Das Sozialgericht darf vor Eintritt der Rechtskraft in der Hauptsache über den Anspruch auf Übernahme der Kosten eines nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse entscheiden.
- Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 08.02.2023 wird zurückgewiesen.
- Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 08.02.2023, durch das dieses abgelehnt hat, die Kosten für das nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholte Gutachten des Dr. Dr. Rh auf die Staatskasse zu übernehmen, hat keinen Erfolg.
Über die endgültige Pflicht zur Tragung eines nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens entscheidet das Gericht nach Ermessen, wobei es zu berücksichtigten hat, ob das Gutachten die Aufklärung oder die Erledigung des Rechtstreites objektiv gefördert hat. Vorliegend hat das Sozialgericht im angefochtenen Beschluss vom 08.02.2023 zutreffend dargelegt, dass das Gutachten des Dr. Dr. Rh vom 01.08.2022 keine wesentlichen neuen Erkenntnisse erbracht hat. Der Senat schließt sich dem an. Das Gutachten hat lediglich die bereits vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Prof. Dr. Sch in seinem Gutachten vom 27.10.2017, bestätigt. Im Berufungsverfahren hat sich nichts ergeben, was Anlass für eine abweichende Beurteilung sein könnte.
Soweit der Kläger geltend macht, die Kostenentscheidung des Sozialgerichts sei verfrüht, bezieht er sich offenbar auf den Beschluss des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vom 29.10.2021 – L 17 R 469/21 B –, juris, bzw. auf die der Entscheidung zustimmende Literatur (Böttiger, jurisPR-SozR 3/2023 Anm. 5; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG,14. Auflage 2023, § 109, Rn. 18). Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat darin die Auffassung vertreten, die Entscheidung über die endgültige Kostentragung dürfe erst nach Rechtskraft der Endentscheidung ergehen, und hat den mit der Beschwerde angegriffenen Beschluss allein deshalb aufgehoben.
Der erkennende Senat folgt der dort vertretenen Ansicht nicht. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg führt zur Begründung an, dass nach § 193 Abs. 1 Sätze 1 und 3 SGG über die (Verfahrens-)Kosten im Urteil zu entscheiden sei oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss. Bei einer solchen Kostenentscheidung seien alle Umstände in den Blick zu nehmen, die im Verfahren bis dahin eine Rolle gespielt hätten. Da die in einem Berufungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse bei der Entscheidung über die Kostenübernahme des nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens zu berücksichtigen seien, sei vor einer Kostenentscheidung gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG das Ende dieses gesamten Abschnitts, der für die Beurteilung den Blick zu nehmen sei, und damit die Rechtskraft der Endentscheidung des Sozialgerichts abzuwarten. Denn erst mit der maßgeblichen rechtskräftigen Endentscheidung könne beurteilt werden, ob das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert habe.
Zwar geht auch der erkennende Senat davon aus, dass für die Entscheidung über die Beschwerde gegen die Ablehnung der Übernahme von Kosten nach § 109 SGG auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts abzustellen ist und etwaige im Berufungsverfahren zusätzlich gewonnene Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, weil nicht nur eine eingeschränkte Überprüfung des vom Sozialgericht ausgeübten Ermessens vorzunehmen ist (zum Meinungstand siehe Hintz in BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 76. Edition, Stand: 01.03.2025, § 109, Rn. 8 ff. mwN.). Der Senat folgt der Ansicht des Landessozialgerichts Bayern, das in seinem grundlegenden Beschluss vom 19.12.2012 - L 15 SB 123/12 B (BeckRS 2013, 68762; juris) ausgeführt hat:
„Die Tatsache, dass die Entscheidung über die endgültige Kostentragung als Ermessensentscheidung bezeichnet wird, kann keine nur eingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit durch das Beschwerdegericht nach sich ziehen. Der Grundsatz der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit, wie er für Ermessensentscheidungen der Verwaltung gilt, ist nicht auf die Überprüfung von gerichtlichen Entscheidungen im Instanzenzug übertragbar. Er beruht auf dem Spannungsverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlichen Bekenntnis zum Grundsatz des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG -) einerseits und zum Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) andererseits (vgl. z.B. Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2010, § 114 VwGO, Rdnr. 1). Dieses Spannungsverhältnis kann nur sinnvoll aufgelöst werden, wenn der Verwaltung Entscheidungen ermöglicht werden, für die nur eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolldichte besteht. Mit der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit von im Ermessen der Verwaltung stehenden Entscheidungen wird sichergestellt, dass der Gestaltungsspielraum der Verwaltung als ihr allein zustehender Kernbereich der Verwaltungstätigkeit unangetastet bleibt und die Gewaltenteilung eingehalten wird.
Die Gerichte haben Ermessenentscheidungen der Verwaltung nur auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und dürfen dabei nicht ihre eigenen Bewertungen und Einschätzungen, die der Ausübung von Ermessen zugrunde liegen, an die Stelle der Bewertungen und Einschätzungen der Verwaltung setzen (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 08.07.1982, Az.: 2 BvR 1187/80). Eine solche Legitimation lässt sich für die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen im Instanzenweg nicht finden, da erst- und zweitinstanzliches Gericht - anders als Behörde und Gericht - nicht Teile unterschiedlicher verfassungsrechtlich vorgegebener Gewalten sind und insofern kein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich, der eine Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte begründen würde, vorhanden ist.
