L 10 AL 127/97

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 15 Ar 2314/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 127/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. Oktober 1996 hinsichtlich des Bescheides vom 22. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 1995 dahingehend abgeändert, dass dieser Bescheid nur insoweit aufgehoben wird, als er die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 7. August 1995 bis zum 30. Oktober 1995 zurückgenommen hat. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin ein Viertel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld.

Die 1942 geborene Klägerin war seit Dezember 1981 bei der Stadt D. als Altenpflegehelferin beschäftigt. Infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bezog sie vom 22. Juli 1991 bis zum 11. Juli 1992 Krankengeld von der AOK in Darmstadt. Ihr im Juni 1991 gestellter Antrag auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit wurde durch die LVA Niederbayern-Oberpfalz mit Bescheid vom 19. Oktober 1992 abgelehnt. Widerspruch und Klage blieben erfolglos; das Sozialgericht Darmstadt stellte mit Urteil vom 27. Januar 1995 (S-1/J-62/93) fest, die Klägerin sei unter Beachtung bestimmter Funktionseinschränkungen noch in der Lage, eine leichte körperliche Arbeit vollschichtig zu verrichten, womit sie weder berufs- noch erwerbsunfähig sei.

Noch am selben Tag schloss die Klägerin mit der Stadt D. einen Aufhebungsvertrag, wodurch ihr Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 28. Februar 1995 gegen Zahlung einer Abfindung von 15.000,– DM beendet wurde. Am 2. März 1995 meldete sich die Klägerin beim Arbeitsamt Darmstadt arbeitslos, worauf ihr die Beklagte – nach Ablauf eines bis zum 17. April 1995 laufenden Ruhenszeitraums aufgrund der durch den Arbeitgeber gezahlten Abfindung – mit Bescheid vom 8. Juni 1995 Arbeitslosengeld ab dem 18. April 1995 für die Dauer von 676 Tagen in Höhe von 343,80 DM wöchentlich bewilligte; dabei wurde die Leistung in der Höhe vorläufig festgesetzt.

Nach vorheriger Anhörung der Klägerin (Schreiben vom 6. Juli 1995) nahm die Beklagte mit Bescheid vom 21. Juli 1995 ihren Bescheid über die Bewilligung von Arbeitslosengeld zurück, weil die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld von Anfang an nicht vorgelegen hätten. Innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung habe die Klägerin nicht mindestens 360 Kalendertage in einer beitragspflichtigen Beschäftigung gestanden; damit sei die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die ungerechtfertigte Leistungsbewilligung beruhe auf einem Fehler des Arbeitsamtes, so dass von einer Erstattung der zu Unrecht gewährten Leistungen abzusehen sei; allerdings sei der Klägerin mit Zugang dieses Bescheides bekannt, dass ein Anspruch auf Leistungen nicht vorliege. Das im Bescheid für den Eintrag des Datums, ab dem die Rücknahme wirksam werden sollte, vorgesehene Feld ließ die Beklagte offen.

Die Klägerin erhob am 3. August 1995 Widerspruch. Sie führte an, sie sei der Meinung gewesen, sich erst nach dem Abschluss des Rentenverfahrens arbeitslos melden zu können; auf die Möglichkeit einer früheren Meldung habe sie niemand hingewiesen. Nun werde sie sozialhilfebedürftig, da ihr Ehemann ebenfalls Rentner sei und nur 1.170,– DM monatlich an Rente erhalte. Auf die Nachfrage der Beklagten, wovon die Klägerin ihren Lebensunterhalt in der Zeit vom 12. Juli 1992 bis zur Arbeitslosmeldung bestritten habe, da nach Auskunft des Sozialamts Darmstadt für diesen Zeitraum keine ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt worden sei, erklärte die Klägerin ergänzend, außer von der Rente ihres Ehemannes hätten sie von Ersparnissen gelebt.

