L 1 KR 112/23

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 7 KR 344/22
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 112/23
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 64/24 B
Datum
Kategorie
Urteil


Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 13.03.2023 insoweit aufgehoben, als die Beklagte verpflichtet wurde, den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 auf Kostenerstattung bezüglich der Dauerverordnungen von Dres. K./R. vom 31.01.2022/15.01.2018 und der Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020 zu bescheiden. 

Die Klage wird insoweit abgewiesen. 

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Gießen vom 13.03.2023 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen. 


Tatbestand

Im Streit steht die Kostenerstattung für Verordnungen von Dres. K./R. auf Privatrezept aus dem Jahr 2020.

Der 1939 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Bei ihm liegt ein komplexes chronisches Krankheitsbild vor (u.a. Erschöpfungssyndrom, chronische Herzinsuffizienz, Mitralklappenprolaps, hypotone Kreislaufdysregulation, arterielle Hypotonie, Hypogonadismus, Hypothyreose, exokrine Pankreasinsuffizienz, Niereninsuffizienz, schwere Leberfunktionsstörung mit verminderter Entgiftungskapazität der Leber, chronische Obstipation, Laktoseintoleranz, multiple Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Anämie, Wirbelsäulen-Syndrom, Osteoporose, Polyarthritis, venöse Insuffizienz, Sicca-Syndrom der Augen). Das Versorgungsamt Wiesbaden hat einen GdB von 90 sowie Merkzeichen G und B festgestellt (Bescheid vom 30.08.2021). Der Kläger bezieht Pflegeleistungen der sozialen Pflegeversicherung (Pflegegrad 3).

Der Kläger unterzieht sich vor allem wegen wiederholt auftretender Erschöpfungszustände seit Jahren mehrmals im Jahr stationären Behandlungen in der B.-Klinik von C., einer Privatklinik mit Zulassung nach § 111 SGB V. Die Erstattung für stationäre Heilverfahren in dieser Klinik in den Jahren 2006 und 2008 wurde - nach Einholung eines Sachverständigengutachtens von Dr. E. (Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin) vom 30.04.2010 - rechtskräftig abgelehnt (Hessisches LSG, Beschlüsse vom 19.01.2012, L 1 KR 285/10 und L 1 KR 284/10). In dem wegen des stationären Aufenthalts des Klägers in der B.-Klinik von C. im Sommer 2011 geführten Verfahren (S 7 KR 328/11) hatte das Sozialgericht Gießen eine am 04.01.2012 von Dr. E. erstellte ergänzende Stellungnahme eingeholt. Die Klage wies das Sozialgericht mit Urteil vom 08.01.2016 ab, die Berufung wies das Hessische Landessozialgericht mit Beschluss vom 14.11.2019 zurück (L 1 KR 132/19; NZB erfolglos: B 1 KR 13/19 BH). Eine weitere Klage auf Kostenerstattung für stationäre Maßnahmen in der B.-Klinik im Jahr 2012 wurde ebenfalls rechtskräftig abgewiesen (Beschluss vom 14.11.2019, L 1 KR 133/19; BSG, Beschluss vom 09.03.2020, B 1 KR 14/19 BH). Die Klagen gegen die ablehnenden Bescheide insichtlich der Erstattung der Kosten für drei stationäre Aufenthalte in der B.-Klinik von C. in der Zeit vom 05.08.2013 bis zum 21.01.2014 lehnte das Sozialgericht Gießen nach Einholung des Gutachtens von Prof. Dr. D. vom 10.01.2017 mit Urteil vom 15.08.2017 ab (S 7 KR 38/14). Die hiergegen eingelegte Berufung wies das Hessische Landessozialgericht nach einem erfolglos durchgeführten güterichterlichen Verfahren (in diesem sowie zahlreichen weiteren Berufungs- und erstinstanzlichen Verfahren der Beteiligten), einer gerichtlichen Erörterung vor der Berichterstatterin am 28.07.2020 mit den Beteiligten sowie Prof. Dr. S., Dr. H. (B. Klinik) und Dr. M. (SMD) sowie der Einholung des Gutachtens von Prof. Dr. S. (Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg) vom 02.02.2021 und der Befragung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mit Urteil vom 18.11.2021 zurück (L 1 KR 42/20). Die hiergegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde verwarf das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 15.07.2022 (B 1 KR 9/22 B). Die Beschwerden gegen die Urteile des Senats vom 03.03.2022 (L 1 KR 76/20) und 23.03.2023 (L 1 KR 138/22) verwarf das Bundessozialgericht mit Beschlüssen vom 13.07.2022 (B 1 KR 39/22 B) und 13.09.2023 (B 1 KR 58/23 B). Gegen die Urteile des Senats vom 25.01.2024 in den Verfahren L 1 KR 69/21 und L 1 KR 74/20 legte der Kläger ebenfalls Nichtzulassungsbeschwerden ein, die noch beim Bundessozialgericht anhängig sind (B 1 KR 27/24 B und B 1 KR 22/24 B).

