Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 23 AS 3602/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 66/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte dem im Jahr 1985 geborenen Kläger Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu erbringen hat.
Der Kläger befand sich seit 15. Dezember 2011 in N. im Maßregelvollzug nach § 64 StGB. Im Rahmen eines "abgestuften Behandlungskonzepts" wurde der Kläger ab 21. Oktober 2014 zu sog. "Probewohnen" vom Maßregelvollzug beurlaubt. Probewohner leben außerhalb der Klinik in einer eigenen Wohnung, einer betreuten Wohngruppe oder in einem Wohnheim mit dem Ziel, nach einer individuell zugeschnittenen Probezeit aus dem Maßregelvollzug entlassen zu werden. Sie müssen sich eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit suchen und stehen dem Arbeitsmarkt in vollem Umfang zur Verfügung.
Der Kläger nahm sich eine Wohnung in H ... Er erhielt während des Probewohnens ein Taschengeld. Zudem übernahm der Maßregelvollzug die Kosten der Unterkunft und die tägliche Verpflegung. Am 1. Juli 2015 wurde der Kläger aus dem Maßregelvollzug entlassen.
Am 28. April 2015 hatte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II gestellt. Diesen Antrag lehnte der Beklagte, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. August 2015, ab, da der Kläger gem. § 7 Abs. 4 Nr. 2 SGB II als stationär Untergebrachter von Leistungen ausgeschlossen sei.
Auf seine Klage hin verpflichtete das Sozialgericht Hamburg den Beklagten mit Gerichtsbescheid vom 21. Januar 2016 unter Aufhebung der genannten Bescheide, dem Kläger für die Zeit vom 28. April 2015 bis 30. Juni 2015 aufstockende Hilfe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bewilligen: Der Kläger sei leistungsberechtigt nach § 7 Abs. 1 SGB II. Seinem Anspruch stehe insbesondere § 7 Abs. 4 SGB II nicht entgegen. Er sei in der fraglichen Zeit nicht in einer stationären Einrichtung untergebracht gewesen. Zwar unterfalle der Maßregelvollzug grundsätzlich dem § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II. Das gelte jedoch nicht für vom Maßregelvollzug beurlaubte Personen, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen sollen.
Der Gerichtsbescheid wurde dem Beklagten am 26. Januar 2016 zugestellt. Am 24. Februar 2016 hat er (die vom Sozialgericht ausdrücklich zugelassene) Berufung eingelegt: Der Kläger habe sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufgehalten, die nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II einer Unterbringung in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II gleichgestellt sei und damit einen Leistungsausschluss zur Folge habe. Die Beurlaubung des Klägers ändere daran nichts.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Januar 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Sachakten des Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.
Die grundsätzliche Leistungsberechtigung des Klägers nach § 7 Abs. 1 SGB II steht nicht in Frage. Er erfüllte in der fraglichen Zeit sämtliche Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er fällt nicht unter die Ausschlusskriterien des § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB II, und insbesondere war er hilfebedürftig i. S. des § 9 Abs. 1 SGB II.
Der Kläger war – entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten – damals auch nicht vom Leistungsbezug nach § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen. Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistungen oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Nach Satz 2 wird dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II a.F. erhält abweichend von diesen Regelungen Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II lagen hier zwar zunächst vor. Der Kläger war im Rahmen des Maßregelvollzugs nach § 64 StGB untergebracht und damit ab stationärer Aufnahme am 15. Dezember 2011 vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Ein Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II liegt insbesondere vor bei dem Vollzug von Strafhaft, Untersuchungshaft, Maßregeln der Besserung und Sicherung, einstweiliger Unterbringung, der Absonderung nach dem Bundesseuchengesetz, Geschlechtskrankheitengesetz, der Unterbringung psychisch Kranker und Suchtkranker nach den Unterbringungsgesetzen der Länder sowie dann, wenn nach § 1666 BGB das Vormundschaftsgericht die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes trifft (vgl. BT-Drucks 16/1410, S. 20 zu Nr. 7 Buchst. c). Der Kläger hielt sich jedoch seit dem 21. Oktober 2014, d.h. während seiner Beurlaubung aus dem Maßregelvollzug, nicht mehr in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i.S.d. genannten Norm auf.