Mit Bescheid vom 22. August 1995 änderte die Beklagte ihren Rücknahmebescheid vom 21. Juli 1995 dahingehend ab, dass die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 7. August 1995 zurückgenommen werde. Dieser Bescheid wurde am 22. August 1995 zur Post gegeben. Bei einer Vorsprache der Klägerin am 31. Oktober 1995 bei der Beklagten gab diese an, den Bescheid nicht erhalten zu haben, worauf ihr eine Kopie ausgehändigt wurde. Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1995 wies die Beklagte sodann den Widerspruch zurück. Nach Abwägung der beiderseitigen Interessen sei es gerechtfertigt, den Bescheid über die Bewilligung des Arbeitslosengeldes ab dem 7. August 1995 für die Zukunft zurückzunehmen. Zwar treffe dies die Klägerin in ihrer wirtschaftlichen Existenz hart und bedeute ggf. eine Sozialhilfebedürftigkeit. Diese Sozialhilfebedürftigkeit wäre jedoch bei einer von vorn herein richtigen Sachentscheidung ebenfalls eingetreten. Im übrigen sei die Klägerin bereits ab dem 12. Juli 1992 ohne eigenes Einkommen gewesen. Auch unter Beachtung dieser finanziellen Situation der Klägerin erscheine es nicht vertretbar, angesichts des noch bestehenden Restanspruchs von 581 Tagen die Arbeitslosenversicherung ohne Vorliegen einer Anwartschaftszeit weiterhin bis zur Erschöpfung des gesamten Anspruchs finanziell zu belasten. Dabei sei auch beachtet worden, dass bereits vor Bewilligung des Arbeitslosengeldanspruchs aufgrund der Angaben in der Arbeitsbescheinigung sowie der Bescheinigung über die Dauer des Krankengeldbezuges Arbeitslosengeld nicht hätte bewilligt werden können; dies gehe jedoch zu Lasten des Arbeitsamtes, so dass erst ab dem 7. August 1995 eine Rücknahmeentscheidung erfolgt sei.

Die Klägerin erhob am 20. Dezember 1995 Klage zum Sozialgericht Darmstadt, welches mit Urteil vom 8. Oktober 1996 die Rücknahmebescheide der Beklagten aufhob. Zwar sei die Bewilligung von Arbeitslosengeld im Sinne von § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) rechtswidrig gewesen. Die Klägerin habe die Anwartschaftszeit gemäß § 104 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nicht erfüllt, da sie in der Rahmenfrist von drei Jahren, die dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit unmittelbar vorausgehe, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt seien, keine 360 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (§ 168 AFG) gestanden habe. Ausgehend vom 18. April 1995 als dem Tag der Arbeitslosmeldung und Antragstellung laufe die maßgebliche Rahmenfrist im Fall der Klägerin vom 18. April 1992 bis zum 17. April 1995; in diesem Zeitrahmen könne nur der Krankengeldbezug vom 18. April 1992 bis zum 11. Juli 1992 im Umfang von 85 Kalendertagen gemäß § 107 Satz 1 Nr. 5 a AFG berücksichtigt werden, so dass die geforderten 360 Kalendertage nicht erreicht würden. Zugleich fehle es damit auch an einer Voraussetzung für die Zahlung von Arbeitslosenhilfe. Denn diese Leistung setze voraus, dass innerhalb eines Jahres von dem Tag, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe erfüllt seien (Vorfrist), mindestens 150 Kalendertage, sofern der letzte Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe nach § 119 Abs. 3 AFG erloschen sei, danach mindestens 240 Kalendertage der Arbeitslose in einer Beschäftigung gestanden oder eine Zeit zurückgelegt habe, die zur Erfüllung der Anwartschaftszeit dienen könne. Das Fehlen einer rechtzeitigen Arbeitslosmeldung könne auch nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Der Rücknahme für die Zukunft stehe kein gemäß § 45 Abs. 2 SGB X vorrangiger Vertrauensschutz der Klägerin entgegen. Dennoch sei der angefochtene Bescheid rechtswidrig, weil die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausreichend betätigt und einen maßgeblichen Gesichtspunkt unberücksichtigt gelassen habe. Insoweit hätte die Beklagte beachten müssen, dass der Klägerin – zumindest unter den erleichterten Voraussetzungen des § 105 a AFG – bereits ab dem 12. Juli 1992 ein Anspruch auf Arbeitslosengeld zugestanden hätte, wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hätte. Das diesbezügliche Versäumnis der Klägerin habe ausschließlich der Beklagten einen erheblichen Vermögensvorteil verschafft, wobei zu berücksichtigen sei, dass die Klägerin aufgrund ihrer Leistungseinschränkungen und des fortgeschrittenen Alters aller Voraussicht nach ohnehin nicht in Arbeit hätte vermittelt werden können, somit aller Voraussicht nach ihr für den gesamten Zeitraum Arbeitslosengeld zugestanden hätte. Der Klägerin hingegen habe ihr Versäumnis keinerlei Vorteile verschafft. Bei einer erneuten Entscheidung müsse die Beklagte beachten, dass eine Ermessenseinschränkung in jedem Fall gegeben sei, soweit das Versäumnis der Klägerin auf einer Beratungspflichtverletzung des zuständigen Kranken- oder Rentenversicherungsträgers oder der Beklagten selbst beruht habe.

