L 3 AS 3922/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AS 2343/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 3922/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II kann zugunsten einer Unionsbürgerin ein in entsprechender Anwendung von § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV bestehendes materielles Aufenthaltsrecht entgegenstehen, wenn ihrem minderjährigen freizügigkeitsberechtigten Kind mit Unionsstaatsbürgerschaft unter Berücksichtigung von dessen in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Grundrechten der Ausschluss von der Erziehungsleistung eines seiner leiblichen Elternteile nicht zumutbar ist.
2. Im Einzelfall können solche Umstände jedenfalls dann vorliegen, wenn das freizügigkeitsberechtigte Kind mit Unionsbürgerschaft während des Bewilligungszeitraums das erste Lebensjahr vollendet und sich noch im frühkindlichen Entwicklungsstadium befunden hat.

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20.10.2020 und der Bescheid des Beklagten vom 01.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2018 aufgehoben, der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 10.07.2018 teilweise zurückzunehmen, und der Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II hat.

Die im September 1990 geborene Klägerin ist rumänische Staatsangehörige. Seit April 2018 hielt sie sich mit ihrem im März 1985 geborenen damaligen Lebensgefährten und jetzigen Ehemann G und zwei gemeinsamen Kindern in E auf. Die Kinder wurden im März 2015 und im Juni 2017 geboren. In den aktenkundigen rumänischen Geburtsurkunden (für das ältere Kind: „S NY Nr. 320575“, für das jüngere Kind: „S N.10 Nr. 202283“) sind jeweils die Klägerin als Mutter und G als Vater eingetragen. G und die beiden Kinder sind ebenfalls rumänische Staatsangehörige. Die Familie war ausweislich der Meldebestätigungen der Stadt E vom 16.04.2018 seit dem 12.04.2018 in dieser im Zuständigkeitsbereich des Beklagten liegenden Gemeinde mit alleiniger Wohnung in der U-Straße in E-A gemeldet. Bei dieser Wohnung handelte es sich um eine Obdachlosenunterkunft, in die G, die Klägerin, die beiden Kinder und die Mutter der Klägerin durch Einweisungsverfügung der Stadt E vom 12.04.2018 eingewiesen worden waren. Die Benutzungsgebühren für die Unterkunft wurden auf pauschal 208,60 € festgesetzt.

G war laut Meldebestätigung zur Sozialversicherung vom 22.01.2018 seit dem 10.01.2018 bei der K L Smühle versicherungspflichtig beschäftigt. Ausweislich der aktenkundigen Lohnabrechnungen für die Monate Januar 2018 bis Mai 2018 arbeitete er in unterschiedlichem Zeitumfang zwischen 62,5 und 129,5 Stunden monatlich. Der Nettoverdienst belief sich auf wechselnde Beträge zwischen 496,08 € und 991,98 €.

Am 28.06.2018 beantragte G für sich, für die Klägerin und für die Kinder Leistungen nach dem SGB II beim Beklagten. In der Anlage zur Feststellung der Einkommensverhältnisse jeder in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Person wurde bezüglich der Klägerin kein Einkommen angegeben. In der Anlage zur Feststellung der Vermögensverhältnisse war als einziger Vermögenswert das bei der Skasse E-G geführte Konto des G (DExxxxx04) mit einem Kontostand von ca. 1.300 € angegeben.

Mit an G adressiertem Bescheid vom 10.07.2018 bewilligte der Beklagte für G und die Kinder unter bedarfsmindernder Anrechnung eines Netto-Erwerbseinkommens in Höhe von 787,44 € monatlich vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 84,52 € monatlich für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018. Im Bescheid hieß es, die Klägerin könne „bei der Leistungsberechnung nicht berücksichtigt werden (§ 7 SGB II)“. Die Bewilligung erfolge vorläufig, weil G aus einer Erwerbstätigkeit Einkünfte in noch ungeklärter bzw. schwankender Höhe erziele und über den Anspruch auf Leistungen derzeit nicht abschließend entschieden werden könne. In Anlehnung an § 41a Abs. 4 Satz 1 SGB II sei ein Durchschnittseinkommen gebildet worden.

Mit am 21.09.2018 beim Beklagten eingegangenem Schreiben beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 10.07.2018 „(für 6/18-11/18)“.

Der Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 01.10.2018 ab.

Mit Schreiben vom 16.10.2018 ließ die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen diesen Bescheid einlegen und ausführen, sie sei als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigt nach dem SGB II.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2018 als unbegründet zurück. Die Klägerin sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie derzeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, nicht verheiratet sei, nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge und sich nicht fünf Jahre ständig rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe.

Mit der am 02.11.2018 beim Sozialgericht (SG) Konstanz erhobenen Klage ist zunächst beantragt worden, den Bescheid vom 01.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 10.07.2018 insoweit zurückzunehmen, als der Antrag der Klägerin auf Leistungen nach dem SGB II abgelehnt wurde, und der Klägerin Leistungen für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 31.11.2018 zu gewähren.

Ebenfalls am 02.11.2018 hat die Klägerin beim SG Konstanz die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt.

Am 13.11.2018 ist der Weiterbewilligungsantrag des G für den ab dem 01.12.2018 beginnenden neuen Bewilligungsabschnitt bei dem Beklagten eingegangen.

Mit dem hier nicht streitgegenständlichen Bescheid vom 15.11.2018 hat der Beklagte dem G und den beiden Kindern von G und der Klägerin für den Zeitraum vom 01.12.2018 bis 31.05.2019 monatliche Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 84,52 € – im Hinblick auf die schwankende Höhe des von G erzielten Einkommens vorläufig – bewilligt. Die Bewilligung von Leistungen für die Klägerin hat der Beklagte wiederum abgelehnt, indem er ausgeführt hat, die Klägerin könne „bei der Leistungsberechnung nicht berücksichtigt“ werden (§ 7 SGB II). Mit Änderungsbescheid vom 24.11.2018 bewilligte der Beklagte dem G und den beiden Kindern für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 31.05.2019 vorläufig höhere Leistungen von monatlich 102,51 €.

Mit an den G gerichtetem Aufhebungsbescheid vom 28.11.2018 hat der Beklagte die Entscheidungen über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab dem 01.01.2019 ganz aufgehoben.

