L 6 SB 501/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 SB 5430/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 501/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 6. Februar 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begeht die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 und damit der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch.

Der Kläger ist im Jahre 1952 geboren, Staatsangehöriger der Republik Kroatien und Inhaber einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis. Sein Wohnsitz liegt in Deutschland. Er ist seit einem befristeten Arbeitsverhältnis im Trockenbau ab 2012 seit 2014 wieder arbeitslos, lebt seit 9 Jahren von seiner zweiten Ehefrau getrennt allein in Stuttgart, wo er sich selbstständig versorgt und noch familiäre Kontakte zu seinem Zwillingsbruder wie seinen beiden Stieftöchtern pflegt.

Der Kläger beantragte am 12. Juli 2011 erstmals die Feststellung des GdB. Der Beklagte zog zahlreiche ärztliche Unterlagen bei. Darunter befand sich der Entlassungsbericht der Klinik Sch. W. vom 7. Februar 2012 über eine stationäre Rehabilitation des Klägers Ende 2011 und Anfang 2012. Darin waren eine rezidivierende depressive Episode, gegenwärtig schwer, Anpassungsstörungen, eine nichtorganische Insomnie (Schlafstörung), ein HWS-Syndrom und eine Hypertonie diagnostiziert. Nach den anamnestischen Angaben sei der Kläger ohne Berufsabschluss 1972 nach Deutschland eingewandert und habe als Vorarbeiter auf Baustellen gearbeitet, bis ihn sein letzter Arbeitgeber zunächst gemobbt und sodann nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Februar 2011 im Folgemonat gekündigt habe. Seitdem ist der Kläger arbeitslos. Von seiner ersten Ehefrau, die er 1973 geheiratet habe, sei er seit 1993 geschieden. Ein heute 45 Jahre alter Stiefsohn habe psychische Probleme. Seine zweite Ehefrau, die er 2001 geheiratet habe, lebe überwiegend in Kroatien. Zu den beiden Töchtern seiner Ehefrau habe er guten Kontakt. Er lebe allein in Stuttgart und versorge sich selbst, habe Kontakte, gehe viel spazieren und sei immer beschäftigt.

Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten schlug nach einer Auswertung der Unterlagen Einzel-GdB-Werte von 30 für ein "psychovegetatives Erschöpfungssyndrom und Depression" und von 10 für eine "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule" und eine Polyarthrose sowie daraus folgend einen Gesamt-GdB von 30 vor. Gestützt hierauf stellte der Beklagte mit Bescheid vom 16. April 2012 einen GdB von 30 seit Antragstellung fest.

Der Kläger erhob Widerspruch und legte zahlreiche weitere ärztliche Unterlagen vor, darunter das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg vom 18. April 2012. Darin war ausgeführt, nach der stationären Behandlung in W. lägen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig noch leichtgradig, Anpassungsstörungen und ein HWS- und ein LWS-Syndrom, eine Hypertonie, ein medikamentös eingestellter Diabetes mellitus Typ 2 und eine Hyperurikämie vor. Zu seiner persönlichen Situation hatte der Kläger hier ergänzend angegeben, die Kontakte in Stuttgart beträfen unter anderem seinen hier lebenden Zwillingsbruder und dessen Familie.

Gestützt auf die nunmehr vorgelegten Unterlagen schlug der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten vor, den Einzel-GdB für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und eine entzündlich-rheumatische Erkrankung der Wirbelsäule nunmehr mit 30 anzunehmen, den GdB für die psychische Erkrankung auf 20 zu verringern und ferner einen Einzel-GdB von 10 für eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke anzunehmen. Der Gesamt-GdB betrage 40. Daraufhin stellte der Beklagte mit Teil-Abhilfe-Bescheid vom 17. September 2012 einen GdB von 40 ab Antragstellung fest. Den gleichwohl aufrecht erhaltenen Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 2012 unter Übernahme eines Drittels der Vorverfahrenskosten zurück.