Gegen dieses ihr am 8. Januar 1997 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 29. Januar 1997 Berufung eingelegt.

Sie fuhrt aus, die Auffassung des Sozialgerichts, bei der Ermessensausübung müsse berücksichtigt werden, dass sie – die Beklagte – durch die unterbliebene Arbeitslosmeldung der Klägerin Geld gespart habe, gehe fehl. In den Anspruch auf Arbeitslosengeld flössen nicht die gesamten früheren Beitragszeiten ein, sondern nur die letzten drei Jahre; wenn der Eintritt des Versicherungsfalles "Arbeitslosigkeit” nicht mittels einer Arbeitslosmeldung der Bundesanstalt angezeigt werde, verfielen nach dem Willen des Gesetzgebers die Leistungsansprüche. Es sei nicht zu erkennen, dass die Klägerin bezüglich der Möglichkeit der Arbeitslosmeldung falsch oder unzureichend beraten worden sei. Vielmehr stehe im Raum, dass die Klägerin eine Arbeitslosmeldung deshalb unterlassen habe, weil sie angenommen habe, dass es für den geltend gemachten Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente schädlich sei, wenn sie sich dem Arbeitsamt für eine Vermittlung zur Verfügung stelle. Tatsächlich sei die Klägerin 1992 für das Arbeitsamt auch nicht verfügbar gewesen, da sie ausschließlich das Rentenverfahren betrieben und sich um die Aufnahme einer Beschäftigung im Rahmen ihres Leistungsvermögens nicht bemüht habe. Die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug nach § 105 a AFG hätten zur damaligen Zeit nicht vorgelegen, da die Klägerin für leichte Arbeiten vollschichtig leistungsfähig gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. Oktober 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Sie verteidigt das sozialgerichtliche Urteil. Es treffe nicht zu, dass sie die Arbeitslosmeldung im Hinblick auf das laufende Rentenverfahren unterlassen habe. Jedenfalls unter den Voraussetzungen des § 105 a AFG hätte ihr ein Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem 12. Juli 1992 zugestanden. Ihr sei jedoch von niemandem – insbesondere nicht der Krankenkasse – mitgeteilt worden, dass sie sich trotz Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf des Krankengeldbezuges arbeitslos melden könne.

