L 10 R 3292/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 38/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 3292/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 21.05.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am 1959 geborene Klägerin erlernte zunächst keinen Beruf und war im Bürobereich beschäftigt. Nach ihren eigenen Angaben absolvierte sie im Jahr 2000 eine Ausbildung zur Bürokauffrau bzw. Bürofachkraft, war danach jedoch nicht mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Entsprechend weist ihr Versicherungsverlauf (vgl. Bl. 13 ff. SG-Akte) ab dem Jahr 2000 fast ausschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. des sonstigen Sozialleistungsbezuges aus.

Den wegen HWS-Problemen, Depressionen und seelische Störung gestellten Rentenantrag vom 05.03.2012 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21.05.2012 und Widerspruchsbescheid vom 10.12.2012 ab. Grundlage war zunächst ein Gutachten des Internisten Dr. B. vom Mai 2012, der eine rezidivierende depressive Störung (aktuell remittiert), eine Soziophobie sowie Zervikobrachialgien diagnostizierte und die Klägerin für in der Lage hielt, mittelschwere rückengerechte Tätigkeiten ohne besonderen Nervenstress und ohne größere Menschenansammlungen vollschichtig zu verrichten. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten bei der Ärztin für Psychiatrie Dr. R. ein, die im Oktober 2012 rezidivierende depressive Störungen (jetzt remittiert), eine Anpassungsstörung sowie eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostizierte und eine Tätigkeit als Bürokauffrau mindestens sechs Stunden täglich für zumutbar hielt.

Gegen die Rentenablehnung hat die Klägerin am 28.12.2012 Klage beim Sozialgericht Heilbronn erhoben, das die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen hat. Der Orthopäde Dr. N. hat über Zervikobrachialgien und einen psychovegetativen Erschöpfungszustand berichtet, jedoch keine Aussage über die Leistungsfähigkeit treffen können. Dr. M. , Oberärztin an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum am W. , hat über eine rezidivierende depressive Störung sowie eine schwere Persönlichkeitsveränderung berichtet und die Leistungsfähigkeit auf unter drei Stunden täglich eingeschätzt. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. K. hat auf eine Suizidgefährdung der Klägerin hingewiesen und der Orthopäde Dr. B. hat ein sechsstündiges Leistungsvermögen bejaht.

In seinem für das Sozialgericht im Frühjahr 2014 erstatteten Gutachten ist der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. nach ambulanter Untersuchung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin trotz der diagnostizierten rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig leichtgradig ausgeprägte depressive Episode), der kombinierten Persönlichkeitsstörung (Misstrauen, soziale Ängste), der Spannungskopfschmerzen und des rezidivierenden Zervikalsyndroms noch in der Lage ist, leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zu vermeiden seien Tätigkeiten, die regelmäßige soziale Kontakte erforderlich machen, Tätigkeiten in einer Gruppe, Arbeiten unter Zeitdruck, unter Akkordbedingungen oder mit Schichtwechsel sowie Tätigkeiten mit vermehrtem Publikumsverkehr. Eine Tätigkeit als Bürokauffrau sei angesichts des Erfordernisses, in der Gruppe zu arbeiten, nur noch drei bis unter sechs Stunden möglich. Allerdings ließe sich die Leistungsfähigkeit durch ein stationäres Heilverfahren oder eine entsprechende medikamentöse Therapie verbessern.

Hierauf gestützt hat das Sozialgericht mit Urteil vom 21.05.2015 die Klage abgewiesen.

Gegen das ihr am 10.07.2015 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 04.08.2015 Berufung eingelegt. Sie sieht sich aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, sechs Stunden täglich eine leichte Arbeit zu verrichten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 21.05.2015 sowie den Bescheid vom 21.05.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01.03.2012 Rente wegen voller Erwerbsminderung bzw. wegen teilweiser Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet über die nach den §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Das Sozialgericht hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die rechtlichen Grundlagen für die in Rede stehenden Rentenansprüche (§ 43 und § 240 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VI -) dargestellt und zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin auch eine Tätigkeit als Bürokauffrau sechs Stunden und mehr arbeitstäglich ausüben könnte. Es hat dabei auf der Grundlage des bei Dr. S. eingeholten Gutachtens zutreffend darauf hingewiesen, dass die psychischen Probleme der Klägerin einer Behandlung zugänglich und damit in absehbarer Zeit überwindbar sind, so dass die nach Auffassung von Dr. S. durch diese Gesundheitsstörungen verursachten Einschränkungen für eine mindestens sechsstündige tägliche Tätigkeit als Bürokauffrau einen Rentenanspruch nicht begründen können. In Bezug auf die orthopädischen Probleme hat es auf die sachverständige Zeugenauskunft von Dr. B. verwiesen, wonach die orthopädischen Beschwerden einer Tätigkeit als Bürokauffrau ebenfalls nicht entgegenstehen. Der Senat sieht daher von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung gemäß § 153 Abs. 2 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

