S 19 SO 49/16 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 49/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die am 00.00.0000 geborene Antragstellerin leidet an einer schwergradigen wahnhaften Störung mit ausgeprägtem Verfolgungswahn. Sie ist in ihrer Geschäftsfähigkeit beeinträchtigt und steht unter Betreuung. Die Antragstellerin bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer in Höhe von zuletzt 733,01 Euro monatlich und erhält vom Rentenversicherungsträger Zuschüsse zu ihrer freiwilligen Krankenversicherung bei der AOK Rheinland-Hamburg in Höhe von zuletzt 53,51 Euro monatlich. Sie bewohnt eine Wohnung in der G-Straße 00 in 00000 G1 und bezog bislang von der Antragsgegnerin aufstockende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung. Im Rahmen jener Leistungen wurden die Bruttokaltmiete in Höhe von monatlich 298,44 Euro sowie Heizkosten in Höhe von monatlich 80,63 Euro übernommen. Am 09.07.2015 zog der am 00.00.0000 geborene Sohn der Antragstellerin N. B. in die Wohnung der Antragstellerin, wobei das Sorgerecht für ihn auf das Jugendamt der Antragsgegnerin übertragen worden ist. Daraufhin führte die Antragsgegnerin eine Wohngeldbedarfsberechnung durch und lehnte den Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 18.11.2015 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Antragstellerin könne vorrangiges Wohngeld in Anspruch nehmen, es ergebe sich ein Wohngeldanspruch in Höhe von 128,00 Euro monatlich. Die Antragstellerin legte am 10.12.2015 Widerspruch ein, über den bislang noch nicht entschieden worden ist.

Am 14.04.2016 hat sich die Antragstellerin an das Gericht gewandt und Eilrechtsschutz begehrt. Sie führt aus, durch ihre Mittellosigkeit könnten die Beiträge der freiwilligen Krankenversicherung nicht mehr getragen werden, so dass ein Verlust des Krankenversicherungsschutzes drohe. Überdies seien SGB XII-Leistungen vorrangig gegenüber Wohngeldleistungen. Bei der Berechnung seien die vollen und nicht lediglich die kopfteiligen – hälftigen – Kosten der Unterkunft in Ansatz zu bringen, weil ihr Sohn seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfülle und deshalb bislang keine Sozialleistungen erhalten könne. In diesem Fall müssten von der Antragsgegnerin die vollen Kosten der Unterkunft und Heizung übernommen werden.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab April 2016 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von 220,71 Euro zu bewilligen.

Die Antragsgegnerin hat bislang trotz Erinnerung keinen Antrag gestellt.

Nach Auskunft des gesetzlichen Vertreters der Antragstellerin hat das Jobcenter T mittlerweile einen Antrag des Sohnes der Antragstellerin auf SGB II-Leistungen bestandskräftig abgelehnt.

Hinsichtlich der weiteren wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen, die bei der Entscheidung vorgelegen hat.

II. Der zulässige Eilantrag ist unbegründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einst-weilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nach-teile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die be¬sonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (An¬ordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO).

Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin weder einen Anordnungsanspruch, noch einen Anordnungsgrund glaubhaft zu machen vermocht.

Die Antragstellerin hat bereits deshalb keinen Anspruch auf SGB XII-Leistungen, weil dem der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) entgegen steht. Denn sie hat einen Anspruch auf Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz. Das Gericht verweist auf die nachvollziehbare Berechnung der Antragsgegnerin (Bl. 127 ff der Verwaltungsvorgänge). Sie hat hierbei selbst einen Mehrbedarf der Antragstellerin wegen Alleinerziehung in Ansatz gebracht und die Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung als weiteren Bedarf berücksichtigt. Zwar sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WoGG Empfängerinnen von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom Wohngeld ausgeschlossen. Indessen ist die Antragstellerin derzeit keine "Empfängerin" von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, weil entsprechende Leistungen von der Antragsgegnerin abgelehnt worden sind. Selbst wenn man das Tatbestandsmerkmal der "Empfängerin" abweichend als bloßes Berechnungselement auslegen wollte, hätte die Antragstellerin keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Denn die Antragstellerin erfüllt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 a) WoGG. Denn durch die Gewährung von Wohngeld könnte eine Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 19 Abs. 2 SGB XII vermieden werden. Ohne Erfolg beruft sich die anwaltlich vertretene Antragstellerin auf einen höheren Bedarf. Sie verkennt hierbei, dass die Kosten der Unterkunft und Heizung – wie im Übrigen auch das Wohngeld (§ 11 Abs. 3 WoGG) – lediglich nach Kopfteilen erbracht werden. Da ihr Sohn mittlerweile in ihre Wohnung zugezogen ist, besteht damit von vornherein lediglich Anspruch auf die hälftigen Kosten der Unterkunft und Heizung. Unter Berücksichtigung jenes Bedarfs aber kann die Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 19 Abs. 2 SGB XII vermieden werden, wie die zutreffende Berechnung der Antragsgegnerin zeigt. Der von der Antragstellerin angesetzte Bedarf ist demgegenüber unzutreffend, weil er die vollen Kosten der Unterkunft und Heizung berücksichtigt. Soweit sich die Antragstellerin auf die Rechtsprechung des BSG beruft, nach der in Ausnahmefällen auch Anspruch auf die vollen Kosten der Unterkunft bestehen kann (BSG, Urteil vom 02.12.2014 – B 14 AS 50/13 R = juris, Rdnr., 18, 22, zur entsprechenden Problematik im SGB II), so liegt ein solcher Ausnahmefall hier schon deshalb nicht vor, weil der Sohn der Klägerin den Ablehnungsbescheid des Jobcenters wegen fehlender Mitwirkung offenbar hat bestandskräftig werden lassen.