Am 24.04.2022 beantragte der Kläger mit sechs Teilanträgen bei der Beklagten Kostenerstattung von 6.167,31 € „für Arzneiverordnungen aus der Praxis von Frau Dr. K. im Jahr 2020“. Der Antrag „Teil 1“ umfasste den Gesamtbetrag mit einer handschriftlichen tabellarischen Aufstellung (111 Unterpunkte); die Anträge „Teil 2-6“ betrafen die einzelnen Verordnungen einschließlich der Kassenbelege der Apotheken. In den Anträgen heißt es u.a.: „Sämtliche Belege sind in der Anlage beigefügt. Soweit im Einzelfall mehrere Beträge auf Quittungen der Apotheke stehen, gelten nur diejenigen, die ärztlichen Verordnungen bzw. der ärztlichen Dauerverordnung zuzuordnen sind. Soweit im Einzelfall auf den Quittungen der Apotheke keine Zuordnung zu ärztl. Verordnungen bzw. der ärztlichen Dauerverordnung angegeben ist, ist dazu auch kein Kostenerstattungsantrag gestellt. Welche Beträge auf welcher Seite dem Kostenerstattungsantrag zugeordnet wurden, ergibt sich aus der handschriftlichen 3-seitigen Auflistung.“ Dem Antrag beigefügt waren von Dres. K./R. ausgestellte und eingelöste Privatrezepte für Arznei- und Verbandmittel. Dem Antrag „Teil 6“ waren „Dauerverordnungen der Dres. K. und R. vom 15.01.2018 bzw. 31.01.2020 beigefügt (Bl. 88-91 der Verwaltungsakte). Diese privatärztlichen „Dauerverordnungen“ umfassten Auflistungen über diverse homoöopathische Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine u.a., für die der Kläger mit den Anträgen Teil 2 bis 6 diverse Apothekenrechnungen einreichte.

Mit insgesamt fünf Bescheiden vom 25.04.2022

1.
Verordnungen vom 13.02.2020, 19.02.2020, 25.02.2020, 02.03.2020, 04.03.2020, 10.03.2020, 19.03.2020, 23.03.2020, 26.03.2020, 01.04.2020 und 03.04.2020 [„Teil 2“];

2. 
Verordnungen vom 05.05.2020, 07.05.2020, 02.06.2020, 02.07.2020, 08.07.2020, 09.07.2020 und 17.07.2020 [„Teil 3“];

3. 
Verordnungen vom 02.06.2020, 27.07.2020, 13.08.2020, 17.08.2020, 20.08.2020, 25.08.2020, 26.08.2020 und 27.08.2020 [„Teil 4“];

4. 
Verordnungen vom 22.09.2020, 24.09.2020, 01.10.2020, 30.10.2020, 13.11.2020 und 17.11.2020 [„Teil 5“];

5. 
Verordnungen vom 17.08.2020, 22.10.2020. 02.11.2020, 24.11.2020, 30.11.2020, 15.12.2020 und 17.12.2020 [„Teil 6“]

lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, die Verordnungen seien auf Privatrezept erfolgt und die verordnenden Ärztinnen seien nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Der Kläger erhob am 06.05.2022 Widerspruch.