Der Kläger hat am 4. Oktober 2012 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Er hat vorgetragen, er habe multiple orthopädische Probleme, vor allem Ganzkörperschmerzen, und leide seit Jahren an Angstzuständen und mittelschweren depressiven Episoden. Er sei zermürbt.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Der Orthopäde Dr. A. hat unter dem 17. Dezember 2012 unter Angabe der gemessenen Restbeweglichkeiten mitgeteilt, bei dem Kläger handle es sich um eine hochgradige Bewegungseinschränkung der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule, die einen GdB von 50 bedinge. Der Anästhesist und Schmerztherapeut Dr. Z. hat mit Schreiben vom 18. Dezember 2012 bekundet, er habe bei einer einmaligen Vorsprache des Klägers im September 2011 eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren festgestellt, die einen GdB nicht über 30 bedinge. Nebenbefundlich hat Dr. Z. unter anderem auf eine Gicht und eine schwere Parodontose mit einem Verlust der Unterkieferfrontzähne und des Oberkiefereckzahns innerhalb eines Jahres hingewiesen. Der Allgemeinmediziner Dr. B. hat am 10. Januar 2013 berichtet, der Kläger behandle den Diabetes diätetisch und mit Metformin, Folgeschäden lägen nicht vor. Daneben beständen eine schwere Depression, eine schwere Schlafstörung und die mittelgradige orthopädische Erkrankung. Die Funktionsbeeinträchtigungen auf Grund der psychischen Erkrankung seien höher zu bewerten, der GdB betrage insgesamt 50. Letztlich hat der Neurologe und Psychiater Dr. L. mit Schreiben vom 12. Februar 2013 mitgeteilt, er behandle den Kläger seit September 2011 durchgehend, es handle sich um eine schwere Depression, die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit des Klägers sei nur noch minimal vorhanden, es beständen lebenspraktische Defizite bei der selbstständigen Lebensgestaltung, so könne der Kläger nur in Begleitung einkaufen. Der GdB liege allein auf psychiatrischem Fachgebiet bei mindestens 50.

Daraufhin hat das SG bei dem Facharzt für Orthopädie Dr. H. das Gutachten vom 28. Juni 2013 über den Kläger eingeholt. Der Sachverständige hat bekundet, bei dem Kläger beständen ein Zervikalsyndrom, ausgeprägte spondylotische Veränderungen ohne neurologische Ausfälle, degenerative Veränderungen des linken Ileosakralgelenks, ein Rotatorenmanschettensyndrom beidseits, eine initiale Schultereckgelenksarthrose beidseits, eine initiale Heberdenarthrose beidseits, eine unzulängliche muskuläre Führung beider Kniescheiben, ein Senk-Spreiz-Fuß beidseits und eine gering ausgeprägte Adipositas. Die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich Halswirbelsäule seien schwer, jene der Rumpfwirbelsäule mittelgradig. Die Wirbelsäulenschäden seien mit einem GdB von 30 zu bewerten, wobei darin die hierdurch ausgelösten Schmerzsyndrome enthalten seien. Die Veränderungen in den Schultergelenken hätten bislang nicht zu relevanten Funktionseinschränkungen geführt, der GdB betrage 10. Die Heberdenarthrose an den Händen, die Funktionsstörung an beiden Knien und an beiden Füßen bedingten jeweils keinen GdB von wenigstens 10. Der Gesamt-GdB auf orthopädischem Fachgebiet betrage daher 30.

Weiterhin hat das SG den Kläger wiederum von Amts wegen auf psychiatrischem Fachgebiet begutachten lassen. Der Neurologe und Psychiater Dr. Sch. hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 6. Februar 2014 (Untersuchungstag) ausgeführt, bei dem Kläger beständen eine Dysthymie und eine Meralgia paresthetica rechts. Die depressive Symptomatik sei zurückgegangen. Sie bedinge zur Zeit einen GdB von 30. Es sei nicht auszuschließen, dass rückwirkend stärkere Einbußen mit einem GdB von 40 vorgelegen hätten. Anhaltspunkte für eine eigenständige somatoforme Schmerzstörung lägen nicht vor.