In der Tat muss die durch eine psychische Störung bedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit voraussichtlich auf längere Dauer, d.h. für länger als sechs Monate vorliegen. Denn seelisch bedingte Störungen scheiden für die Begründung einer Erwerbsminderung aus, die der Betroffene bei der ihm zuzumutenden Willensanspannung aus eigener Kraft oder unter ärztlicher Mithilfe (BSG, Urteil vom 21.10.1969, 11 RA 219/66 in SozR Nr. 76 zu § 1246 RVO) sogleich oder innerhalb eines halben Jahres überwinden kann (BSG, Urteil vom 01.07.1964, 11/1 RA 158/61 in SozR Nr. 39 zu § 1246 RVO), wobei ein strenger Maßstab anzulegen ist (BSG a.a.O.). Für das tatsächliche Vorliegen von seelisch bedingten Störungen, ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit trifft den Rentenbewerber die (objektive) Beweislast (BSG, Urteil vom 20.10.2004, B 5 RJ 48/03 R).

Hier steht auf Grund des vom Sozialgericht eingeholten Sachverständigengutachtens fest, dass die Klägerin nicht nur ihren depressiven Verstimmungszustand, sondern auch ihre sozialen Ängste durch ein stationäres Heilverfahren in einer Klinik für Psychotherapie mit einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie bessern könnte. Da derartige Heilverfahren allenfalls wenige Monate dauern, ist die von Dr. S. prognostizierte Besserung innerhalb eines halben Jahres zu erwarten. Eine durchaus fragliche Therapiemotivation der Klägerin steht dem nicht entgegen, weil die Inanspruchnahme derartiger Therapien den Versicherten zugemutet wird.

Darüber hinaus hat Dr. S. darauf hingewiesen, dass auch die medikamentöse Therapie unzureichend ist. Die Klägerin erhält, nachdem sie zuvor eine medikamentöse Therapie abgelehnt hatte, ein pflanzliches Antidepressivum, das, so Dr. S. , nur zur Behandlung leicht ausgeprägten Depressionen bestimmt ist. Auch wenn Dr. S. damals eine nur leichte depressive Episode beschrieben hat, liegt dieser doch die ebenfalls vom Sachverständigen diagnostizierte rezidivierende depressive Störung zu Grunde. Entsprechend hat Dr. S. die bisherige medikamentöse Therapie als nicht adäquat angesehen und zugleich darauf hingewiesen, dass Antidepressiva zur Verfügung stehen, die nicht nur bei Depressionen, sondern auch bei sozialen Ängsten gut wirksam sind.

Mit einer erfolgreichen stationären und/oder medikamentösen Behandlung, insbesondere auch der sozialen Ängste, würde sich - so Dr. S. konsequent - die berufliche Leistungsfähigkeit bessern. Entsprechend wäre die Klägerin auch im Bürobereich wieder ohne wesentliche Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich einsetzbar. Die von Dr. S. auf Grund des derzeitigen Zustandes ausgeschlossenen Tätigkeiten mit dem Erfordernis regelmäßiger sozialer Kontakte bzw. in einer Gruppe zu arbeiten wären damit ebenfalls wieder möglich. Es ist somit festzustellen, dass die Klägerin nach zumutbarer, weniger als ein halbes Jahr dauernder Therapie ohne wesentliche Einschränkungen Tätigkeiten im Bürobereich sechs Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten kann.