Ebenfalls am 06.05.2022 hat der Kläger unter dem Az. S 7 KR 290/22 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben mit dem Antrag, über seinen Antrag vom 24.04.2022 in Höhe von 6.167,31 € als Ganzes zu entscheiden; dies habe er mit seinem Antrag „Teil 1“ vom 24.04.2022 entsprechend beantragt. Die fünf Bescheide vom 25.04.2022 beträfen Leistungen, die jeweils deutlich unterhalb der beantragten Gesamtsumme lägen. Beigefügt war die in dem Antrag vom 24.04.2022 in Bezug genommene handschriftliche 3-seitige Auflistung.

Die Widersprüche des Klägers gegen die Bescheide vom 25.04.2022 (Teil 2 bis Teil 6) wies die Beklagte mit insgesamt fünf Widerspruchsbescheiden vom 22.06.2022 zurück. Ergänzend führte die Beklagte aus, die verordneten Arzneimittel, Medizinprodukte und Nahrungsergänzungsmittel seien auch nicht vom Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen umfasst. Unter anderem dürften folgende Arzneimittel bzw. arzneimittelähnliche Produkte von der gesetzlichen Krankenkasse nicht übernommen werden:

-    nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel für Erwachsene und Kinder ab zwölf Jahren, sofern nicht eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt und das Arzneimittel für diese Erkrankung in der sogenannten „OTC-Ausnahmeliste" des Gemeinsamen Bundesausschusses als Therapiestandard gelistet ist 
-    Nichtarzneimittel/nicht apothekenpflichtige Arzneimittel 
-    Medizinprodukte mit Arzneimittelcharakter, sofern diese nicht in der Anlage V der Arzneimittel-Richtlinie gelistet ist
-    Lebensmittel/Nahrungsergänzungsmittel: keine verschreibungspflichtige Arzneimittel, die in der Arzneimittel-Richtlinie aufgeführt sind, da ihre Verordnung unwirtschaftlich ist.

Im vorliegenden Fall sei durch die Ausstellung von Privatrezepten dokumentiert, dass die Voraussetzungen für eine Verordnung auf einem Kassenrezept nicht vorlägen. Nach Auskunft von Dres. K./R. vom 26.01.2021 (vgl. Verfahren S 7 KR 617/20 bei dem Sozialgericht Gießen) nehme der Kläger die Leistungen der verordnenden Ärztinnen ausschließlich in deren Privatarztpraxis in Anspruch. Eine Kostenerstattung der auf Privatrezepten verordneten Arzneimittel/Medizinprodukte/Nahrungsergänzungsmittel, ausgestellt von Dres. K./R., könne daher nicht erfolgen.

Hiergegen hat der Kläger am 07.07.2022 unter dem Az. S 7 KR 344/22 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben. Unter Bezugnahme auf das Verfahren S 7 KR 290/22 hat er bemängelt, es sei nicht erkennbar, auf welche Teile der Gesamtforderung sich die Entscheidung der Beklagten beziehe. Inhaltlich hat er auf das Bestehen einer mitochondrialen Stoffwechselstörung mit Pharmasensibilität verwiesen. Kassenärztliche Behandlungsmöglichkeiten hierfür gebe es nicht. Dies führe zu einer notfallähnlichen Situation, die die Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen ausnahmsweise erlaube. Mit Beschluss vom 11.10.2022 hat das Gericht die Verfahren S 7 KR 290/22 und S 7 KR 344/22 unter dem letztgenannten Aktenzeichen verbunden.

Mit Bescheid vom 20.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2022 hat die Beklagte über den "Teil 1" des Antrages vom 24.04.2022 entschieden. Hiergegen hat der Kläger am 16.09.2022 Klage beim Sozialgericht Gießen erhoben (S 7 KR 418/22). Über diese Klage wurde bisher nicht entschieden; das Sozialgericht Gießen hat mit Beschluss vom 04.04.2023 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. 

