L 8 SO 84/23 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 34 SO 4012/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 8 SO 84/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Im Einzelfall können auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage die beiden Härtefallregelungen nach § 23 Abs 3 S 6 Halbs 1 und 2 SGB XII nebeneinander Anwendung finden (Fortführung von LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.11.2018 - L 8 SO 134/18 B ER - juris Rn 26).
2. Die Ausnahme nach § 23 Abs 3 S 7 Halbs 1 SGB XII von den Leistungsausschlüssen nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII kann eingreifen, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs 1 FreizügG festgestellt wurde, aber gegen die Feststellung Klage erhoben worden ist und dieser aufschiebende Wirkung zukommt. Der Verlustfeststellung kommt insoweit keine Tatbestandswirkung zu (Festhalten an LSG Niedersachsen-Bremen v. 06.11.2017 - L 8 SO 262/17 B ER - juris Rn 27 ff. und vom 28.05.2019 - L 8 SO 109/19 B ER - juris Rn. 9 m.w.N. - jeweils zur Parallelvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II; vgl. auch BVerfG v. 26.2.2020 - 1 BvL 1/20 - juris Rn. 18).

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 16. Juni 2023, soweit durch diesen der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtschutzes abgelehnt und über die Kosten entschieden worden ist, aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII für die Zeit vom 5. April 2023 bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über ihren Leistungsantrag vom 14. März 2023, längstens jedoch bis zum 30. November 2023, zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Verfahren zu erstatten.

Der Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe:

I.

Im Streit sind vorläufige lebensunterhaltssichernde Leistungen ab Anfang April 2023.

Die 2000 geborene, einkommens- und vermögenslose Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige und aufgrund einer paranoiden Schizophrenie (F20.0) jedenfalls bis Ende Oktober 2024 voll erwerbsgemindert (Stellungnahme der DRV Braunschweig-Hannover vom 19.4.2023). Sie lebt bei ihrem Onkel und seiner Ehefrau, die ebenfalls aus Polen stammen und ihre ehemaligen Pflegeeltern sind (von 2000 bis 2010), in einer im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gelegenen etwa 60 qm großen Zweizimmerwohnung, für die Kosten der Unterkunft und Heizung von insgesamt 613,00 € zu entrichten sind (Grundmiete von 389,00 € sowie Vorauszahlungen für Neben- und Heizkosten von 139,81 € bzw. 84,19 €). N.e.A. hatte ihre Mutter sie nach der Geburt verlassen, ihr Vater starb 2004.

Die Einreise der Antragstellerin nach Deutschland erfolgte am 21.11.2018 unmittelbar nach einem stationären Aufenthalt in Polen (vom 13.10. bis zum 20.11.18) gemeinsam mit ihrem Onkel, der zusammen mit seiner Ehefrau zunächst für ihren Lebensunterhalt aufkam; er ist zu einem Monatslohn von 2.200,00 € (bzw. 1.552,55 € netto) abhängig beschäftigt, seine Ehefrau geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Aufgrund ihrer schweren Erkrankung wurde die Antragstellerin auf Veranlassung der Antragsgegnerin auf Grundlage des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) vom 3.8. bis zum 15.9.2021 im G. Klinikum H. behandelt. Seit April 2022 ist für sie durch das Amtsgericht Hildesheim (73 XVII J 693) eine Betreuerin bestellt (mit den Aufgabenkreisen u.a. betreffend die Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung sowie Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten).

Nachdem der Ende Mai 2022 beim Jobcenter Hildesheim gestellte Antrag auf lebensunterhaltssichernde Leistungen abgelehnt worden war (Bescheid des Jobcenters vom 8.6.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.8.2022; ein Klageverfahren ist - soweit ersichtlich - noch anhängig), verpflichtete das Sozialgericht (SG) Hildesheim die im Eilverfahren beigeladene Antragsgegnerin, der Antragstellerin ab dem 4.10.2022 bis längstens zum 4. April 2023 lebensunterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren (Beschluss vom 5.12.2022 - S 58 AS 4132/22 ER). Wegen durchgreifender Zweifel an der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin - auch schon vor der o.g. Stellungnahme der DRV Braunschweig-Hannover - scheide ein Anspruch nach dem SGB II aus. Ein Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 SGB XII liege nicht vor, weil die Antragstellerin als Unionsbürgerin bis zu einer Verlustfeststellung durch die Ausländerstelle freizügigkeitsberechtigt sei und sich auch nicht allein zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen diese Entscheidung, die durch Ausführungsbescheid vom 2.2.2023 für den o.g. Zeitraum umgesetzt wurde, ist beim Landessozialgericht (L 9 AS 13/23 B ER) - soweit ersichtlich - noch anhängig.