Auch die richterliche Unabhängigkeit verlangt keine nur eingeschränkte Überprüfbarkeit im Instanzenzug. Die mit Art. 97 Abs. 1 GG garantierte richterliche Unabhängigkeit zählt zu den hergebrachten Grundsätzen des richterlichen Amtsrechts im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG. Sie hat den Zweck, die rechtsprechende Tätigkeit von jeder vermeidbaren Einflussnahme der Exekutive freizuhalten (vgl. BVerfG, z.B. Beschlüsse vom 07.01.1981, Az.: 2 BvR 401/76, 2 BvR 606/76, vom 01.09.2008, Az.: 2 BvR und vom 22.06.2006, Az.: 2 BvR 957/05). Sie beinhaltet aber keinen Entscheidungs- oder Ermessensspielraum bei gerichtlichen Entscheidungen, der einer weiteren Überprüfung in der nächsten Instanz entzogen wäre. Vielmehr gehört die volle Überprüfbarkeit gerichtlicher Entscheidungen im Instanzenzug zu den wesenstypischen Merkmalen des Rechtsstaatsprinzips.
Hätte der Gesetzgeber eine nur eingeschränkte Überprüfbarkeit einer erstinstanzlichen Entscheidung durch die zweite Instanz, nämlich auf Ermessensfehler, gewollt, hätte er dies durch eine gesetzgeberische Entscheidung zum Ausdruck bringen müssen. Eine legitimierende gesetzliche Regelung dafür fehlt aber. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die eingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen der Verwaltung in § 114 Verwaltungsgerichtsordnung und in § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG sogar ausdrücklich klargestellt hat, obwohl wegen der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Überlegungen auch ohne explizite Regelung von einer nur eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit ausgegangen werden müsste, er aber für den Bereich der Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen im Instanzenzug eine entsprechende Regelung, die hier nicht klarstellenden, sondern konstitutiven Charakter hätte, nicht geschaffen hat, sieht der Senat als klaren Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte im Instanzenzug gerade nicht gewollt hat….“
Diesen Erwägungen schließt sich der Senat an.
Legt man dies zugrunde, ergibt sich daraus, dass für die Beurteilung des Anspruchs auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts abzustellen ist, weshalb etwaige in einem Berufungsverfahren zusätzlich gewonnene Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (Hintz aaO.).
Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass das Sozialgericht erst die Rechtskraft der von ihm getroffenen Entscheidung in der Hauptsache abwarten müsste. Ob für ein Gutachten nach § 109 SGG überhaupt ein Kostenvorschuss angefordert wird, steht im Ermessen des Sozialgerichts (Keller a.a.O., Rn. 13). Entsprechend entscheidet es als Stelle, die die Beweiserhebung angeordnet, also das Gutachten in Auftrag gegeben hat, ob die Kosten nachträglich auf die Staatskasse übernommen werden. Wenn das Sozialgericht die Kosten auf die Staatskasse übernimmt, gibt es dagegen keine Beschwerdemöglichkeit. Dies zeigt, dass dem Sozialgericht die Kompetenz zugesprochen wird, von seinem Rechtsstandpunkt aus und unter Würdigung der vorliegenden Ermittlungsergebnisse über den Anspruch zu entscheiden. Dies gilt nach Einschätzung des Senats entsprechend in dem Fall, dass das Sozialgericht die Kostenerstattung ablehnt. Es ist nicht ersichtlich, warum es in diesem Fall die Rechtskraft und damit ggf. den Ausgang eines Rechtsmittelverfahrens abwarten soll, damit es sich (nur möglicherweise) ergebende neue Erkenntnisse berücksichtigen oder seine Entscheidung auf eine etwaig von seiner eigenen Einschätzung abweichenden des Rechtsmittelgerichts ausrichten könnte (wobei sich die Frage ergibt, ob und inwieweit es bei der Entscheidung nach § 109 SGG an die Beweiswürdigung einzelner Gutachten des Rechtsmittelgerichts gebunden wäre). Vielmehr ist es nicht zu beanstanden, wenn es auch eine ablehnende Entscheidung mit der Beendigung des Verfahrens in erster Instanz trifft. Gerade der Blick auf die Vorschrift des § 193 SGG spricht für diese Auslegung: Über die Kosten des Verfahrens entscheidet das Sozialgericht mit seiner Entscheidung in der Hauptsache, nicht erst nach Rechtskraft des in der Sache ergangenen Urteils.
Der Antragsteller wird durch diese Vorgehensweise auch nicht benachteiligt. Bei Ablehnung der Kostenübernahme durch das Sozialgericht bleibt ihm die Möglichkeit, die Beschwerde dagegen zu erheben. Das Beschwerdegericht beurteilt den Anspruch aufgrund der Sachlage im Entscheidungszeitpunkt. Wenn es der Ansicht ist, dass für diese Entscheidung die Ergebnisse von Ermittlungen im Berufungsverfahren abgewartet werden sollten, kann es mit der Beschwerdeentscheidung zuwarten, wie es auch im vorliegenden Fall geschehen ist. Die Rechte des Antragstellers können somit gewahrt werden, auch wenn das Sozialgericht schon vor Eintritt der Rechtskraft über die Kostenerstattung beschließt. Bei einer Entscheidung erst nach Rechtskraft kann es dagegen dazu kommen, dass der Betroffene jahrelang auf die Entscheidung warten muss, was eine Beeinträchtigung seiner Verfahrensrechte darstellen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).