Gegen den Bewilligungsbescheid für den Zeitraum Dezember 2018 bis Mai 2019 hat die Klägerin mit Fax vom 30.11.2018 Widerspruch eingelegt. Gegen den Änderungsbescheid vom 24.11.2018 hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten mit ebenfalls per Fax übersandtem Schreiben vom 07.12.2018 Widerspruch eingelegt. In demselben Schreiben hat der Prozessbevollmächtigte sich für G und die beiden Kinder legitimiert und in deren Auftrag Widerspruch gegen den Bescheid vom 28.11.2018 eingelegt.

In dem unter dem Aktenzeichen S 5 AS 2342/18 ER geführten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat das SG Konstanz den Beklagten mit Beschluss vom 11.01.2019 im Rahmen einer Folgenabwägung durch einstweilige Anordnung dazu verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 02.11.2018 bis zum 31.12.2018 vorläufig Leistungen nach dem SGB II „in gesetzlicher Höhe“ zu gewähren, und hat den Antrag im Übrigen abgelehnt, da sich für die Zeit ab dem 01.01.2019 der Gesamtanspruch der Bedarfsgemeinschaft auf 165,20 € belaufen würde und unter Berücksichtigung des von dem Einkommen verbleibenden Freibetrages  in Höhe von 330,00 € eine besondere Dringlichkeit nicht mehr erkannt werden könne. Der Beklagte hat gegen diesen Beschluss nicht Beschwerde eingelegt und in Ausführung dieses Beschlusses vorläufig 196,83 € für die Zeit vom 02.11.2018 bis zum 31.12.2018 und 206,54 € für die Zeit vom 01.12.2018 bis zum 30.11.2018 an die Klägerin ausgezahlt. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des SG Konstanz vom 11.01.2019 mit Beschluss vom 14.03.2019 (Aktenzeichen L 7 AS 634/19 ER-B) zurückgewiesen und ausgeführt, selbst wenn man eine Leistungsberechtigung der Klägerin zugrunde lege, sei ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht worden.

G hat dem Beklagten seine Lohn- und Gehaltsabrechnungen für die Monate Juni 2018 bis September 2018 (monatlich zwischen 126 und 174 Arbeitsstunden; Nettoverdienst zwischen 969,62 € und 1.244,77 €), für November 2018 (175,5 Arbeitsstunden, Nettoverdienst 1.298,97 €) und für Dezember 2018 (151,25 Arbeitsstunden, Nettoverdienst 1.121,55 €) sowie einen Kontoauszug seines bei der Skasse E-G geführten Kontos übersandt, der am 24.11.2018 einen Kontostand in Höhe von 1.158,43 € ausweist.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.2019 hat der Beklagte den Widerspruch der Klägerin sowie des G gegen den Bescheid vom 15.11.2018 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 24.11.2018 und vom 28.11.2018 zurückgewiesen. Die dagegen am 15.02.2019 beim SG Konstanz anhängig gemachte Klage hat das Aktenzeichen S 5 AS 324/19.

Sodann hat der Beklagte zwei an G adressierte Bescheide vom 25.02.2019 erlassen, mit denen der Leistungsantrag vom 28.06.2018 für G und die beiden Kinder für den hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 und der für den hier nicht streitgegenständlichen Zeitraum ab dem 01.12.2018 bis zum 31.12.2018 gestellte Leistungsantrag vom 13.11.2018 abgelehnt worden sind, da aufgrund der Höhe des anzurechnenden Einkommens keine Hilfebedürftigkeit vorgelegen habe. In den zugehörigen Berechnungsbögen sind die vom Beklagten ermittelten Bedarfe des G und der beiden Kinder ausgewiesen und das Erwerbseinkommen des G sowie das Kindergeld berücksichtigt worden. Die Klägerin ist in den Berechnungsbögen zwar aufgeführt worden, ihre Berechnungsspalte ist jedoch jeweils leer geblieben. Hiergegen haben G und die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 20.03.2019 für sich und für beide Kinder Widerspruch erhoben. Das Widerspruchsverfahren ruht.

Mit zwei weiteren an G adressierten Bescheiden vom 25.02.2019 hat der Beklagte gestützt auf § 41a SGB II die Erstattung der für G und für beide Kinder vorläufig für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 (507,12 €) und für den Monat Dezember 2018 (84,52 €) bewilligten Leistungen zurückgefordert. Da nach der vorläufigen Bewilligung nun endgültig über den Leistungsantrag habe entschieden werden können, sei festgestellt worden, dass kein Anspruch auf Leistungen bestanden habe. Daher seien die Leistungen zu erstatten. Hiergegen haben G und die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 20.03.2019 für sich und für beide Kinder Widerspruch erhoben. Das Widerspruchsverfahren ruht.

Der Beklagte hat im Verfahren vor dem SG Konstanz die Auffassung vertreten, dass mit den Bescheiden vom 25.02.2019 der Leistungsanspruch endgültig festgesetzt und die vorläufigen Leistungsbewilligungen durch diese Bescheide ersetzt worden seien, weshalb der Bescheid vom 25.02.2019 nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden sei. Der Kammervorsitzende hat im Erörterungstermin vom 23.10.2019 darauf hingewiesen, dass er es als fraglich ansehe, ob der endgültige Bewilligungsbescheid Gegenstand des vorliegenden Überprüfungsverfahrens des vorläufigen Bewilligungsbescheides geworden sei. Die Klägerin hat sodann beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 01.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2018 zu verurteilen, ihr unter Abänderung des Bescheides vom 10.07.2018 in der Fassung der Bescheide vom 25.02.2019 für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Am 07.09.2019 haben G und die Klägerin geheiratet.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 16.12.2019 eine Probeberechnung vorgelegt. Danach hätte die Klägerin im Falle eines bestehenden Leistungsanspruchs für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 50,50 € monatlich.