Ende April 2023 stellte die Antragsgegnerin (Ausländerstelle) fest, dass die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU sowie nach § 3a Abs. 1 FreizügG/EU für die Antragstellerin nicht vorliegen, und forderte diese mit Abschiebungsandrohung auf, Deutschland innerhalb eines Monats zu verlassen (Bescheid vom 25.4.2023). Gegen diese Entscheidung ist beim Verwaltungsgericht (VG) Hannover eine Klage anhängig (12 A 3193/23).

Nachdem die Antragsgegnerin eine Leistungsgewährung auch für die Zeit ab dem 5.4.2023 (vgl. den Leistungsantrag der Antragstellerin vom 14.3.2023) ohne förmliche Bescheidung wiederholt (am 17. und 31.3.2023) abgelehnt hatte, hat die Antragstellerin am 27.4.2023 beim SG wiederum um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Das SG hat den Eilantrag u.a. mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin sei von Sozialhilfeleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen, weil sie nicht freizügigkeitsberechtigt sei und sich in Deutschland rechtswidrig aufhalte. Einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII habe sie ebenfalls nicht, weil ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen keinen besonderen Härtefall bzw. Reiseunfähigkeit begründen würden. Eine Krankenbehandlung sowie Unterstützung und Begleitung - ähnlich einer Betreuung bzw. Pflegschaft - seien in ihrem Heimatland Polen ebenso möglich (Beschluss vom 16.6.2023, zugestellt am 19.6.2023).

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 19.7.2023. Zusammen mit ihren Ausführungen im erstinstanzlichen Verfahren macht sie u.a. geltend, ihr Freizügigkeitsrecht für nahestehende Personen beruhe auf § 3a FreizügG/EU. Die insoweit beim VG Hannover erhobenen Klage (12 A 3193) entfalte aufschiebende Wirkung. Jedenfalls sei es ihr aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich bzw. zuzumuten, in ihr Heimatland auszureisen; sie beruft sich insoweit auf die vorliegenden medizinischen Berichte, u.a. die Ausführungen der DRV Braunschweig-Hannover vom 19.4.2023 (auf das Ersuchen nach § 45 SGB XII), den Bericht des G. Klinikums H. über die laufende ambulante Behandlung vom 5.4.2023 und eine noch v.A.w. durchzuführende amtsärztliche Untersuchung. Ihre gesundheitliche Situation stelle sich im Alltag - wohl aus Sicht ihres Onkels und dessen Ehefrau - so dar, dass sie im Vergleich zu früheren Zeiten zwar ruhiger, aber nur wenig ansprechbar sei und sich - wenn sie überhaupt reagiere - äußert wirr und zusammenhanglos äußere. In der Regel verbringe sie den Alltag stillsitzend oder liegend auf dem Sofa. Körperhygiene und Medikamenteneinnahme erfolgten nicht selbstständig. Ihr Verhalten sei grundsätzlich sozial konform. Ein Verlassen des Hauses bzw. die Alltagsbewältigung sei ihr aber wegen Überforderung nicht ohne Begleitung möglich. Sie befinde sich nicht in stationärer Behandlung, müsse aber die Klinik alle fünf Wochen im Beisein ihrer Betreuerin aufsuchen. Die Betreuungssituation habe sich durch die Pflegebedürftigkeit der Ehefrau ihres Onkels nunmehr nach einem Pflegegrad 2 weiter verschärft. Hilfsweise macht sie einen Leistungsanspruch nach dem AsylbLG geltend.