Der Senat hat die Akte der LVA Niederbayern-Oberpfalz beigezogen. Die AOK in Darmstadt hat mitgeteilt, Unterlagen aus dem Jahr 1992 seien entsprechend den Aufbewahrungsfristen bereits vernichtet; es entziehe sich ihrer Kenntnis, ob die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt darauf hingewiesen worden sei, sich beim Arbeitsamt zu melden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Das Sozialgericht durfte nur den Bescheid vom 21. Juli 1995, nicht aber den Bescheid vom 22. August 1995 und den Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1995 in vollem Umfang aufheben. Denn während der Bescheid vom 21. Juli 1995 nichtig ist, ist der Bescheid vom 22. August 1995 rechtmäßig, soweit er die Bewilligung von Arbeitslosengeld mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben hat. Insoweit durfte eine Aufhebung allerdings erst ab dem 31. Oktober 1995 erfolgen; die Aufhebungsentscheidung für die Zeit vom 7. August 1995 bis zum 30. Oktober 1995 ist rechtswidrig.

Statthafte Klage ist vorliegend die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Dies gilt auch hinsichtlich des Bescheides vom 21. Juli 1995, der – wie noch zu zeigen ist – nichtig und damit gemäß § 39 Abs. 3 SGB X unwirksam ist. Gleichwohl begründet er den Rechtsschein einer wirksamen Regelung und kann daher mit der Anfechtungsklage angegriffen werden (BSG SozR 1500 § 55 SGG Nr. 35).

Die Nichtigkeit des Bescheides von 21. Juli 1995 folgt daraus, dass dieser inhaltlich nicht ausreichend bestimmt ist (§ 33 Abs. 1 SGB X). Aus dem Bestimmtheitsgebot folgt, dass aus dem Verfügungssatz des Bescheides für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein muss, was die Behörde will. Dabei ist es allerdings unschädlich, wenn sich der Regelungsgehalt erst durch Auslegung ermitteln lässt, wenn sich also insbesondere aus der Begründung des Verwaltungsaktes oder aus den sonst den Beteiligten bekannten Tatsachen ermitteln lässt, welchen Regelungsgehalt der Bescheid haben soll (Schroeder-Printzen, Kommentar zum SGB X, 3. Auflage 1996, § 33 Rdnr. 2 m.w.N.; Hauck/Haines, Kommentar zum SGB X, Stand 15. Lieferung 1992, § 33 Rdnr. 3). Dem genügt der Bescheid vom 21. Juli 1995 deshalb nicht, weil dieser offen lässt, ab welchem Zeitpunkt die Rücknahmeentscheidung wirksam werden sollte; ein Datum wird in dem Bescheid nicht genannt. Zwar lassen die weiteren Ausführungen erkennen, dass die Beklagte keine Rücknahme für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft beabsichtigte, da der Bescheid ausführt, dass von einer Erstattung der zu Unrecht gewährten Leistungen abzusehen sei, der Klägerin allerdings mit Zugang des Bescheides bekannt sei, dass ein Anspruch auf Leistungen nicht vorliege. Auch diese Ausführungen lassen indes nicht erkennen, ab welchem genauen Datum die Wirkung der Rücknahme eintreten sollte. Für die Klägerin musste dies schon deshalb unklar bleiben, weil die Beklagte noch am 24. Juli 1995 und 7. August 1995 Arbeitslosengeld für Bezugszeiträume bis zum 5. August 1995 überwies.

Dieser Mangel des Bescheids hat gemäß § 40 Abs. 1 SGB X seine Nichtigkeit zur Folge. Denn dieser leidet an einem besonders schwerwiegenden Fehler, der bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Ein Bescheid, der eine Leistungsbewilligung zurücknimmt, ohne dass erkennbar wird, ab wann diese Rechtsfolge eintreten soll, macht den Bescheid für die Betroffenen in wesentlicher Hinsicht unvollständig. Dieser Fehler sprang vorliegend auch unmittelbar ins Auge; denn der Bescheid enthält eigens ein Feld, in welches das Rücknahmedatum einzusetzen war und welches tatsächlich frei blieb.