Nach Einholung von Einverständniserklärungen der Beteiligten hat das SG Konstanz die Klage am 20.10.2020 durch Urteil ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Zur Begründung hat das SG Konstanz „gemäß § 136 Abs. 3 SGG“ auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 29.10.2018 und im Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 14.03.2019 (L 7 AS 634/19 ER-B) verwiesen. Das SG Konstanz hat die Berufung zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 12.11.2020 zugestellte Urteil des SG Konstanz richtet sich die am 11.12.2020 beim LSG Baden-Württemberg eingegangene Berufung der Klägerin. Zur Begründung wird vorgetragen, ihr Leistungsanspruch folge jedenfalls aus § 7 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 3b und 3c, Abs. 3a Nr. 2 SGB II, wofür das Vorliegen einer Ehe nicht erforderlich sei. Überdies verfüge sie als Mutter der beiden gemeinsamen Kinder über ein Aufenthaltsrecht, das sie zum Bezug von Leistungen nach dem SGB II berechtige. Dieses Recht folge aus § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und diene der Wahrung der nach dem Grundgesetz geschützten Eltern-Kind-Beziehung. Sie sei im gesamten streitigen Zeitraum auch hilfebedürftig gewesen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20.10.2020 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 01.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2018 zu verurteilen, der Klägerin unter Abänderung des Bescheides vom 10.07.2018 in der Fassung der Bescheide vom 25.02.2019 für die Zeit vom 01.06.2018 bis 30.11.2018 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Das LSG Baden-Württemberg habe im Beschluss vom 14.03.2019 (L 7 AS 634/19 ER-B) die Leistungsberechtigung der Klägerin verneint, da sich ihr Aufenthaltsrecht allenfalls aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Sie könne auch weder von ihrem Lebensgefährten, noch von den Kindern ein Aufenthaltsrecht ableiten, da die Kinder selbst nur ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht von ihrem Vater hätten (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.08.2010 – L 7 AS 3769/10 ER-B, juris Rn. 9). § 7 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 3b und c, Abs. 3a Nr. 2 SGB II hebe nicht die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf. Die Leistungsberechtigung dem Grunde nach sei zwar nicht Voraussetzung für die Zugehörigkeit einer Bedarfsgemeinschaft, aber für den jeweiligen individuellen Leistungsanspruch. Eine Person könne auch einer Bedarfsgemeinschaft angehören, ohne leistungsberechtigt nach dem SGB II zu sein (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19.10.2016 – B 14 AS 40/15 R, juris Rn. 22f.). Auch § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründe kein Aufenthaltsrecht, sondern enthalte nur eine Ermessensvorschrift bezüglich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzuges. Der Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis habe § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegengestanden, wonach die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs versagt werden könne, wenn derjenige, zu dem der Familiennachzug stattfinde, für den Unterhalt von anderen Familienangehörigen oder anderen Haushaltsangehörigen auf Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII angewiesen sei (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 01.11.2017 – L 15 AS 215/17 B ER, juris Rn. 9).

Der Senat hat die beim SG Konstanz unter dem Aktenzeichen S 5 AS 2342/18 ER geführte Akte beigezogen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe


Der Senat ist aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten befugt, durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG zu entscheiden. Die infolge der für das LSG Baden-Württemberg bindenden (§ 144 Abs. 3 SGG) Berufungszulassung im Urteil des SG Konstanz vom 20.10.2020 gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist überwiegend begründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der Aufhebung des Urteils des SG Konstanz vom 20.10.2020 der Bescheid vom 01.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.10.2018 sowie das Begehren der Klägerin, den Bescheid vom 10.07.2018 zurückzunehmen und ihr Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 zu gewähren. Das SG Konstanz hat die hierauf gerichtete kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4, § 56 SGG) der Klägerin zu Unrecht abgewiesen. Denn die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für den streitigen Zeitraum.

1. Der streitgegenständliche Bescheid vom 10.07.2018 ist gegenüber der Klägerin weiterhin wirksam und hat sich durch den Erlass des die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 ablehnenden Bescheides vom 25.02.2019 nicht erledigt. Dieser ist, ebenso wie der sich auf den genannten Zeitraum beziehende Erstattungsbescheid vom 25.02.2019 über insgesamt 507,12 €, nicht nach § 96 SGG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden. Soweit die Klägerin ihre Klage mit Schriftsatz vom 03.11.2019 auf diese Bescheide erweitert hat, ist sie unzulässig, weil es insoweit schon an der als Prozessvoraussetzung erforderlichen Klagebefugnis fehlt, nachdem diese Bescheide ihr gegenüber keine Regelung treffen. Die Berufung der Klägerin war insoweit zurückzuweisen.

Ein Verwaltungsakt wird nach § 39 Abs. 1 SGB X in dem Zeitpunkt seiner Bekanntgabe wirksam und bleibt gemäß § 39 Abs. 2 SGB X wirksam, solange er nicht und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

Gemäß § 41a Abs. 1 SGB II ist über die
Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig zu entscheiden, wenn zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geld- und Sachleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist und die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen (Nr. 1) oder ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist (Nr. 2). Gemäß § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt.

Zwar hat der Beklagte bezogen auf G und die beiden Kinder mit dem Bescheid vom 10.07.2018 eine vorläufige Regelung im Sinne des § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II getroffen, indem er ihnen im Hinblick auf die nicht absehbare Höhe des im Bewilligungsabschnitt zufließenden Arbeitseinkommens vorläufig Leistungen unter Berücksichtigung der in der Zeit von Januar 2018 bis Mai 2018 nachgewiesenen Lohnzahlungen sowie des Kindergeldes bewilligt hat.

Eine solche Regelung im Sinne des § 41a Abs. 1 SGB II hat der Beklagte jedoch im Bescheid vom 10.07.2018 bezogen auf die Klägerin nicht getroffen. Denn er hat hinsichtlich der Klägerin weder einen Anspruch auf Geld- oder Sachleistungen als mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen, noch hat der Beklagte überhaupt einen tatsächlich bestehenden Anspruch angenommen. Vielmehr hat der Beklagte mit Bescheid vom 10.07.2018 den für die Klägerin am 28.06.2018 gestellten Antrag auf Leistungen nach dem SGB II abgelehnt und hat diese gegenüber der Klägerin durch Verwaltungsakt getroffene Regelung (§ 31 Satz 1 SGB X) damit begründet, dass sie (die Klägerin) bei „der Leistungsberechtigung nicht berücksichtigt werden (§ 7 SGB II)“ könne. Damit ist keine vorläufige Regelung im Sinne von § 41a Abs. 1 SGB II ergangen, sondern der Beklagte hat einen Leistungsanspruch der Klägerin für den streitigen Zeitraum dem Grunde nach und endgültig abgelehnt.