Mit Gerichtsbescheid vom 6. Februar 2015 hat das SG nach vorheriger Anhörung der Beteiligten die Klage abgewiesen. Es bestehe kein Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB als des anerkannten von 40. Auf nervenärztlichem Gebiet seien die Beeinträchtigungen des Klägers, wie sie insbesondere Dr. Sch. beschrieben habe, als wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einzustufen und mit einem GdB von 30 zu belegen. Dem weitergehenden Vorschlag Dr. L.s hat sich das SG nicht angeschlossen. Die Symptomatik, die er beschrieben habe, habe bei der Untersuchung durch Dr. Sch. nicht vorgelegen. Der Kläger sei dort lediglich antriebsgehemmt und die Konzentrations- und Merkfähigkeit seien nicht schwerwiegend beeinträchtigt gewesen. Er habe zwar Probleme geschildert, sich nach dem Aufstehen "aufzuraffen", aber letztlich erledige er seinen Haushalt, mache die Einkäufe, gehe regelmäßig spazieren und sehe fern, um sich zu orientieren. Die Beeinträchtigungen an der Wirbelsäule bedingten einen GdB von 20. Die Beeinträchtigungen an der Halswirbelsäule seien entgegen Dr. H.s Einschätzung nicht als schwer, sondern als mittelgradig einzustufen. Seitneigung und Rotation seien nur leichtgradig verringert gewesen, neurologische Defizite oder Nervenwurzelreizungen habe Dr. H. ausgeschlossen. Da die Beeinträchtigungen in den beiden anderen Wirbelsäulenabschnitten leichtgradig seien, komme für den Rumpf kein höherer GdB als 20 in Betracht. Zudem seien außergewöhnliche Schmerzsyndrome nicht nachgewiesen. Insofern habe sich der Kläger nur einmalig im September 2011 bei Dr. Z. in Behandlung befunden. Da die übrigen Gesundheitsschäden des Klägers an den Schultern, Knien und Füßen sowie auf internistischem Gebiet, hier namentlich ein Diabetes und eine Hypertonie, jeweils keine Einzel-GdB-Werte von mehr als 10 bedingten, sei der Gesamt-GdB mit 40 zutreffend festgestellt.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12. Februar 2015 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhoben. Er leide an Ganzkörperschmerzen, insbesondere in den Armen, im Schulter- und Beinbereich und an den Hüften. Ferner beständen seit Jahren Angstzustände und mittelschwere depressive Episoden. Die Beeinträchtigungen auf internistischem Gebiet führten ihrerseits zu einem weiteren GdB von 30.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 6. Februar 2015 und den Bescheid vom 16. April 2012 in Gestalt des Teil-Abhilfebescheides vom 17. September 2012 und des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm einen Grad der Behinderung von mindestens 50 ab dem 12. Juli 2011 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und seine Entscheidungen.

Auf den in der Berufungsschrift gestellten Antrag, Dr. A. als Wahlgutachter zu hören, hat der Senat den Kläger am 16. Februar 2015 aufgefordert, binnen vier Wochen einen Kostenvorschuss von EUR 1.500,00 zur Landesoberkasse einzuzahlen und sich zu verpflichten, etwaige weitere Kosten zu übernehmen. Die Übernahmeverpflichtung des Klägers ist am 26. Februar 2015 eingegangen, ein Kostenvorschuss jedoch nicht.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, er habe keinen Kontakt mehr zum Kläger, möglicherweise sei dieser nach Kroatien umgezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, weil der Kläger keine Geld-, Sach- oder Dienstleistungen, sondern eine behördliche Feststellung begehrt.

Auch im Übrigen ist die Berufung zulässig, insbesondere hat sie der Kläger form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.

Der Senat konnte trotz des Antrags vom 12. Februar 2015, ein Wahlgutachten nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG zu erheben, in der Sache entscheiden. Jener Antrag ist abzulehnen. Der Senat hatte die Anhörung von Dr. A. gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht (vgl. zu diesem Erfordernis Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 109 Rz. 11 a). Dieser Vorschuss ist nicht eingegangen.

Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines GdB von 50 oder mehr. Dies ergibt sich bereits aus den medizinischen Voraussetzungen, sodass der Senat offen lassen kann, ob etwaige Ansprüche des Klägers nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) nach seinem - eventuellen - Umzug ins Ausland nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr zustehen.

In der Sache richtet sich der Anspruch des Klägers nach § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX. Danach stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Menschen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Schwerbehindert sind gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10-er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gem. § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG (bis 30. Juni 2011: § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Von dieser Ermächtigung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Gebrauch gemacht und die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) erlassen, um unter anderem die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG zu regeln (vgl. § 1 VersMedV). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (vgl. zu allem Urteil des Senats vom 27. August 2015 – L 6 SB 4445/14 –, Rn. 28, juris).

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig ihrer Ursache, also final, bezogen ist (BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris). Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als "Alterskrankheiten" (etwa "Altersdiabetes" oder "Altersstar") bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c).

Bei der Bewertung mit einem GdB werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben erfasst. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anZ.eben. Dabei sollen nach den VG, Teil A, Nr. 2 e, im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 29).