Die Antragsgegnerin hält den Beschluss des SG für zutreffend und macht geltend, der Antragstellerin stehe kein materielles Freizügigkeitsrecht zu, insbesondere nicht nach § 3a FreizügG/EU, weil u.a. ihr Lebensunterhalt gerade nicht sichergestellt sei. Sie sei aus diesem Grund von Sozialhilfeleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen; dies verstoße nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch nicht gegen die Verfassung (vgl. BSG, Urteil vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/22 R). Im Grundsatz höchstens für einen Monat vorgesehene Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII kämen nicht in Betracht, weil die Antragstellerin bereits über einen längeren Zeitraum vorläufige Leistungen erhalten habe. Die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug über einen Monat hinaus seien nicht nachgewiesen bzw. nicht glaubhaft gemacht, weil es insoweit an aktuellen medizinischen Befundunterlagen mangele. Die Ausführungen der DRV Braunschweig-Hannover vom 19.4.2023 sowie des G. Klinikums H. vom 5.4.2023 beträfen in erster Linie die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin. Die Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme bzw. eines Gutachtens sei nicht zielführend, weil dies derzeit wegen fehlender ärztlicher Unterlagen allein einer Ausforschung des medizinischen Sachverhaltes diene. Zunächst sei die Antragstellerin gehalten, weitere Befundunterlagen beizubringen. Im Übrigen sei sie nicht leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 AsylbLG, weil sie weder über eine Duldung verfüge (Nr. 4), noch vollziehbar ausreisepflichtig sei (Nr. 5). Ohnehin sei das AsylbLG nicht auf Unionsbürgerinnen anwendbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Antragsgegnerin (Leistungs- und Ausländerakten) Bezug genommen.

 

II.

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde ist begründet. Das SG hat den Eilantrag der Antragstellerin zu Unrecht abgelehnt.

Der Eilantrag richtet sich zutreffend gegen die Antragsgegnerin. Sie wird von dem für Leistungsberechtigte, die - wie die Antragstellerin - das 18. Lebensjahr vollendet haben, an sich sachlich zuständigen (vgl. § 97 SGB XII i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des SGB IX und des SGB XII - Nds. AG SGB IX/SGB XII - vom 24.10.2019, Nds. GVBl. 300, geändert durch Gesetz vom 30.6.2022, Nds. GVBl. 426) überörtlichen Träger der Sozialhilfe, dem Land Niedersachsen (§ 3 Abs. 1 und 3 SGB XII, § 2 Abs. 1 und 3 Nds. AG SGB IX/SGB XII), für die diesem obliegenden Aufgaben als große selbstständige Stadt (§ 14 Abs. 5 NKomVG) kraft Gesetzes nach § 4 Abs. 2 Nds. AG SGB IX/SGB XII herangezogen. Sie entscheidet insoweit gemäß § 6 Abs. 4 Nds. AG SGB IX/SGB XII im eigenen Namen und ist damit im gerichtlichen Verfahren passivlegitimiert (sog. Wahrnehmungszuständigkeit, vgl. etwa BSG, Urteil vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R - juris Rn. 14 m.w.N).

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - juris) dürfen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Anfechtungs- und (wie hier) Vornahmesachen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Art. 19 Abs. 4 GG stellt jedoch besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn wie hier ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In einem solchen Fall müssen die Gerichte nach der vorgenannten Entscheidung des BVerfG, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen; Fragen des Grundrechtsschutzes sind einzubeziehen. Ist dem Gericht hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, ebenda).

Nach diesen Maßgaben entscheidet der Senat auf Grundlage einer Folgenabwägung, die die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin, insbesondere deren notwendige medizinische Versorgung, in besonderer Weise in den Blick nimmt. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage kann die vornehmlich von dem VG Hannover in dem Verfahren 12 A 3193 gegenständliche Frage, ob die Antragstellerin zurzeit, insbesondere als nahestehende Person nach § 3a FreizügG/EU, freizügigkeitsberechtigt ist, unbeantwortet bleiben. Einen Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII unterstellt, ist es nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens keineswegs ausgeschlossen, sondern vielmehr gut möglich, dass sie gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf Hilfe zur Überwindung einer besonderen Härte nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII hat. Danach werden Leistungsberechtigten nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII, also nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII von Leistungen ausgeschlossenen Personen, zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen i.S.v. § 23 Abs. 1 SGB XII gewährt, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern (Halbs. 1); ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist (Halbs. 2). Die beiden Härtefallregelungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 Halbs. 1 und 2 SGB XII können nebeneinander Anwendung finden (Senatsbeschluss vom 29.11.2018 - L 8 SO 134/18 B ER - juris Rn. 26).