An der Nichtigkeit des Bescheides vom 21. Juli 1995 ändert sich nichts dadurch, dass die Beklagte in ihrem Änderungsbescheid zum Rücknahmebescheid vom 21. Juli 1995 nunmehr ein konkretes Datum benannte, ab dem die Bewilligung von Arbeitslosengeld zurückgenommen wurde. Ein nichtiger Verwaltungsakt ist einer nachträglichen Heilung nicht zugänglich; die in einem früheren Entwurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern vorgesehene Heilung des Mangels inhaltlicher Bestimmtheit hat weder in das Verwaltungsverfahrensgesetz noch in das SGB X Eingang gefunden (BSG, a.a.O.).

Einen hinreichend bestimmten Verwaltungsakt stellt daher erst der Änderungsbescheid der Beklagten vom 22. August 1995 mit seiner Regelung dar, dass die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 7. August 1995 zurückgenommen wird. Seine Rechtsgrundlage findet dieser Bescheid in § 45 SGB X. Denn die Bewilligung von Arbeitslosengeld durch den Bescheid vom 8. Juni 1995 war rechtswidrig, da die Klägerin die Anwartschaftszeit (§§ 100 Abs. 1, 104 AFG) nicht erfüllte. In der Rahmenfrist von 3 Jahren vor dem ersten Tage der Arbeitslosigkeit (2. März 1995) lagen keine 360 Kalendertage einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung. In die Rahmenfrist fällt nur der Krankengeldbezug der Klägerin vom 2. März 1992 bis zum 11. Juni 1992 im Umfang von 132 Tagen. Da eine frühere Arbeitslosmeldung der Klägerin (mit der Folge einer entsprechenden Verschiebung der Rahmenfrist) auch im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches nicht fingiert werden kann (BSG SozR 4100 § 105 Nr. 2; SozR 1300 § 28 Nr. 2), stand der Klägerin Arbeitslosengeld nach keiner denkbaren Betrachtungsweise zu.

Der Rücknahmebescheid ist indes materiell rechtswidrig, soweit die Rücknahmeentscheidung die Zeit vom 7. August 1995 bis zum 30. Oktober 1995 erfasst. Denn insoweit handelt es sich um die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit, die gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist. In die Vergangenheit wirkt ein Verwaltungsakt nämlich stets dann, wenn seine Rechtswirkungen auf Tage vor seiner Bekanntgabe zielen (Steinwedel in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 45 Rdnr. 17). Der Bescheid vom 22. August 1995 ist der Klägerin erst am 31. Oktober 1995 durch persönliche Aushändigung im Sinne von § 37 Abs. 1 SGB X bekannt gegeben worden. Zwar wurde dieser Bescheid ausweislich eines Vermerks in der Verwaltungsakte bereits am 22. August 1995 an die Klägerin per Post übermittelt, diese hat jedoch bei ihrer persönlichen Vorsprache bei der Beklagten am 31. Oktober 1995 bestritten, ihn auf diesem Wege erhalten zu haben. Da die Beklagte über keinen Nachweis hinsichtlich des Zugangs dieses Bescheides verfügt und auch nichts ersichtlich ist, was die Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen Angabe der Klägerin in Zweifel ziehen könnte, kann somit von einer Bekanntgabe des Bescheides vom 22. August 1995 erst am 31. Oktober 1995 ausgegangen werden; denn bei der Übermittlung durch die Post hat die Behörde im Zweifel den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 SGB X).

Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X, unter denen ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann, liegen indes nicht vor. Der allein in Betracht kommende Rücknahmetatbestand, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Abs. 2 Satz 3 Nr. 3), ist nicht gegeben. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin wusste oder wissen musste, dass die Bewilligung von Arbeitslosengeld durch den Bescheid vom 8. Juni 1995 rechtswidrig war. Dann kommt es aber nicht, worauf die Beklagte im Widerspruchsbescheid abgestellt hat, darauf an, dass der Klägerin aufgrund des Anhörungsschreibens vom 6. Juli 1995 bekannt wurde, dass die Bewilligungsentscheidung möglicherweise rechtswidrig gewesen war. Denn für die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X ist der Zeitpunkt des Erlasses des rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes maßgebend; unerheblich ist insbesondere, ob die Behörde den Begünstigten durch einen späteren Hinweis (z.B. im Rahmen des Anhörungsverfahrens) von der Rechtswidrigkeit in Kenntnis gesetzt hat (BSG SozR 3 1300 § 45 Nr. 24; Urteil vom 4. Februar 1998 – B 9 V 24/96 R).

Hingegen erweist sich der Bescheid vom 22. August 1995 als rechtmäßig, soweit er eine Rücknahme der Arbeitslosengeldbewilligung für die Zukunft – also ab dem Tag der Bekanntgabe des Bescheides (BSGE 61, 169) – beinhaltet.

Ein die Rücknahme ausschließendes, das öffentliche Interesse an einer Rücknahme überwiegendes schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin auf den Bestand des Arbeitslosengeldbewilligungsbescheides im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 1 SBG X liegt, wie bereits das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, nicht vor. Bei Verwaltungsakten, mit denen Dauerleistungen bewilligt worden sind, ist das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes in der Regel höher einzuschätzen als bei der Gewährung einmaliger Leistungen, weil eine Dauerleistung die Allgemeinheit regelmäßig stärker belastet als eine einmalige Leistung. Das gilt jedenfalls für Dauerleistungen, die für sehr lange Zeit gewährt werden müssten (BSGE 81, 156, 160 m.w.N.). So liegt der Fall der Klägerin: Ihr wurde Arbeitslosengeld im Umfang von 676 Tagen bewilligt. Dahinter treten die Interessen der Klägerin zurück. Diese hat weder im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X eine Vermögensdisposition getroffen, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann, noch sind andere Umstände so bedeutsam, dass sie eine Schutzwürdigkeit der Klägerin auf den Bestand der Arbeitslosengeldbewilligung für die Zukunft begründen. Zwar fiel die Unrichtigkeit des Bewilligungsbescheides vom 8. Juni 1995 allein in den Verantwortungsbereich der Beklagten, die insoweit grob fehlerhaft handelte; denn die Klägerin konnte die Anwartschaftszeit für Arbeitslosengeld unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erfüllen. Der Ansicht, dass durch grobe Fehler der Verwaltung bei Erlass des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts das Vertrauen des Begünstigten in die Bestandskraft der Leistungsbewilligung nachhaltig gestärkt wird (BSGE 81, 161), kann der Senat allerdings nicht folgen. Für den in die Zukunft gerichteten Vertrauensschutz des rechtswidrig Begünstigten ist nicht zu erkennen, weshalb dieser davon abhängen soll, dass die Behörde bei ihrer früheren Bewilligungsentscheidung mehr oder weniger schwerwiegende Rechtsfehler beging. Ohne das Hinzutreten weiterer Aspekte, die ein schützenswertes Interesse des rechtswidrig Begünstigten an der weiteren Gewährung einer ihm gesetzlich nicht zustehenden Leistung für die Zukunft begründen, muss das öffentliche Interesse an der Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes entscheidend sein; das rein finanzielle Interesse der Klägerin am Fortbestand der Arbeitslosengeldbewilligung kann nicht stärker wiegen als das Allgemeininteresse an der gesetzmäßigen Verwendung öffentlicher Mittel (BVerwGE 19, 189 ff).

