner GmbH unterließ. Die hieran anknüpfende Sanktion für die Zeit erst ab 1. Juni 2006 erfolgte zu spät.

Ungeschriebene Rechtmäßigkeitsvoraussetzung einer Sanktion ist, dass sie in einem engen zeitlichen Zusammenhang dem Bekanntwerden des Sanktionssachverhalts folgt. Durch diese zu fordernde zeitliche Nähe, die den Eintritt der Sanktion der freien Disposition der Behörde entzieht, wird zum einen der mit der Sanktion auch verfolgte Zweck der Verhaltenssteuerung des Sanktionierten eher erreicht. Zum anderen wird so verhindert, dass die Behörde Sanktionssachverhalte "aufsparen" kann und sie erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Anknüpfungspunkt für eine Sanktion macht. Hierfür lassen sich Gründe deshalb finden, weil bei einem Zusammentreffen von Sanktionen bei wiederholten Pflichtverletzungen härtere Folgen eintreten. Zwar gibt der streitbefangene Sanktionsbescheid keine Veranlassung zu der Annahme, dass hier ein solches "Aufsparen" stattgefunden hat. Doch ist es für die Prüfung einer allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzung unerheblich, ob deren Zwecke auch jeweils im Einzelfall berührt sind oder nicht.

So ungeschrieben wie die Rechtmäßigkeitsvoraussetzung eines engen zeitlichen Zusammenhanges zwischen dem Bekanntwerden eines Sanktionssachverhalts und dem Folgen einer hieran anknüpfenden Sanktion ist eine Bemessung der der Behörde zur Verfügung stehenden Zeit gegriffen. Die Kammer ist insoweit der Überzeugung, dass nach Ablauf von drei Monaten der Erlass eines Sanktionsbescheides grundsätzlich rechtswidrig ist. Ausnahmefälle, etwa bei aufwendigen, dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bekannten Ermittlungen der Behörde, sind denkbar (weitergehend Sozialgericht Berlin 12.1.2006 – S 37 AS 11525/05 ER, juris, das eine Verpflichtung zur unverzüglichen Umsetzung der Leistungskürzung nach Kenntnis der objektiven und subjektiven Umstände für ein pflichtwidriges Verhalten im Sinne von § 31 Abs. 1 SGB II postuliert; in gleicher Weise: Sozialgericht Berlin 16.2.2006 – S 37 AS 1302/06 ER, n. v.; Sozialgericht Berlin 23.2.2006 – S 37 AS 1303/06 ER, n. v.).

Vorliegend vermag eine solche Ausnahme jedoch nicht zu greifen. Ermittlungen der Beklagten liefen nicht. Auf den Eingang des Kündigungsschreibens bei ihr am 9. Dezember 2005 reagierte sie zunächst mit ihrem Schreiben vom 14. Dezember 2005, in dem sie den Kläger auf seine fortbestehenden Pflichten im Rahmen der Eingliederungsmaßnahme hinwies. Erst durch Schreiben vom 24. März 2006 hörte die Beklagte sodann zur in Aussicht genommenen Feststellung einer Sanktion den Kläger an, der sich weder bis zum Fristende am 10. April 2006 noch später vor Erlass des Bescheides äußerte. Und erst am 8. Mai 2006 erließ die Beklagte den streitbefangenen Sanktionsbescheid.

Die ungeschriebene Rechtmäßigkeitsvoraussetzung eines engen zeitlichen Zusammenhanges zwischen dem Bekanntwerden eines Sanktionssachverhalts und dem Folgen einer hieran anknüpfenden Sanktion nach spätestens drei Monaten findet sich in § 31 Abs. 6 SGB II angelegt: Tritt die Absenkung nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB II in der – hier anzuwendenden – bis 31. Juli 2006 geltenden Fassung (bzw. nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II in der seit 1. August 2006 geltenden Fassung) erst nach Wirksamwerden des die Absenkung feststellenden Verwaltungsakts ein, wird der Beginn des Absenkungszeitraums also durch das Wirksamwerden dieses Verwaltungsakts im Wege der Bekanntgabe erst konstituiert, so ist der Behörde zwar rechtstechnisch die Möglichkeit eröffnet, über den Eintritt der Sanktionsfolgen zeitlich zu verfügen (dies unterscheidet die Sanktion des § 31 SGB II von der Sperrzeit des § 144 SGB III, die grundsätzlich mit dem Tag nach dem Ereignis, das die Sperrzeit begründet, beginnt). Diese Möglichkeit aber ist ihr nach Sinn und Zweck der Sanktionsregelung zu nehmen bzw. ist diese Möglichkeit zu beschränken. Denn der Behörde ist nach der Konzeption dieser Regelung ein Ermessen, ob und wann eine Sanktion eintreten soll, nicht eingeräumt. Sie ist allein gehalten, bei Bekanntwerden eines Sanktionssachverhalts die hieran anknüpfende Sanktion durch Verwaltungsakt festzustellen und so den Beginn des Absenkungszeitraums konstitutiv zu regeln. Die ihr einzuräumende längste Frist für diese Reaktion auf einen bekannt gewordenen Sanktionssachverhalt lässt sich in Anknüpfung an § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB II mit drei Monaten bemessen; sie hat ihren Grund allein in der Notwendigkeit der verwaltungstechnischen Umsetzung einer festzustellenden Absenkung. Die Kammer folgt insoweit der Auffassung von Berlit (in: LPK-SGB II, 1. Aufl. 2005, § 31 Rn. 114-117, 2. Aufl. 2007, § 31 Rn. 141-145; so auch Sonnhoff, in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 31 Rn. 247; Winkler, in: Gagel, SGB III-Kommentar, § 31 SGB II Rn. 189, Stand: Dezember 2006; Rixen, in: Eicher/Spellbrink, SGB II-Kommentar, 2005, § 31 Rn. 58, der jedoch eine Höchstfrist von sechs Monaten seit dem Fehlverhalten unter Rückgriff auf § 88 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG - annimmt – hiergegen spricht, dass es nicht um den Erlass eines beantragten Verwaltungsakts geht, dessen Voraussetzungen und Inhalte vielgestaltig sein können, sondern die Behörde auf einen bekannt gewordenen Sanktionssachverhalt mit der Feststellung der Sanktion zu reagieren hat).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Berufung ist zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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