Das Sozialgericht Gießen hat mit Gerichtsbescheid vom 13.03.2023 im Verfahren S 7 KR 344/22 die Beklagte verpflichtet, den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 auf Kostenerstattung bezüglich der Dauerverordnungen von Dres. K./R. vom 31.01.2020/15.01.2018 und der Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020 zu bescheiden und im Übrigen die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen hierzu ausgeführt:

Die angegriffenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Soweit die Beklagte mit diesen Bescheiden über den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 entschieden habe, bestehe kein Anspruch auf Kostenerstattung für im Jahr 2020 auf Privatrezept von Dres. K./R. verordnete Arzneimittel. Das Begehren des Klägers sei ausweislich seines Antrages vom 24.04.2022 ausdrücklich darauf gerichtet, nur diejenigen Kosten erstattet zu bekommen, „die ärztlichen Verordnungen bzw. der ärztlichen Dauerverordnung zuzuordnen seien“.

Entschieden habe die Beklagte über die folgenden Verordnungen:

1. Verordnungen vom 13.02.2020, 19.02.2020, 25.02.2020, 02.03.2020, 04.03.2020, 10.03.2020, 19.03.2020, 23.03.2020, 26.03.2020, 01.04.2020 und 03.04.2020 [„Teil 2“];

2. Verordnungen vom 05.05.2020, 07.05.2020, 02.06.2020, 02.07.2020, 08.07.2020, 09.07.2020 und 17.07.2020 [„Teil 3“];

3. Verordnungen vom 02.06.2020, 27.07.2020, 13.08.2020, 17.08.2020, 20.08.2020, 25.08.2020, 26.08.2020 und 27.08.2020 [„Teil 4“];

4. Verordnungen vom 22.09.2020, 24.09.2020, 01.10.2020, 30.10.2020, 13.11.2020 und 17.11.2020 [„Teil 5“];

5. Verordnungen vom 17.08.2020, 22.10.2020. 02.11.2020, 24.11.2020, 30.11.2020, 15.12.2020 und 17.12.2020 [„Teil 6“]

Als Anspruchsgrundlage für die Erstattung von Kosten für Arzneimittel komme § 13 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V in Betracht. Soweit die von der Beklagten überprüften Verordnungen von Dres. K./R. nicht Arzneimittel zum Gegenstand haben, die gleichzeitig auch in den Dauerverordnungen vom 15.01.2018 bzw. 31.01.2020 bezeichnet werden, dürfte die Kostenerstattung bereits daran scheitern, dass der Kläger vor der Selbstbeschaffung keinen Antrag bei der Beklagten auf Kostenübernahme gestellt habe.

Das Erstattungsbegehren scheitere aber jedenfalls daran, dass den vom Kläger auf eigene Kosten beschafften Arzneimitteln keine kassenärztliche Verordnung zugrunde lag. Insoweit würden für den Kostenerstattungsanspruch die gleichen Voraussetzungen wie für den Naturalleistungsanspruch auf häusliche Krankenpflege gelten (vgl. BSG, Urteil vom 30.11.2017 – B 3 KR 11/16 R, juris). Die verordnenden Ärztinnen Dres. K./R. hätten den Kläger gemäß ihrer Bescheinigung vom 26.01.2021 (vgl. S 7 KR 617/21) ausschließlich in ihrer Privatarztpraxis behandelt, auch wenn Dr. K. grundsätzlich über eine Kassenzulassung verfüge. Sie hätten somit nicht als zugelassene Leistungserbringer im Sinne von § 76 Abs. 1 SGB V gehandelt, die der Kläger in Anspruch habe nehmen dürfen. Nicht zugelassene Leistungserbringer dürften dagegen außer in Notfällen nur im Fall eines Systemversagens beansprucht werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R juris). Ein solches sei hier aber nicht erkennbar.