Im Übrigen genießt die Klägerin - entgegen der Auffassung des Sozialgerichts - keinen besonderen Berufsschutz. Ob und welche Ausbildung die Klägerin im Jahr 2000 abschloss (Bürokauffrau, so die Berufungsbegründung; Bürofachkraft, so die Angaben gegenüber Dr. S. ; Unterlagen hierüber liegen nicht vor) bedarf keiner abschließenden Klärung. Denn danach war die Klägerin - so ihre übereinstimmenden Angaben gegenüber allen Gutachtern - nicht mehr sozialversicherungspflichtig tätig. Auch der Versicherungsverlauf (Bl. 13 ff. SG-Akte) weist nach 2000 lediglich eine rund dreiwöchige Pflichtbeitragszeit aus. Tatsächlich aber muss der "bisherige Beruf" i.S. einer Berufsschutz vermittelnden Tätigkeit nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt worden sein (s. u.a. BSG, Urteil vom 27.04.1989, 5/5b RJ 74/87 in SozR 2200 § 1246 Nr. 163). Dies ist in Bezug auf die behauptete Ausbildung somit nicht der Fall. Entsprechend ist die Klägerin auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Derartige Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes kann die Klägerin auch im jetzigen gesundheitlichen Zustand sechs Stunden und mehr arbeitstäglich ausüben. Zu vermeiden sind aktuell Arbeiten mit dem Erfordernis regelmäßiger sozialer Kontakte, insbesondere Arbeiten in der Gruppe bzw. mit vermehrtem Publikumsverkehr, Arbeiten unter Zeitdruck, insbesondere Akkordbedingungen, und Schichtarbeit. Möglich wären mit diesen Einschränkungen, so Dr. S. , u.a. Tätigkeiten im Archiv, wie sie die Klägerin bereits früher und mit ihren psychischen Problemen längere Zeit im Rahmen eines Ein-Euro-Jobs ausübte. Damit sind - so zutreffend die Beklagte - auch Tätigkeiten im Bereich der Registratur möglich, da diese Tätigkeiten keine soziale Interaktion erfordern, und auch sonstige Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung dieser qualitativen Einschränkungen. Im Übrigen ist auch an dieser Stelle wiederum auf die von Dr. S. dargestellte Therapiemöglichkeit und die wahrscheinliche Besserung des Gesundheitszustandes mit Wegfall dieser qualitativen Einschränkungen hinzuweisen.

Dabei stimmt der Senat mit der Klägerin überein, wonach die psychischen Leiden ganz im Vordergrund für die Beurteilung der verbliebenen Leistungsfähigkeit stehen. Soweit die Klägerin - so die behandelnden Orthopäden Dr. N. und Dr. B. - an Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule leidet, schränkt dies, worauf das Sozialgericht in Bezug auf eine Tätigkeit als Bürokauffrau bereits hingewiesen hat, ihr berufliches Leistungsvermögen nicht relevant ein. Dr. B. hat insoweit keine Hindernisse für eine sechsstündige Tätigkeit als Bürokauffrau gesehen und auch Dr. S. hat aus diesen Gesundheitsstörungen - von ihm diagnostisch als Spannungskopfschmerzen und rezidivierendes Zervikalsyndrom erfasst - keine weitergehenden Einschränkungen abgeleitet.

Dr. S. hat auf nervenärztlichem Gebiet trotz der diagnostizierten depressiven Störung (gegenwärtig leichtgradige depressive Episode) und der kombinierten Persönlichkeitsstörung (Misstrauen, soziale Ängste) die Beurteilung der behandelnden Psychiaterin Dr. M. (Leistungsfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich) nicht bestätigt, sondern für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr angenommen. Dies überzeugt angesichts des von ihm erhobenen Befundes. So hat er nach anfänglicher Verstimmung, Gereiztheit, Misstrauen, Verunsicherung und reduzierter emotionaler Belastbarkeit die Klägerin im Laufe des Gesprächs als zunehmend aufgeschlossener und mit zeitweiser deutlicher Stimmungsaufhellung beschrieben. Während der Exploration hat er keine relevanten Einschränkungen von Konzentration, Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen und keine relevanten Störungen des Gedächtnisses gefunden. Dabei ist die Klägerin - so ihre eigenen Angaben - ca. vier Stunden bei Dr. S. gewesen. Die von ihr erlebten psychischen Einschränkungen während der Untersuchung ("im Kopf nur noch Nebel") haben ausweislich des von Dr. S. erhobenen Befundes zu keinen tatsächlichen Einschränkungen geführt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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