Ob die streitige Leistung auf Grund besonderer Umstände und zur Überwindung einer besonderen Härte i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII geboten ist, ist noch nicht hinreichend geklärt. Hierzu bedarf es noch weiterer Ermittlungen über die Erkrankung der Antragstellerin, ihrer persönlichen Situation, insbesondere bezogen auf die Unterstützung durch ihren Onkel und dessen Ehefrau sowie ihrer familiären Verhältnisse in ihrem Heimatland, und die Frage, unter welchen Umständen sie in zumutbarer Weise aus Deutschland ausreisen kann. Nach den vorliegenden medizinischen Befundberichten, auch aus dem Jahr 2021, dem Entlassungsbericht des G. Klinikums H. vom 15.9.2021 (stationärer Aufenthalt vom 3.8. bis zum 15.9.2021) und des Gesundheitsamtes des Landkreises Hildesheim vom 21.9.2021, ist die bei der Antragstellerin bestehende paranoide Schizophrenie (F20.0) stark ausgeprägt (gewesen). Wegen der nur eingeschränkten medizinischen Versorgung der Antragstellerin, deren Krankenbehandlung bis Oktober 2022 nicht leistungsrechtlich sichergestellt gewesen ist, besteht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass sich ihr Gesundheitszustand bis heute nicht wesentlich gebessert hat und sie auch weiterhin umfassender Hilfe bedarf. Hierfür spricht nicht zuletzt die vom AG Hannover angeordnete Betreuung sowie die insoweit glaubhaften Schilderungen (wohl des Onkels bzw. seiner Ehefrau) über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Alltag. Danach soll die Antragstellerin in wesentlichen Bereichen ihren Lebensalltag, aber auch die Sorge um ihre Gesundheit, nicht selbstständig bewältigen bzw. sicherstellen können, und sie ist auf umfassende Hilfe und Unterstützung angewiesen. Wegen der fehlenden Absicherung im Krankheitsfall bzw. der nicht geklärten Finanzierung von Gesundheitsleistungen ist es der Antragstellerin jedenfalls seit April 2023 (Ende der vorläufigen Leistungen der Antragsgegnerin) auch nicht vorzuhalten, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bezogen auf ihre Reisefähigkeit durch Vorlage von aktuellen ärztlichen Befundunterlagen glaubhaft zu machen. Jedenfalls bieten die besonderen Umstände des Einzelfalles, insbesondere die vorliegenden Befundunterlagen aus 2021, hinreichenden Anlass für weitere Ermittlungen des medizinischen Sachverhalts im anhängigen Verwaltungsverfahren (auch) von Amts wegen, etwa durch die Einschaltung des zuständigen Gesundheitsamtes. Ungeachtet dessen ist es nach dem gegenwärtigen Stand naheliegend, dass die Antragstellerin auf Grund ihrer schweren psychischen Erkrankung auch während der ambulanten Krankenbehandlung einer umfassenden Hilfe und Unterstützung bedarf, die wohl vornehmlich von der Ehefrau ihres Onkels geleistet wird und dies wegen der beengten Räumlichkeiten in der Zweizimmerwohnung unter erschwerten Bedingungen und wohl nicht konfliktfrei (vgl. die Mitteilung vom 19.11.2022 über ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die Antragstellerin wegen Körperverletzung). Unter Würdigung der Erklärungen der Antragstellerin bzw. ihres Onkels und seiner Ehefrau im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren ist es auch naheliegend, dass die Antragstellerin im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht von Angehörigen, Verwandten oder befreundeten Personen unterstützt werden kann und sie womöglich auf sich allein gestellt ist. Wie sich unter diesen Umständen eine Betreuung bzw. Pflegschaft der Antragstellerin in Polen darstellen würde und welche Vorbereitungen hierzu erforderlich sind, ist nicht geklärt. Jedenfalls ist sie gegenwärtig nicht in der Lage, Fragen über die Bestimmung ihres Aufenthaltes selbstständig zu beantworten; die womöglich mit ihrer Betreuerin getroffene Entscheidung für einen weiteren Aufenthalt bei ihrem Onkel und seiner Ehefrau in Deutschland erscheint vor diesem Hintergrund - in tatsächlicher Hinsicht - gut nachvollziehbar.