Deshalb ist eine Erledigung auf andere Weise in Bezug auf den gegenüber der Klägerin ergangenen Bescheid vom 10.07.2018 nicht eingetreten. Denn der Bescheid vom 10.07.2018 wird in seinem gegenüber der Klägerin ergangenen Regelungsgehalt durch den endgültigen (Ablehnungs-)Bescheid und den Erstattungsbescheid vom 25.02.2019 nicht berührt.

Zwar hat der Beklagte hinsichtlich G und den Kindern mit dem Bescheid vom 10.07.2018 eine vorläufige Regelung im Sinne des § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II getroffen und nach Bekanntwerden der Höhe des von G im streitigen Bewilligungszeitraum erzielten Arbeitsentgelts sodann abschließend (§ 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II) über die Ansprüche des G und der beiden Kinder entschieden und deren Antrag vom 28.06.2018 abgelehnt. Damit hat sich der Bescheid vom 10.07.2018 insoweit, als mit ihm hinsichtlich G und der beiden Kinder eine vorläufige Regelung getroffen worden war, auf andere Weise im Sinne von § 39 Abs. 2 SGB X erledigt (BSG, Urteil vom 30.03.2017 – B 14 AS 18/16, juris Rn. 10).

Soweit der Beklagte mit dem Bescheid vom 10.07.2018 über den für die Klägerin gestellten Leistungsantrag vom 28.06.2018 entschieden hat, hat sich der Bescheid indes nicht erledigt. Zum einen war – wie oben ausgeführt – bezogen auf die Klägerin bereits keine vorläufige Regelung im Sinne des § 41a Abs. 1 SGB II getroffen worden, so dass auch deren Ersetzung durch eine abschließende Bewilligung im Sinne von § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht in Betracht kommt. Zudem hat der Beklagte mit der im Bescheid vom 25.10.2018 vorgenommenen „Aufhebung“ gegenüber der Klägerin keine neue Regelung getroffen. Denn der am 28.06.2018 für die Klägerin gestellte Leistungsantrag war ihr gegenüber bereits mit Bescheid vom 10.07.2018 dem Grunde nach abgelehnt worden. Da der Aufhebungsbescheid vom 25.10.2018 im Verhältnis zwischen der Klägerin und dem Beklagten die Ablehnung von Leistungen für den Zeitraum vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 allenfalls wiederholt, kommt diesem Verwaltungsakt insoweit kein eigenständiger Regelungsgehalt zu.  

2. Der Bescheid vom 01.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.10.2018 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018. Der Beklagte war daher zu verpflichten, den Bescheid vom 10.07.2018 abzuändern und der Klägerin für die Zeit von 01.06.2018 bis 30.11.2018 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Da die Beteiligten hier über den Anspruch der Klägerin auf SGB II-Leistungen dem Grunde nach streiten, konnte der Senat in Ausübung seines insoweit bestehenden Ermessens seine Entscheidung auf ein Grundurteil (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) beschränken (vgl. zur grundsätzlichen Zulässigkeit eines Grundurteils auch in Fällen des § 44 SGB X etwa BSG, Urteil vom 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R, juris Rn. 12 und BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R, BSGE 114, 20-26, juris Rn. 9).

2.1 Die Anspruchsvoraussetzungen waren gegeben.

Rechtsgrundlage für diesen Anspruch ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der ab dem 29.12.2016 bis zum 31.07.2019 gültigen Fassung vom 22.12.2016 (a.F.). Hiernach erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig sind (Nr. 2), hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte) (Nr. 4). Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhalten neben dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II) außerdem Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II).

2.1.1 Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht und sie war erwerbsfähig.

2.1.2 Die Klägerin war auch hilfebedürftig.

Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum kein eigenes Einkommen und war somit gemäß § 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, da sie ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern konnte und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhielt.

Die Klägerin war auch unter Berücksichtigung des Einkommens des G hilfebedürftig.

Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen.

Die Klägerin bildete im hier streitigen Zeitraum mit G und den gemeinsamen Kindern eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3c und Nr. 4 SGB a.F.. Zwischen ihr und G bestand eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II a.F.. Eine solche setzt voraus, dass eine auf Dauer angelegte eheähnliche Gemeinschaft besteht, die Partner in einem gemeinsamen Haushalt im Sinne einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zusammenleben und ein wechselseitiger Wille besteht, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Ein Einstandswillen wird u. a. nach § 7 Abs. 3a Nr. 2 SGB II a.F. vermutet, wenn Partner mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben. Dies war vorliegend der Fall und eine Bedarfsgemeinschaft hat vorgelegen.

Aus den Angaben im Hauptantrag vom 28.06.2018 und in den beigefügten Anlagen – an deren Richtigkeit zu zweifeln für den Senat keine Veranlassung besteht –, aus den von G vorgelegten Lohnabrechnungen und dem Kontoauszug sowie der Einweisungsverfügung der Stadt E vom 12.04.2018 ergibt sich, dass die Klägerin nicht über eigenes Einkommen oder Vermögen verfügte. Auch konnte sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen des mit ihr in Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden G sichern. Weder die Klägerin noch G verfügten über Vermögen, mit dem sie den Lebensunterhalt für die Bedarfsgemeinschaft hätten sichern können und sie erhielten die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen. (§ 9 Abs. 1 SGB II). Aus der vom Beklagten im Klageverfahren erstellten Probeberechnung ergibt sich für den Senat, dass die Klägerin in der Zeit vom 01.06.2018 bis zum 30.11.2018 auch unter Berücksichtigung des Einkommens des G und des Kindergeldes jedenfalls nicht in der Lage war, ihren grundsicherungsrechtlichen Bedarf selbst vollständig zu decken, daher hilfebedürftig gewesen ist und daher Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gehabt hat. Die Höhe der der Klägerin im Einzelnen zustehenden Leistungen ist nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.

Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Das Vorliegen all dieser Anspruchsvoraussetzungen ist vom Beklagten zu keinem Zeitpunkt bestritten worden.

2.2 Die Klägerin ist bezogen auf den streitgegenständlichen Zeitraum nicht von dem Kreis der nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. leistungsberechtigten Personen ausgenommen.

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. sind von den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. ausgenommen (haben also keinen Anspruch) Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU in der vom 09.12.2014 bis zum 23.11.2020 gültigen Fassung vom 02.12.2014 (a.F.) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr. 1) und Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben (Nr. 2a), deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2b) oder die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des AsylbLG (Nr. 3).