Liegen - wie im Falle des Klägers - mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 - B 9 SB 1/03 R -, juris, Rn. 17 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermitteln-den, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. zu allem Urteil des Senats vom 27. August 2015 – L 6 SB 425/15 –, Rn. 38, juris).

In Anwendung dieser Grundsätze liegt beim Kläger unter Auswertung der medizinischen Unterlagen auch zur Überzeugung des Senats lediglich der bereits anerkannte Gesamt-GdB von 40 vor.

Für das Funktionssystem "Rumpf" ist kein GdB von mehr als 20 zuzuerkennen. Mit diesem GdB sind nach den VG, Teil B Nr. 18.9, mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt zu bewerten, dies sind eine Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen oder eine Instabilität mittleren Grades sowie häufig rezidivierende oder über Tage anhaltende Wirbelsäulensyndrome. Ein GdB von 30 kommt erst bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder bei mittelgradigen Funktionseinbußen in wenigstens zwei Wirbelsäulenabschnitten in Betracht. Bei dem Kläger bestehen lediglich mittelgradige funktionelle Auswirkungen an der Halswirbelsäule. Dies entnimmt der Senat den Feststellungen des Sachverständigen Dr. H. und den Aussagen des behandelnden Orthopäden Dr. A. vom 17. Dezember 2012. Bei der Untersuchung bei Dr. H. betrug die Beugung/Streckung (Vorneigung/Rückneigung) 40/0/60° (Normwert 35-45/0/45-70°), die Seitneigung 30/0/30° (45/0/45°) und die Rotation war bis 50/0/50° (60-80/0/60-80°) möglich (S. 10 GA). Hiernach lagen altersvorauseilende Einschränkungen nur bei der Seitneigung und - geringfügig - bei der Rotation vor. Der geringste Kinn-Brustbein-Abstand betrug nur 2 cm. Nervenwurzelreizungen oder andere neurologische Auswirkungen, insbesondere in die oberen Gliedmaßen hinein, hat Dr. H. ausgeschlossen. Die weiteren Beeinträchtigungen an der Brust- oder Lendenwirbelsäule sind leichtgradig. Die Entfaltbarkeit beider Segmente war nur in geringem Ausmaß eingeschränkt (Ott’sches Zeichen 30/32 cm, Schober’sches Zeichen 10/14 cm), der Finger-Boden-Abstand betrug 18 cm. Auch hier konnte Dr. H. daneben im Wesentlichen nur Muskelverspannungen feststellen, aber keine radikulären Reizungen oder sensomotorische Ausfälle. (vgl. S. 10, 13 f. GA).

Das Funktionssystem "unter Gliedmaßen" kann mit einem GdB von 10 belegt werden. Die Beweglichkeit von Hüft- und Kniegelenken war weitgehend frei (vgl. GA Dr. H. S. 14 f.). So konnten die Kniegelenke beidseits bis 130° gebeugt und durchgestreckt (0°) werden, sodass allein hieraus nicht einmal ein GdB von 10 zu folgern wäre, der eine Beugehemmung auf höchstens 90° voraussetzt, während ein GdB von 20 eine zusätzliche Streckhemmung verlangt (VG, Teil B Nr. 18.14). Die muskulären Defizite im Bereich der Kniescheiben führen lediglich zu einer unzureichenden aktiven Führung und einer Lateralisierungstendenz ab einer Beugung von 70° (S. 13 GA). Eine höhergradige Knorpelschädigung oder anhaltende Reizerscheinungen an den Kniegelenken liegen nach Dr. H.s Feststellungen nicht vor. Ähnliches gilt für die Beeinträchtigungen auf Grund der Fußdeformität (Senk-Spreiz-Fuß). Insbesondere hat Dr. H. keine Bewegungseinschränkungen an den Sprunggelenken festgestellt.

Für die Folgen der Schulterschädigung kann nach den VG, Teil B Nr. 18.13 kein GdB festgestellt werden. Die Schultergelenke waren bei der Untersuchung bei Dr. H. mit einer Ab- und Anspreizung (körperwärts) mit 170/0/30° rechts und 160/0/30° links nahezu frei. Ein GdB von 10 hätte dagegen eine Einschränkung der Armhebung auf höchstens 120°, ein solcher von 20 eine Einschränkung auf höchstens 90° vorausgesetzt. Auch an den Händen hat die dortige Arthrose noch keine relevanten Funktionseinbußen verursacht. Aus diesen Gründen hat der Beklagte für das Funktionssystem "obere Gliedmaßen" zutreffend keinen GdB von wenigstens 20 anerkannt.