Zur Überzeugung der Kammer stehe auch weiterhin aufgrund des Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. D. vom 10.01.2017 fest, dass die Diagnose einer mitochondrialen Erkrankung nicht gesichert sei. Prof. Dr. S. habe dies im Sachverständigengutachten vom 02.02.2021 ausdrücklich bestätigt. Eine mitochondriale Erkrankung unterstellt, wäre zwar die Substitution von Coenzym Q10/Ubichinon sowie ggf. auch der Vitamine B1, B2, B3, B6, B9 und E „sinnvoll und bei nachgewiesenem Mangel notwendig“ (vgl. S. 62 des Gutachtens von Prof. Dr. S.). Mangels abgeschlossener Diagnostik in Bezug auf die mitochondriale Erkrankung könne die Notwendigkeit entsprechender Behandlungsmaßnahmen jedoch nicht hergeleitet werden. Dies gehe zu Lasten des Klägers, dem es obliegt, zunächst die nach allgemein anerkanntem Stand der Wissenschaft erforderlichen Untersuchungen zur Feststellung von Mitochondriopathie durchführen zu lassen. Gleichzeitig greife auch der Einwand des Klägers nicht, dass es sich bei der Mitochondriopathie um eine internistische Erkrankung handele, während Prof. Dr. D. und Prof. Dr. S. die Krankheit vom nicht einschlägigen neurologischen Standpunkt betrachtet hätten. Prof. Dr. D. habe sich bei ihren Ausführungen auf die AWMF-S1 -Leitlinie „Mitochondriale Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bezogen. Dort werden die biologischen, histologischen und genetischen Grundlagen (Kap. 2.2) und der multisystemische Charakter der Erkrankungen (Kap. 1) erläutert. Gemeinsames Kennzeichen der Erkrankungen seien demnach Störungen im Bereich mitochondrial lokalisierter Stoffwechselwege, die sich häufig mit einer neurologischen Symptomatik präsentierten (Kap. 2.1). Dies sei genau das Krankheitsbild, das der Kläger beschreibe. Es bestehe daher keine Notwendigkeit, den Sachverhalt speziell internistisch zu beurteilen. Von weiteren medizinischen Ermittlungen habe die Kammer somit absehen können.

Der Kläger habe jedoch Anspruch darauf, dass die Beklagte über seinen Antrag auf Kostenerstattung vom 24.04.2022 vollständig entscheide, d.h. auch bezüglich der Dauerverordnungen von Dres. K./R. vom 31.01.2020/15.01.2018 und der Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020. Die hierauf bezogene Untätigkeitsklage sei zulässig. Die bei Klageerhebung am 06.05.2022 noch bestehende Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage sei nach Ablauf der Sperrfrist von sechs Monaten (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG), d.h. ab dem 25.10.2022, geheilt. Zu Recht rüge der Kläger eine Diskrepanz zwischen seinem Antrag vom 24.04.2022 und dem Gegenstand der angegriffenen Bescheide. Sachlich nicht entschieden habe die Beklagte über die Kosten aufgrund der Dauerverordnungen von Dres. K./R. vom 31.01.2020/15.01.2018 (Bl. 88-91 der Verwaltungsakte) und der Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020 (Antragsteil 4, Bl. 49 der Verwaltungsakte). Die Untätigkeitsklage sei auch begründet, da die Beklagte ohne zureichenden Grund binnen sechs Monaten nicht vollständig über den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 entschieden hat. Der Kläger habe in diesem Antrag deutlich zu erkennen gegeben, dass er Kostenerstattung begehre, soweit ärztliche Verordnungen bzw. ärztliche Dauerverordnungen von Dres. K./R. aus dem Jahr 2020 vorlägen. Dem entgegen seien die Kosten aus den ärztlichen Dauerverordnungen vom 31.01.2020/15.01.2018 sowie aus der weiteren Verordnung vom 18.08.2020 nicht beschieden worden. Ein Grund hierfür sei nicht erkennbar. Offensichtlich seien Antragsbegehren und Entscheidungsumfang nicht abgeglichen worden.

Die Beklagte hat gegen den ihr am 20.03.2023 zugestellten Gerichtsbescheid am 24.03.2023 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben. Die Beklagte habe mit Bescheid vom 20.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2022 über den "Teil 1" des Antrages vom 24.04.2022 in vollem Umfang entschieden. Hiergegen habe der Kläger ebenfalls Klage beim Sozialgericht Gießen erhoben (Aktenzeichen: S 7 KR 418/22). Über diese Klage sei bisher nicht entschieden. Das Verfahren ruhe.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 13.03.2023 insoweit aufzuheben als die Beklagte verpflichtet wird, den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 auf Kostenerstattung bezüglich der Dauerverordnungen von Dres. K./R. vom 31.01.2020/15.01.2018 und der Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020 zu bescheiden und die Klage auch insoweit abzuweisen. 