Keiner dieser Ausschlussgründe ist gegeben

2.2.1 Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II a.F. sind nicht gegeben.

Ausweislich der Meldebestätigung des Einwohnermeldeamtes der Stadt E vom 16.04.2018 war die Klägerin jedenfalls seit dem 12.04.2018 in dieser im Zuständigkeitsbereich des Beklagten liegenden Gemeinde mit alleiniger Wohnung in der U-Straße in E-A gemeldet. Da es sich bei dieser Wohnung um eine Obdachlosenunterkunft handelte, in die G, die Klägerin, die beiden Kinder und die Mutter der Klägerin durch Einweisungsverfügung der Stadt E vom 12.04.2018 eingewiesen worden waren, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin sich jedenfalls ab diesem Tag in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt. Es kann offenbleiben, ob die Klägerin sich bereits vor dem 12.04.2018, und damit bei Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums bereits länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhielt. Denn der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II a.F. vorgesehene Leistungsausschluss für die ersten drei Monate des Aufenthalts erfasst u.a. jedenfalls nicht solche Personen, die als Familienangehörige unter den Voraussetzungen eines der in §§ 27 bis 36a AufenthG geregelten Aufenthaltsrechte (Aufenthalt aus familiären Gründen) nach Deutschland ziehen (Leopold in jurisPK-SGB II, Stand, § 7, Rn. 112; LSG
Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 – L 9 AS 3548/16, juris Rn. 24ff.). Da die Klägerin sich für die Zeit ab dem 01.06.2018 auf ein materielles Aufenthaltsrecht berufen kann (hierzu nachfolgend unter 2.2.2 b.) sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II a.F. nicht erfüllt.

2.2.2 Auch sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II nicht gegeben.

Zwar ist die Klägerin Ausländerin. Sie hatte aber ein Aufenthaltsrecht.

a. Zwar verfügte die Klägerin im streitigen Zeitraum über keine unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung.

Die Voraussetzungen der Aufenthaltsrechte aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU a.F. liegen nicht vor, denn die Antragstellerin hat keine abhängige oder selbständige Tätigkeit ausgeübt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FreizügG/EU a.F.) und hat sich nicht zu dem Zwecke in Deutschland aufgehalten, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 FreizügG/EU a.F.). Ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU a.F. kann nicht festgestellt werden, denn Anhaltspunkte für andauernde und erfolgversprechende Bewerbungsbemühungen sind weder nach Aktenlage ersichtlich noch von der Klägerin vorgetragen. Sie hat auch nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU a.F.). Die Klägerin ist im streitigen Zeitraum
nicht mit G verheiratet gewesen und zwischen ihnen hat auch keine Lebenspartnerschaft nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz bestanden, so dass sie im streitigen Zeitraum auch keine Familienangehörige i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU a.F. gewesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, juris Rn. 33). Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht liegen für die im April 2018 in die Bundesrepublik eingereiste Klägerin ebenfalls nicht vor (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU a.F.).

Eine Freizügigkeitsberechtigung ergibt sich für die Klägerin auch nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU a.F., da ihre Kinder nicht zu den in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 und Nr.7 FreizügG/EU a.F. genannten Personen gehört haben, sondern ihrerseits lediglich als Familienangehörige des G nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU a.F. freizügigkeitsberechtigt gewesen sind.

Hiernach haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU a.F. genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. – also das Recht auf Einreise und Aufenthalt –, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Familienangehörige in diesem Sinne sind gem. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU a.F. u.a. Verwandte in gerader absteigender Linie, denen der Unionsbürger Unterhalt gewährt. Danach ergibt sich vorliegend die Freizügigkeitsberechtigung der Kinder der Klägerin, weil G als Vater der Kinder seinerseits ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU a.F. besaß, da er aufgrund seiner Tätigkeit bei der K L Smühle mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mehr als 20 Stunden Arbeitnehmer war und die Kinder (als Verwandte in gerader absteigender Linie) noch nicht 21 Jahre alt waren (§ 3 Abs. 2 FreizügG/EU a.F.). Darüber hinaus gewährte G den Kindern auch Unterhalt. Ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger gewährt einem Familienangehörigen Unterhalt, wenn er ihm tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER, juris Rn. 43). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte im streitgegenständlichen Zeitraum ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 787,44 € bei der Leistungsgewährung nach dem SGB II berücksichtigte. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass G den Kindern aufgrund dieser Einnahmen tatsächlich regelmäßige Unterhaltszahlungen zukommen ließ, indem er sein Einkommen für den Lebensbedarf der Familie verwendet hat. Im Übrigen wohnten G und die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum mit den beiden gemeinsamen Kindern zusammen. Gemäß § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB erfüllt der Elternteil, der ein minderjähriges Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Pflege und die Erziehung des Kindes. Es besteht bis zur Volljährigkeit des Kindes grundsätzlich rechtliche Gleichwertigkeit zwischen dem Betreuungsunterhalt, also der Pflege und der Erziehung des minderjährigen unverheirateten Kindes, und dem Barunterhalt (Viefhues in: Herberger/Martinek/ Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, Stand 20.12.2022, § 1606 BGB, Rn. 10). Somit erfüllte G seine Unterhaltsverpflichtung zumindest teilweise auch durch die tatsächliche Gewährung von Betreuungsunterhalt. Die Kinder waren damit freizügigkeitsberechtigt.

Die Kinder der Klägerin haben im streitigen Zeitraum somit (lediglich) eine von G abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehörige nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU a.F. gehabt. Mangels gesetzlicher Anspruchsgrundlage kann die Klägerin aus dieser Rechtsposition ihrer Kinder für sich keine Freizügigkeitsberechtigung ableiten.

b. Aber die Klägerin kann sich für den streitigen Zeitraum aber auf ein materielles Aufenthaltsrecht berufen.

Ein Leistungsausschluss im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. liegt für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der EU dann nicht vor, wenn diese über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder über ein materielles Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen (vgl. BSG, Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R, juris Rn. 15 [für einen Bewilligungszeitraum vom 01.03.2017 bis zum 31.08.2017]; vgl. auch BSG, Urteil vom 12.05.2021 – B 4 AS 34/20 R, juris Rn. 15; Urteil vom 30.08.2017 – B 14 AS 31/16, juris Rn. 22 und Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, juris; Leopold in jurisPK-SGB II, § 7, Rn. 131).