Im Rahmen der Folgenabwägung berücksichtigt der Senat auch die schon längere Aufenthaltsdauer der Antragstellerin in Deutschland von über viereinhalb Jahren. Zu der (tatsächlichen) Aufenthaltsverfestigung, die bei der Auslegung von Vorschriften über Ausschlüsse von existenzsichernden Leistungen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG zu beachten ist (vgl. BSG, Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 59/13 R - juris Rn. 25; BSG, Urteil vom 9.8.2018 - B 14 AS 32/17 R - juris Rn. 42; BSG, Urteil vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R - juris Rn. 52; weitergehend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.7.2019 - L 15 SO 181/18 - juris Rn. 65 f.; vgl. auch Siefert in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 23 Rn. 108 ff.), kommt hinzu, dass ein Ausschluss von lebensunterhaltssichernden Sozialhilfeleistungen nach dem gegenwärtigen Stand ab dem 22.11.2018 gem. § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII ohnehin nicht mehr greift. Danach erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XII, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten (Halbs. 1); dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde (Halbs. 2). Die zuletzt genannte Rückausnahme greift derzeit nicht, weil sie eine bestandskräftige Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU voraussetzt (ständige Rechtsprechung des Senats seit 2017, vgl. Senatsbeschluss vom 6.11.2017 - L 8 SO 262/17 B ER - juris Rn. 27 ff. und vom 28.5.2019 - L 8 SO 109/19 B ER - juris,Rn. 9 m.w.N. - jeweils zur Parallelvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II - sowie BVerfG, Beschluss vom 26.2.2020 - 1 BvL 1/20 - juris Rn. 18; a.A. jüngst - ebenfalls zur Parallelvorschrift § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II - Hess. LSG, Beschluss vom 9.2.2023 - L 7 AS 447/22 B ER - juris Rn. 23), der Klage der Antragstellerin gegen die Verlustfeststellung der Antragsgegnerin vom 25.4.2023 aber aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 6.11.2017 - L 8 SO 262/17 B ER - juris Rn. 28 f.). Unter diesen Umständen ist es nicht ausgeschlossen, dass die vorläufig zuzusprechenden lebensunterhaltssichernden Leistungen (einschließlich Hilfen zur Gesundheit, § 264 Abs. 2 SGB V) nur einen vorübergehenden Zeitraum betreffen. Dies ist auch in die Entscheidung über die Befristung der einstweiligen Anordnung (längstens bis Ende November 2023) eingegangen.

Die Antragstellerin hat nach den Gesamtumständen die besondere Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht. Es geht um die vorläufige Gewährung lebensunterhaltssichernder Leistungen und es ist ihrem Onkel und seiner Ehefrau nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, die Antragstellerin in hinreichendem Maße bei der Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zu unterstützen, insbesondere betreffend die Absicherung im Krankheitsfall.

Der Senat entscheidet in Ausübung des ihm zustehenden Ermessens (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO) lediglich dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG analog) über die der Antragstellerin vorläufig zu erbringenden Leistungen, weil dies zur Abwendung der gegenwärtigen Notlage ausreichend erscheint. Die Berechnung der Leistungen der Höhe nach bleibt der Antragsgegnerin vorbehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren ist abzulehnen. Wegen der rechtskräftigen Verpflichtung der Antragsgegnerin, die außergerichtlichen Kosten für das Verfahren erster und zweiter Instanz zu erstatten, besteht für den PKH-Antrag kein Rechtsschutzbedürfnis mehr (ähnlich BVerfG, Beschluss vom 1.8.2017 - 1 BvR 1910/12 - juris Rn. 20).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

Rechtskraft
Aus
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