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 13.03.2023 teilweise und die fünf Bescheide vom 25.04.2022 in Gestalt der fünf Widerspruchsbescheide vom 22.06.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger insgesamt 6.167,31 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB zu erstatten.

Zur Begründung seiner am 28.03.2024 gegen den ihm am 22.03.2023 zugestellten Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen eingelegten Berufung wiederholt der Kläger seinen bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus: Das Sozialgericht irre mit der Annahme, dass die verordneten Präparate nicht verordnungsfähig seien, denn aufgrund seiner Arzneimittelunverträglichkeit gelte eine Ausnahmereglung. Auch aufgrund der Seltenheit der bei ihm bestehenden Mitochondriopathie seien ihm die Kosten zu erstatten – ähnlich wie bei seltenen Erkrankungen wie ME/CFS. Es seien weitere Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen. 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten und dem Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Gerichtsakte des Sozialgerichts Gießen (S 7 KR 418/22) sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.


Entscheidungsgründe

Der Senat konnte trotz Nichterscheinen des Klägers entscheiden, da dieser ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 16.07.2024 ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen worden ist. Die Ladung enthielt den Hinweis gemäß § 110 Sozialgerichtsgesetz (SGG), dass auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.

Das Sozialgericht Gießen hat mit Gerichtsbescheid vom 13.03.2023 der Klage zu Unrecht stattgegeben, soweit die Beklagte verpflichtet wurde, den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 auf Kostenerstattung bezüglich der Dauerverordnungen von Dres. K./R. vom 31.01.2020/15.01.2018 und der Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020 zu bescheiden. Die Untätigkeitsklage des Klägers vom 06.05.2022 ist unzulässig, denn die Beklagte hat mit Bescheid vom 20.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2022 über den "Teil 1" des Antrages vom 24.04.2022 entschieden. Dieser Bescheid ist Gegenstand des Klageverfahrens S 7 KR 418/23. Das Sozialgericht Gießen hat in diesem Verfahren mit Beschluss vom 04.04.2023 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. 

Der Bescheid vom 20.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2022 bezieht sich auf den Antrag des Klägers vom 24.04.2022 „Teil 1“, mit dem der Kläger alle mit seinen Anträgen „Teil 2 bis 6“ geltend gemachten Erstattungsansprüche zusammenfasst und auf 6.167,31 € (zuzüglich Zinsen) beziffert hat. In der dem Antrag „Teil 1“ beigefügten handschriftlichen Aufstellung listet der Kläger alle Einzelforderungen auf, darunter auch die unter die „Dauerverordnungen“ von Dres. K./R. vom 31.01.2020 bzw. 15.01.2018 und unter die Verordnung von Dr. K. vom 18.08.2020 (Ziff. 80: 20,31 €) gefassten Einzelbelege. 

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. 

Das Sozialgericht Gießen hat mit Gerichtsbescheid vom 13.03.2023 die Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide vom 25.04.2022 in Gestalt der fünf Widerspruchsbescheide vom 22.06.2022 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der aufgrund der streitgegenständlichen privatärztlichen Verordnungen der Dres. K. und R. erworbenen Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel, Vitaminpräparate, homöopathischen Mittel u.a. in Höhe von 6.167,31 €. 

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung. Sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden Aspekte vollständig.

Der Vortrag im Berufungsverfahren begründet keine andere Entscheidung. Insbesondere ist unerheblich, ob Dr. K. eine Kassenzulassung besitzt, solange sie diese nicht ausübt.

Darüber hinaus ist schon in keiner Weise nachgewiesen, dass die Verordnung der hier streitigen Arzneimittel zur Anwendung bei einer mitochondrialen Erkrankung nach dem Erkenntnisstand als Therapiestandard angezeigt ist (s. § 12 Abs. 6 Arzneimittel-Richtlinie).

Auch der Senat sieht bei der vorliegenden Sach- und Rechtslage die Einholung eines internistischen Sachverständigengutachtens nicht als erforderlich an. Die Voraussetzungen für eine - wie vom Kläger beantragte - Aussetzung des Verfahrens aufgrund der beim Bundesozialgericht anhängigen Nichtzulassungsbeschwerde (B 1 KR 27/24 B) liegen nicht vor (§ 153 Abs. 1, § 114 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

Rechtskraft
Aus
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