Der Umstand, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum nicht Inhaberin eines Aufenthaltstitels in diesem Sinne gewesen ist, steht einem Leistungsanspruch nicht entgegen. Denn soweit Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern nach § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in der vom 29.07.2017 bis zum 23.11.2020 gültigen Fassung vom 20.07.2017 (a.F.) i.V.m. den Vorschriften des AufenthG zu prüfen sind, ist es nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, juris Rn. 19; Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13, juris Rn. 13) unerheblich, ob dem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel nach dem AufenthG tatsächlich erteilt worden ist. Entscheidend ist vielmehr, ob demjenigen ein solcher Titel zu erteilen (gewesen) wäre (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 10.05.2021 – L 7 AS 342/21 B ER, juris Rn. 44; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER, juris Rn. 41; Leopold in jurisPK-SGB II, Stand 29.11.2021, § 7, Rn. 122.2).

Da nach dem FreizügG/EU a.F. laut dessen § 11 Abs. 1 Satz 11 das AufenthG auch dann Anwendung gefunden hat, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt hat als das FreizügG/EU a.F., ergibt sich für die Klägerin bezogen auf den streitigen Zeitraum ein materielles Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG sieht vor, dass einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge auch ohne Existenzsicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat.

Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

Die sich daraus ergebende Rechtsfrage, ob § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aufgrund des in Art. 18 Abs. 1 AEUV statuierten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf minderjährige Unionsbürger, die über ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU verfügen, und ihre Eltern Anwendung findet, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten.

Teilweise wird unter Hinweis auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 AEUV) und unter Berücksichtigung der in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechte vertreten, dass ein sorgeberechtigter Elternteil mit Unionsstaatsbürgerschaft zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedsstaat berechtigt ist, wenn dessen Kind als minderjähriger Unionsbürger selbst ein Aufenthaltsrecht in diesem Staat hat (so z.B.: LSG für das Saarland, Beschluss vom 07.09.2021 – L 4 AS 23/20 WA; juris Rn. 29 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.02.2021 – L 2 AS 3/21 B ER, juris Rn. 36 ff.; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 19 AS 1713/15 B ER, juris, Rn. 15; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER, juris Rn. 41 m.w.N.; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.10.2018 – L 19 AS 1472/18 B ER, juris Rn. 28 ff.; Leopold in jurisPK-SGB II, Stand 29.11.2021, § 7, Rn. 134; ebenso Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 11 FreizügG/EU Rn. 101-103; Oberhäuser in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU § 11 Rn. 57 ff.; Huber/Eichenhofer/Endres de Oliveira, Ausländerrecht, 1. Auflage 2017, §§ 27-36 AufenthG, Rn. 771 ff.).

Teilweise wird aber auch mit dem Argument, das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV gelte nicht absolut und ohne Ausnahmen, sondern lediglich „unbeschadet der besonderen Bestimmungen der Verträge“, zur vorliegend aufgeworfenen Rechtsfrage die Auffassung vertreten, dass der sorgeberechtigte Elternteil mit Unionsstaatsbürgerschaft von dem Aufenthaltsrecht seines Kindes kein eigenes Aufenthaltsrecht ableiten kann (so z.B.: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.04.2022 – L 18 AS 312/22 B ER, juris Rn. 8; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.07.2017 – L 21 AS 782/17 B ER, juris Rn. 43; Hessisches LSG, Beschluss vom 29.07.2021 – L 6 AS 209/21 B ER, juris Rn. 137 ff.; Hessisches LSG, Beschluss vom 20.04.2020 – L 7 AS 114/20, juris Rn. 38; Hessisches LSG, Beschluss vom 21.08.2019 – L 7 AS 285/19 B-ER, juris Rn. 45; Hailbronner in: AuslR, Stand Dezember 2022, Freizügigkeitsgesetz/EU § 11 Rn. 100),

Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, welcher dieser Rechtsauffassungen grundsätzlich zu folgen ist. Denn der Senat sieht die Voraussetzungen für eine Aufenthaltsberechtigung der Klägerin hier bei Abwägung der Umstände des Einzelfalls jedenfalls unter Berücksichtigung der in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechte ihres jüngsten Kindes als erfüllt an.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in den Beschlüssen vom 04.10.2019 – 1 BvR 1710/18 (juris Rn. 13) (betreffend die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen mangelnder Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs) und vom 08.07.2020 – 1 BvR 932/20 (juris Rn. 15) und 1 BvR 1094/20 (juris Rn. 15) (beide betreffend die Ablehnung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Beschwerdeverfahren vor einem LSG) ausgeführt, dass bei Beantwortung der Frage, ob dem sorgeberechtigten Elternteil eines wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU a.F. freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers über § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV ein Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vermittelt werden kann, auch die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berücksichtigt werden müssen. Insoweit müssten die Konsequenzen einer Rückkehr des betroffenen Elternteils in das Heimatland und damit die Trennung von der Familie im Lichte von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewürdigt werden. Der bloße Verweis auf die Betreuung der gemeinsamen Kinder durch den anderen Elternteil reiche hierfür nicht aus.

Bereits im Beschluss vom 12.05.1987 – 2 BvR 1226/83 (juris, Rn. 88) hat das BVerfG für den Fall einer Auferlegung von Wartezeiten für den Nachzug ausländischer Staatsangehöriger zu bereits im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen ausgeführt, der einem Betroffenen infolge eines Einreise- und Aufenthaltsverbots praktisch auferlegte Zwang, für geraume Zeit eine räumliche Trennung von seinen Angehörigen hinzunehmen oder ein bestehendes Aufenthaltsrecht endgültig aufzugeben und die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, sei geeignet, das Ehe- und Familienleben zu beeinträchtigen und müsse sich daher an Art. 6 Abs. 1 GG messen lassen.

Im Beschluss vom 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08 (juris Rn. 31, 33) hat das BVerfG dargelegt, bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berührten, könnten die Folgen einer vorübergehenden Trennung ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen sei, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen könne und diese rasch als endgültigen Verlust erfahre.