Es besteht darüber hinaus auch kein Anordnungsgrund. Eine akute Notlage, deren Beseitigung keinen Aufschub duldet, liegt nach der Rechtsprechung der Kammer frühestens vor, wenn der Verlust der Wohnung unmittelbar droht. Dies ist bei der Antragstellerin bislang nicht der Fall. Denn es ist schon nicht glaubhaft gemacht, dass eine fristlose Kündigung des Vermieters ihres Wohnraums vorliegt, abgesehen davon, dass die materiellen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bislang nicht gegeben sind. Soweit die Antragstellerin unter Berufung auf obergerichtliche Rechtsprechung (etwa LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.01.2015 – L 6 AS 2085/14 B ER = juris, Rdnr. 29) meint, hierin liege eine Verletzung von Art. 13 Grundgesetz (GG) oder Art. 19 Abs. 4 GG, vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen. Eine Verletzung von Art. 13 GG vermag das Gericht schon deshalb nicht zu erkennen, weil hier nicht die Grundrechte als Abwehrrechte betroffen sind, sondern allein die Leistungsdimension der Grundrechte in Frage steht. Vor diesem Hintergrund aber ist eine Verletzung der grundrechtlich geschützten Wohnung nicht ersichtlich. Es wird durch die Verweigerung eines hälftigen Anteils der Kosten der Unterkunft und Heizung nämlich nicht in die Wohnung der Antragstellerin eingegriffen (ebenso im Ergebnis LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.11.2015 – L 2 AS 1723/15 B = juris, Rdnr. 4).

Auch eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht ersichtlich. Art. 19 Abs. 4 GG beinhaltet auch ein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, vermittelt wird eine "tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle" (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe nur BVerfG, Beschluss vom 27.10.1999 – 1 BvR 385/90 = BVerfGE 101, 106 (122); BVerfG, Beschluss vom 05.12.2001 – 2 BvR 527/99 u.a. = BVerfGE 104, 220 [231]), welche die Abwehr der Rechtsverletzung ermöglicht (Sachs, in: ders., GG, 6. Aufl. 2011, Art. 19 Rdnr. 143). Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben begegnet es keinen durchgreifendenden Bedenken, in einem auf die Bewilligung von Kosten der Unterkunft und Heizung gerichteten Eilverfahren von einem Anordnungsgrund erst dann auszugehen, wenn der Verlust der Wohnung unmittelbar droht. Das Gericht kann es hierbei dahin stehen lassen, ob dies erst dann anzunehmen ist, wenn die Räumung der Wohnung unmittelbar bevorsteht (etwa, weil ein Räumungstitel bereits existiert und die Räumung vom Vermieter betrieben wird) oder ob schon die Erhebung der Räumungsklage hierfür ausreicht. Denn jedenfalls die entfernte Möglichkeit eines Wohnungsverlustes, ohne dass die materiellen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB vorliegen bzw. ohne dass eine fristlose Kündigung überhaupt ausgesprochen ist, reichen hierfür nicht aus. Auch bei Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB, ist der Vermieter nämlich keinesfalls gehalten, eine fristlose Kündigung auch auszusprechen. Selbst wenn er von seinem Recht Gebrauch macht, kann der Mieter bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs die Unwirksamkeit der Kündigung herbeiführen, wenn sich eine öffentliche Stelle zur Befriedigung der fälligen Miete und der fälligen Entschädigung verpflichtet, § 569 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 BGB. Noch nach Erhebung der Räumungsklage kann damit verhindert werden, dass der Betroffene seinen Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung nicht mehr durchsetzen kann, weil er die Wohnung vorher verliert. Eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, welche die Abwehr der Rechtsverletzung ermöglicht, ist also bis zur Erhebung der Räumungsklage in jedem Fall noch möglich. Das Gericht sieht sich in seiner Auffassung durch die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Das BVerfG hat ausdrücklich bekräftigt, dass die Annahme, in einem auf die Bewilligung von Kosten der Unterkunft und Heizung gerichteten Eilverfahren liege ein Anordnungsgrund allein nach Kündigung des Mietverhältnisses ohne bereits erhobene Räumungsklage noch nicht vor, Art. 19 Abs. 4 GG nicht verletzt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des 1. Senats vom 18.04.2016 – 1 BvR 704/16 = juris).

Ein Anordnungsgrund resultiert schließlich nicht aus dem geltend gemachten Verlust des Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes der Antragstellerin. Denn wie die Bedarfsberechnung der Antragsgegnerin zeigt, fehlt es nicht an einem Bedarf auf Übernahme der freiwilligen Beiträge (diese wurden bedarfserhöhend berücksichtigt), sondern allein an einem Bedarf auf die vollständigen Kosten der Unterkunft. Wenn die Antragstellerin in der Vergangenheit dennoch ihre Erwerbsminderungsrente in Höhe von monatlich 733,01 Euro zzgl. des Zuschusses zur Krankenversicherung in Höhe von monatlich 53,51 Euro offenbar zur Zahlung der vollen Miete aufgewandt hat und dadurch die Krankenversicherungsbeiträge nicht vollständig gezahlt werden konnten, kann sie sich hierauf nicht berufen. Denn die Unterdeckung besteht allein im Hinblick auf den hälftigen Mietanteil und nicht auf die Kosten der freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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