Gewichtige andere Aspekte, welche einen Vertrauensschutz der Klägerin auf den weiteren Bezug von Arbeitslosengeld über den 30. Oktober 1995 hinaus begründen könnten, liegen indes nicht vor. Diese hat Arbeitslosengeld aufgrund des Bewilligungsbescheides vom 8. Juni 1995 nur für den relativ kurzen Zeitraum vom 18. April 1995 bis zum 7. August 1995 bezogen und musste bereits aufgrund des Anhörungsschreibens vom 6. Juli 1995 mit einer baldigen Beendigung des Leistungsbezugs rechnen. Die Klägerin hat insoweit weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass die Begünstigung ihre Lebensführung einschneidend und dauerhaft verändert hat (BSGE 31, 190, 196) oder dass sie sonst durch den Entzug der Leistungen erheblich getroffen wird (BSG SozR 1300 § 45 Nr. 9). Hierbei ist eine durch die Rücknahmeentscheidung möglicherweise eintretende Sozialhilfebedürftigkeit nicht zu berücksichtigen; dieser Aspekt ist von der Behörde erst bei der Ausübung des Ermessens einzubeziehen (BSG SozR 1300 § 45 Nrn. 19, 62).

Von dem ihr durch § 45 SGB X eingeräumten Ermessen hat die Beklagte auch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht. Dass die Rücknahme nach § 45 SGB X eine Ermessensentscheidung darstellt, ist jedenfalls für den Bereich der Sozialversicherung einschließlich des AFG unstreitig (Steinwedel in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 45 SGB X Rdnr. 50 m.w.N.). Infolgedessen hat der Sozialleistungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die Grenze des Ermessens einzuhalten, worauf der Betroffene einen Rechtsanspruch hat (§ 39 Abs. 1 SGB I). Hierbei muss sie von einer richtigen Beurteilung der Voraussetzungen für das Ermessen und bei dessen Ausübung vom richtigen und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgehen. Diese Entscheidung ist gerichtlich dahingehend überprüfbar, ob die Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (Steinwedel, a.a.O., Rdnr. 54).

Dieser Verpflichtung ist die Beklagte nachgekommen. Insoweit ist auch der Inhalt des Widerspruchsbescheides maßgebend (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 SGB X). In diesem hat die Beklagte dargelegt, dass die Rücknahmeentscheidung die Klägerin zwar hart treffe und ggf. Sozialhilfebedürftigkeit eintrete, diese Folge jedoch bei einer von vornherein richtigen Sachentscheidung (Ablehnung des Arbeitslosengeldantrages) ebenfalls eingetreten wäre und im übrigen die Klägerin bereits ab dem 12. Juli 1992 nach der Beendigung des Krankengeldbezuges ohne Einkommen gewesen sei; auch unter Beachtung dieser finanziellen Situation der Klägerin erscheine es nicht vertretbar, angesichts des noch bestehenden Restanspruchs von 581 Tagen die Arbeitslosenversicherung ohne Vorliegen einer Anwartschaftszeit weiterhin bis zur Erschöpfung des gesamten Anspruchs finanziell zu belasten. Diese Erwägungen sind sachgerecht und berücksichtigen insbesondere den Aspekt einer möglicherweise eintretenden Sozialhilfebedürftigkeit in ausreichender Weise.