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, juris Rn. 36) ist es hinsichtlich des Aufenthaltsrechts eines sorgeberechtigten Elternteils geboten, besonders die Belange sehr kleiner Kinder zu würdigen und zu verhindern, dass diese im ersten Jahr nach der Geburt von der Erziehungsleistung der leiblichen Eltern ausgeschlossen werden.

Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Gemäß Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zwar begründet Art. 6 GG keinen unbedingten, unmittelbaren grundrechtlichen Anspruch eines Familienangehörigen auf Nachzug zu den berechtigt in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ausländischen Familienmitgliedern. Allerdings begründet Art. 6 GG in seiner Funktion als „wertentscheidende Grundsatznorm“ die Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen. Dieser Pflicht entspricht ein Anspruch des Trägers der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das GG dem Schutz von Ehe und Familie beimisst (BVerfG, Beschluss vom 12.05.1987 – 2 BvR 1226/83, juris).


Dies zugrunde gelegt, ergibt sich im hier vorliegenden Fall Folgendes: Die Klägerin und G sind ausweislich der aktenkundigen rumänischen Geburtsurkunden Eltern der gemeinsamen Kinder, was als Entscheidung der ausländischen (rumänischen) Behörde grundsätzlich im Bundesgebiet anzuerkennen ist (Tewocht in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 01.01.2021, § 28 AufenthG, Rn. 24). Gemäß § 1626 Abs. 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge), wobei die elterliche Sorge auch die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) umfasst. Hiernach haben die Klägerin und G das Personensorgerecht für die beiden Kinder. Anhaltspunkte dafür, dass dies im streitigen Zeitraum nicht der Fall gewesen sein sollte, liegen nicht vor. Die Klägerin hat im streitigen Zeitraum mit G und den Kindern in einem Haushalt zusammengelebt und hat hierbei das Personensorgerecht für die Kinder tatsächlich ausgeübt.

In Anwendung der oben aufgezeigten Vorgaben hält der Senat es für geboten, insbesondere den in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechten des nach der o.g. Rechtsprechung von BVerfG und BSG besonders schutzwürdigen jüngeren Kindes der Klägerin hier maßgebliches Gewicht beizumessen. Denn wollte man der Klägerin ein aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV abgeleitetes materielles Aufenthaltsrecht versagen, hätte entweder sie allein oder sie gemeinsam mit einem Kind oder mit beiden Kindern Deutschland verlassen müssen, da das Erwerbseinkommen des G ausweislich der vom Beklagten vorgelegten Probeberechnung den Bedarf der Familie, und damit das Existenzminimum nicht vollumfänglich gedeckt hätte. Als Konsequenz hätte sich ergeben, dass die Kinder von einem ihrer Elternteile räumlich getrennt und von dessen Erziehungsleistung ausgeschlossen worden wären. Hiermit wäre jedenfalls für das jüngere Kind, das im Juni 2018 sein erstes Lebensjahr vollendet hat, eine Verletzung dessen in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierter Rechte zu befürchten gewesen. Denn gerade den Folgen einer auch nur vorübergehenden Trennung von den Eltern soll nach der o.g. höchstrichterlichen Rechtsprechung besonders hohes Gewicht zukommen und soll eine Trennung von den leiblichen Eltern im ersten Lebensjahr gerade vermieden werden. Diese Erwägungen gelten im vorliegenden Fall für den gesamten streitigen Bewilligungszeitraum, da das jüngere Kind bei dessen Ablauf gerade erst 18 Monate alt geworden ist und sich immer noch im frühkindlichen Entwicklungsstadium befunden hat. Den Interessen zumindest des jüngeren Kindes kommt hier somit erhebliche Bedeutung zu. Diesem Ergebnis stehen vorliegend insbesondere keine anderweitigen überwiegenden (staatlichen) Belange entgegen. Letztere könnten im hier vorliegenden Fall allenfalls fiskalischer Natur sein und die im Falle eines Obsiegens an die Klägerin für den streitigen Zeitraum auszuzahlenden Leistungen nach dem SGB II betreffen. Ob finanzielle Belage dieser Art überhaupt grundsätzlich geeignet sein können, die in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechte zu überwiegen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn ausweislich der vom Beklagten erstellten Probeberechnung stünde der Klägerin für den streitigen Zeitraum ein Gesamtbetrag in Höhe von 303,00 € zu. Angesichts der Höhe der hier im Streit stehenden Leistungen kommt diesem fiskalischen Interesse jedenfalls keine die Grundrechte des jüngeren Kindes überwiegende Bedeutung zu. – hier müssen wir hinsichtlich der Summe wohl auf den Gesamtanspruch der Bedarfsgemeinschaft abstellen.

Eine andere Bewertung und Abwägung der hier zu beachtenden Rechtsgüter ergibt sich insbesondere nicht aus dem in den o.g. Entscheidungen von Landessozialgerichten gegen die Annahme eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts verwendeten Argument, eine Verletzung der Grundrechte der betroffenen Kinder bestehe bereits aus dem Grund nicht, da das familiäre Zusammenleben durch Verlegung des Aufenthaltes aller Familienmitglieder in das EU-Ausland außerhalb von Deutschland, also im EU-Herkunftsstaat gewährleistet sei (vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.04.2022 – L 18 AS 312/22 B ER, juris Rn. 11; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.05.2022 – L 8 AS 449/22 B ER, juris Rn. 18; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.07.2017 – L 21 AS 782/17 B ER, juris, Rn. 61)

Insoweit wird bereits nicht berücksichtigt, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG in die Güterabwägung einzubeziehen ist, dass die Rückkehr aller Familienmitglieder in den Herkunftsstaat für einzelne Familienmitglieder mit dem Verlust einer in Deutschland bereits erreichten wirtschaftlichen oder sozialen Stellung verbunden sein kann (BVerfG, Beschluss vom 12.05.1987 – 2 BvR 1226/83, juris Rn. 88). So wäre vorliegend die dauerhafte Herstellung einer familiären Gemeinschaft der Klägerin, des G und der Kinder in Rumänien zwar möglich gewesen, dies jedoch nur um den Preis, dass G seine seit Januar 2018 in Deutschland ausgeübte Erwerbstätigkeit hätte aufgeben müssen. Da G seine Arbeitszeit zeitlich hat aufstocken können und sein Verdienst ab Juni 2018 für die gesamte Bedarfsgemeinschaft nahezu bedarfsdeckend gewesen ist, kommt dem im Fall einer Rückkehr nach Rumänien erfolgten Verlust der von ihm erarbeiteten wirtschaftlichen und sozialen Stellung erhebliche Bedeutung zu. Schließlich hätten auch die Kinder im Fall einer Rückkehr nach Rumänien jeweils ihr materielles, von G abgeleitetes Aufenthaltsrecht verloren.