Auch auf internistischem Fachgebiet (Funktionssysteme Herz-Kreislauf, Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem, Innere Sekretion und Stoffwechsel) sind keine GdB-Werte von mehr als 10 festzustellen. Diese Einschätzung stützt der Senat auf die Feststellungen des beigezogenen Berichts über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme des Klägers in W. und die Angaben des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. B ... Dieser hatte die Hypertonie des Klägers als gut eingestellt bezeichnet. In dem genannten Reha-Bericht ist vermerkt, dass der Blutdruck bei Aufnahme 170/100 mmHg betrug und Folgeschäden nicht vorlagen. Danach liegt allenfalls eine leichte Form des Bluthochdrucks vor, die nach den VG, Teil B Nr. 9.3 einen GdB von 0 bis 10 bedingt, während für einen GdB von 20 oder mehr bereits eine mittelschwere Form mit Organbeteiligungen und einem "mehrfachen" Anstieg des diastolischen Werts über 100 mmHg vonnöten wären. Der Diabetes mellitus des Klägers bedingt nach der Neufassung der VG, Teil B Nr. 15.1 durch die Zweite Änderungsverordnung vom 14. Juli 2010 (BGBl I S. 928) keinen GdB mehr, weil ihn der Kläger diätetisch und mit Metformin behandelt, sodass diese Therapie regelmäßig keine Hypoglykämien auslösen kann.

Für das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" hat der Beklagte einen GdB von 30 zu Grunde gelegt, der nach der Rspr. des erkennenden Senats allerdings angesichts der wenigen Einschränkungen im tatsächlichen Leben kaum begründbar ist, allenfalls ein solcher von 20 wäre begründbar. Wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, wie sie für einen GdB von wenigstens 30 erforderlich wären (VG, Teil B Nr. 3.7), sind nicht erkennbar. Diese Einschätzung stützt sich im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. Sch. vom 6. Februar 2014. Seine Feststellungen waren umfassender, aktueller, aus der Perspektive eines neutralen Gutachters getroffen und sind daher den z.T. abweichenden Angaben bzw. Einschätzungen des behandelnden Arztes Dr. L. vorzuziehen. Dr. Sch. hat bei dem Kläger nur eine leichte Antriebshemmung, eingeschränkte Mimik und Gestik und eine - nur - geringfügige Verlangsamung des Gedankengangs festgestellt. Eine Affektlabilität war zurzeit auszuschließen. Auch die soziale Leidensdimension der depressiven Erkrankung war nur geringfügig ausgeprägt. Zwar sind die sozialen Kontakte des Klägers gegenüber früher eingeschränkt, aber es besteht auf einfachem Niveau ein ausreichend strukturierter Tagesablauf - Haushalt, Versorgung und die sonstigen lebenspraktischen Erfordernisse werden erledigt - und eine soziale Einbindung durch die regelmäßigen Spaziergänge, durch Lesen und Fernsehen und durch den - nach Angaben des Klägers nunmehr "kleinen" (S. 11 GA) - Bekanntenkreis, vor allem den in Stuttgart lebenden Zwillingsbruder und dessen Kinder. Dass für die depressive Symptomatik zum Zeitpunkt des Heilverfahrens Ende 2011 ein höherer Teil-GdB, etwa ein solcher von 40, angemessen gewesen wäre, wie dies der Sachverständige Dr. Sch. annimmt, ist rückblickend, was er zugleich einräumt, nicht nachgewiesen und steht damit für eine Verurteilung des Beklagten nicht ausreichend fest.

Aus den beiden GdB-Werten von 30 und 20 (vgl. VG, Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe ee Satz 1 und 2) hat der Beklagte entsprechend den Vorgaben aus den VG, Teil A Nr. 3 Buchstabe c) zutreffend einen Gesamt-GdB von 40 gebildet, da Überschneidungen zwischen den beschriebenen Schmerzen mit den somatischen und psychischen Faktoren bestehen, worauf zuletzt auch Dr. R. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme zutreffend hingewiesen hat. Das verletzt den Kläger jedenfalls nicht, wenngleich ein solcher von 30 (20 und 20) angemessen wäre.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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