Hingegen brauchte die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung nicht zu berücksichtigen, dass – worauf das Sozialgericht abgestellt hat – es der Beklagten einen erheblichen Vermögensvorteil (im Sinne ersparter Aufwendungen) verschafft hat, dass sich die Klägerin nicht bereits nach der Beendigung des Krankengeldbezuges im Juli 1992, sondern erst am 8. März 1995 arbeitslos gemeldet hat. Denn die Beklagte hat insoweit nicht, wie es die Formulierung des Sozialgerichts suggeriert, einen ihr eigentlich nicht zustehenden Vorteil erlangt, der nunmehr durch Weitergewährung des Arbeitslosengeldes auszugleichen wäre. Diese Betrachtungsweise verkennt, dass die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit nicht primär die Versorgung der Arbeitslosen, sondern deren Vermittlung in Arbeit ist (§ 5 AFG). Erst durch die Arbeitslosmeldung als Anzeige des eingetretenen Versicherungsfalls wird die Bundesanstalt in die Lage versetzt, ihre Vermittlungsbemühungen zu beginnen mit dem Ziel, die Arbeitslosigkeit und damit die Leistungspflicht möglichst rasch zu beenden (BSG SozSich 1989, 220). Dementsprechend knüpft das AFG die Leistungsansprüche des Arbeitslosen an die Erfüllung von Verhaltenspflichten: Dieser muss sich der Arbeitsvermittlung im Rahmen seines Leistungsvermögens zur Verfügung stellen, anwesend sein, an Rehabilitations- oder Bildungsmaßnahmen teilnehmen (§ 103 AFG). Erst mit der Erfüllung all dieser Voraussetzungen entsteht der Leistungsanspruch gemäß § 100 Abs. 1 AFG. Es ist daher nicht möglich, die Klägerin hinsichtlich der unterlassenen Arbeitslosmeldung nach dem Auslaufen des Krankengeldbezuges im Juli 1992 als "Geschädigte” anzusehen, obwohl weder bekannt noch objektiv feststellbar ist, dass die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt bereit und in der Lage war, die für die Gewährung von Arbeitslosengeld erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Zutreffend hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass die Klägerin die Arbeitslosmeldung zum damaligen Zeitpunkt möglicherweise deshalb unterlassen hat, weil sie sich aus gesundheitlichen Gründen als nicht vermittelbar sah. Insoweit ist der "Vorteil”, den die Beklagte daraus gezogen hat, dass sich die Klägerin nicht früher arbeitslos meldete, nicht mehr als die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge, dass die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld durch Zeitablauf verloren gehen kann (§ 104 AFG). Eine vom Gesetzgeber angeordnete Rechtsfolge kann indes im Rahmen von § 45 SGB X keine Härte darstellen, die im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen ist.

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus der Verletzung einer gegenüber der Klägerin bestehenden Beratungspflicht im Hinblick auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld nach dem Auslaufen des Krankengeldbezuges im Juli 1992. Hypothetische Erwägungen über einen möglichen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu einem früheren Zeitpunkt können im Rahmen von § 45 SGB X nicht berücksichtigt werden. Das der Verwaltung eingeräumte Rücknahmeermessen knüpft – ebenso wie der Vertrauensschutz – systematisch an die aus dem rechtswidrigen Verwaltungsakt sich ergebende Begünstigung an; der Verwaltung wird die Möglichkeit eingeräumt, besonderen Situationen, die durch die rechtswidrige Leistungsgewährung entstanden sind, auch dort Rechnung zu tragen, wo Vertrauensschutz nicht eingreift. Ermessensrelevant können damit aber nur solche Aspekte sein, die selbst in unmittelbarem Zusammenhang mit der rechtswidrigen Gewährung stehen, wo also durch die rechtswidrige Gewährung eine Veränderung in der Situation des Begünstigten eingetreten ist, die im Rahmen der Vertrauensprüfung nicht berücksichtigt werden kann. Hingegen können Nachteile, die dem Begünstigten zu einem anderen Zeitpunkt und in anderem Zusammenhang durch fehlerhaftes Behördenverhalten entstanden sind, insoweit keine Rolle spielen.

Einer weiteren Vertiefung bedarf dies allerdings schon deshalb nicht, weil es vorliegend keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Klägerin durch einen der beteiligten Sozialleistungsträger im Hinblick auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld nicht ausreichend beraten worden ist. Die Klägerin hat insoweit lediglich darauf verwiesen, dass ihr niemand gesagt habe, dass sie sich trotz Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf des Krankengeldbezuges arbeitslos hätte melden können. Es ist jedoch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Klägerin insoweit um Beratung und Information nachgesucht hätte und ihr in diesem Zusammenhang eine falsche Auskunft erteilt worden wäre. Insoweit ergibt sich auch aus der Verwaltungsakte der Beklagten, der beigezogenen Rentenakte und der Auskunft der AOK kein Anhalt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin nur in geringerem Umfang Erfolg hatte.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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