Zudem lässt diese von den Landessozialgerichten verwendete Argumentation außer Acht, dass die o.g. verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ausdrücklich eine „Gefahr“ für den Fall aufzeigt bzw. dem Umstand hohes Gewicht beimisst, wenn allein der betroffene Elternteil Deutschland verlässt (vgl. Beschlüsse vom 08.07.2020 ¬ 1 BvR 932/20, juris Rn. 15 und vom 08.07.2020 – 1 BvR 1094/20, juris Rn. 15 sowie vom 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08, juris Rn. 33). Diesbezüglich verweist das BVerfG nämlich gerade nicht darauf, dass eine Grundrechtsverletzung dadurch vermieden werden kann, dass die gesamte Familie gemeinsam in das Herkunftsland zurückkehrt. Der Rechtsprechung des BVerfG ist nicht zu entnehmen, dass bereits mit einer solchen Rückkehr dem Grundrecht von Eltern und Kindern auf familiäres Zusammenleben hinreichend entsprochen wäre. Sondern das BVerfG stellt ausdrücklich auch den Verweis allein des nicht originär freizügigkeitsberechtigten Elternteils (hier: denjenigen der Klägerin) auf eine Rückkehr in den EU-Herkunftsstaat unter den Vorbehalt, dass jedenfalls die daraus für das Kind folgenden Konsequenzen im Lichte dessen Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu würdigen sind. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist zudem zu beachten, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des eines Elternteils nicht durch die von dem anderen Elternteil geleistete Betreuungsleistung entbehrlich wird (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04, juris Rn. 20; Beschluss vom 09.12.2021 – 2 BvR 1333/21, juris Rn. 46; hierzu auch: Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2022, II., § 28 AufenthG Rn. 13) Unter Berücksichtigung dieser vom BVerfG aufgezeigten Grundsätze hält der Senat es bezogen auf eine Rückkehr des von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen Elternteils in das Herkunftsland mit der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, juris Rn. 36) für geboten, besonders die Belange sehr kleiner Kinder zu würdigen und die Gefahr zu berücksichtigen, dass diese im ersten Jahr nach der Geburt von der Erziehungsleistung der leiblichen Eltern ausgeschlossen werden. Im vorliegenden Fall erweist es sich daher vor dem Hintergrund der in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechte als geboten, jedenfalls unter Berücksichtigung der Belange des jüngsten Kindes der Klägerin § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG analog anzuwenden.

Im vorliegenden Fall ergibt sich für die Klägerin daher jedenfalls unter Berücksichtigung der ihrem jüngeren Kind in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechte im streitigen Zeitraum ein materielles Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV in entsprechender Anwendung. Sie hatte im streitigen Zeitraum für ihr jüngeres Kind (eine minderjährige Unionsbürgerin) das elterliche Sorgerecht inne und übte dieses aus. Aus dieser Rechtsstellung kann sie unter Berücksichtigung des in Art. 18 Abs. 1 AEUV statuierten Inländergleichbehandlungsgebotes ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ableiten, denn ihr Kind hatte im selben Zeitraum ein Aufenthaltsrecht im Sinne einer von G abgeleiteten Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehörige nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 6 FreizügG/EU a.F. (s.o.).

2.2.3 Ferner sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II in der vom 29.12.2016 bis zum 31.07.2019 gültigen Fassung vom 22.12.2016 nicht gegeben, da sich das Aufenthaltsrecht der Klägerin nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.

2.2.4 Auch lagen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II a.F. nicht vor, da die Klägerin ihr Aufenthaltsrecht nicht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten konnte.

Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 lautet: „Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.“ Die Voraussetzungen für ein hieraus abgeleitetes Aufenthaltsrecht sind vorliegend nicht erfüllt, da die Kinder der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum drei Jahre alt bzw. ein Jahr alt waren und somit nicht bis zum 30.06.2018 ihr sechstes Lebensjahr vollendet hatten. Nach der für ihren Wohnort in E-A maßgeblichen Regelung in §§ 72, 73 SchG Baden-Württemberg waren die Kinder der Klägerin nicht schulpflichtig und nahmen nicht am allgemeinen Unterricht teil.

2.2.5 Schließlich sind auch die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II a.F. nicht gegeben. Die Klägerin war nicht Leistungsberechtigte nach § 1 des AsylbLG in der vom 24.10.2015 bis zum 20.08.2019 gültigen Fassung vom 20.10.2015 (a.F.). Denn sie besaß keine Aufenthaltsgestattung nach dem AsylG (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG a.F.), sie wollte nicht über einen Flughafen einreisen, wobei ihr die Einreise nicht oder noch nicht gestattet war (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylbLG a.F.), sie besaß keine Aufenthaltserlaubnis wegen Krieges in ihrem Heimatland, keine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 oder § 24 des AufenthG und keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG a.F.), sie besaß keine Duldung nach § 60a AufenthG (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG a.F.), sie war nicht vollziehbar ausreisepflichtig auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar war (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG a.F.), sie war nicht Ehegattin, Lebenspartnerin oder minderjähriges Kind der in § 1 Abs. 1 Nr. 1-5 AsylbLG a.F. genannten Personen, ohne dass sie selbst die dort genannten Voraussetzungen erfüllte (§ 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG a.F.) und sie hatte keinen Folgeantrag nach § 71 AsylG oder einen Zweitantrag nach § 71a AsylG gestellt (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 AsylbLG a.F.).

Auf die Berufung der Klägerin war daher das Urteil des SG Konstanz aufzuheben und der Beklagte war unter Aufhebung der streitigen Bescheide zu verurteilen, den Bescheid vom 10.07.2018 abzuändern und der Klägerin im streitigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung der Klägerin, die in der Sache obsiegt hat, überwiegend erfolgreich war.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der hierfür in § 160 Abs.2 SGG vorgesehenen Gründe vorliegt.

 

Rechtskraft
Aus
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