In seiner neueren Rechtsprechung zur Regelung des § 7 Abs. 4 SGB II hat das Bundessozialgericht (BSG) festgestellt, dass der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nach der seit 1. August 2006 geltenden Gesetzesfassung Leistungen nach dem SGB II dann ausschließt, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzepts die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernimmt (Urteile vom 5. Juni 2014 - B 4 AS 32/13 R – und vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 35/13 R). Diese Rechtsprechung ist zu übertragen auf Fälle des Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, da nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II diese Fälle denen des Aufenthalts in einer stationären Einrichtung nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II ausdrücklich gleichgestellt sind. Das BSG hat in der genannten Entscheidung vom 5. Juni 2014 klargestellt, dass an der früheren Rechtsprechung, die zur bis 31. Juli 2006 geltenden Gesetzesfassung ergangen ist, vor allem an dem darin entwickelten funktionalen Einrichtungsbegriff nicht mehr festgehalten werden könne. Insbesondere § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II in der danach geltenden Fassung, wonach eine ausdrückliche Rückausnahme vom Leistungsausschluss lediglich für den Fall einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit vorgesehen sei, gebe Anlass zu einer Modifizierung des bisherigen Einrichtungsbegriffs in Zusammenschau mit dem sozialhilferechtlichen Begriffsverständnisses aus § 13 SGB XII. Aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II, der Gesetzesbegründung, dem Sinn und Zweck und der Systematik folgert das BSG, dass für das Eingreifen eines Leistungsausschlusses drei Voraussetzungen vorliegen müssen: 1. die Leistungserbringung in einer Einrichtung, 2. eine stationäre Leistungserbringung, 3. eine Unterbringung in einer Einrichtung. Dabei hat das BSG hinsichtlich des Einrichtungsbegriffs ausdrücklich auf § 13 SGB XII Bezug genommen in der Absicht, das in der Kommentarliteratur kritisierte Auseinanderfallen der Einrichtungsbegriffe nach dem SGB II und dem SGB XII aufzuheben, und sich für die Frage der Zuordnung zu einem der beiden Leistungssysteme für einen einheitlichen Einrichtungsbegriff entschieden. Das BSG hat weiter ausgeführt, dass von einer stationären Leistungserbringung nur ausgegangen werden könne, wenn der Leistungsempfänger nach formaler Aufnahme in der Institution lebe und die Unterbringung Teil der Leistungserbringung sei. Das Erfordernis der Unterbringung sei von § 7 Abs. 4 SGB II ausdrücklich zum Tatbestandsmerkmal erhoben worden. Von einer Unterbringung im Sinne der Vorschrift sei nur auszugehen, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzeptes die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernehme; ein geringes Maß an Unterbringung im Sinne einer formalen Aufnahme genüge hingegen nicht. Insbesondere die Voraussetzungen einer stationären Unterbringung in einer Einrichtung waren nach Erteilung der dauerhaften Beurlaubung des Klägers und damit während des dauerhaften Aufenthaltes in seiner eigenen Wohnung nicht mehr gegeben. Auch die Tatsache, dass der Kläger im streitigen Zeitraum seinen Lebensunterhalt außerhalb der Einrichtung selbständig sicherstellen sollte, spricht für diese Auslegung. Gleiches gilt für die Zielrichtung der erfolgten Beurlaubung im Sinne der Resozialisierung und zur Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben und zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Dagegen führt die Tatsache, dass eine förmliche Entlassung aus dem Maßregelvollzug noch nicht erfolgt war, sondern die Unterbringung im maßregelvollzugsrechtlichen Sinne fortdauerte, zu keinem anderen Ergebnis (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.1.2016, L 13 AS 309/13, m.w.N.).
Aus § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II in der heute geltenden Fassung ergibt sich nichts anderes. Zwar ist die Rückausnahme dieser Norm damit ausdrücklich auf Personen in stationären Einrichtungen i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II beschränkt worden. Der Kläger profitiert nach Vorstehendem jedoch nicht erst von der Rückausnahme, sondern bereits vom Fehlen des Tatbestandsmerkmals des Aufenthalts in einer Einrichtung (Satz 2).
Nach alledem hat das Sozialgericht den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, dem Kläger ergänzende Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte dem im Jahr 1985 geborenen Kläger Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu erbringen hat.
Der Kläger befand sich seit 15. Dezember 2011 in N. im Maßregelvollzug nach § 64 StGB. Im Rahmen eines "abgestuften Behandlungskonzepts" wurde der Kläger ab 21. Oktober 2014 zu sog. "Probewohnen" vom Maßregelvollzug beurlaubt. Probewohner leben außerhalb der Klinik in einer eigenen Wohnung, einer betreuten Wohngruppe oder in einem Wohnheim mit dem Ziel, nach einer individuell zugeschnittenen Probezeit aus dem Maßregelvollzug entlassen zu werden. Sie müssen sich eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit suchen und stehen dem Arbeitsmarkt in vollem Umfang zur Verfügung.
Der Kläger nahm sich eine Wohnung in H ... Er erhielt während des Probewohnens ein Taschengeld. Zudem übernahm der Maßregelvollzug die Kosten der Unterkunft und die tägliche Verpflegung. Am 1. Juli 2015 wurde der Kläger aus dem Maßregelvollzug entlassen.
Am 28. April 2015 hatte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II gestellt. Diesen Antrag lehnte der Beklagte, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. August 2015, ab, da der Kläger gem. § 7 Abs. 4 Nr. 2 SGB II als stationär Untergebrachter von Leistungen ausgeschlossen sei.
Auf seine Klage hin verpflichtete das Sozialgericht Hamburg den Beklagten mit Gerichtsbescheid vom 21. Januar 2016 unter Aufhebung der genannten Bescheide, dem Kläger für die Zeit vom 28. April 2015 bis 30. Juni 2015 aufstockende Hilfe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bewilligen: Der Kläger sei leistungsberechtigt nach § 7 Abs. 1 SGB II. Seinem Anspruch stehe insbesondere § 7 Abs. 4 SGB II nicht entgegen. Er sei in der fraglichen Zeit nicht in einer stationären Einrichtung untergebracht gewesen. Zwar unterfalle der Maßregelvollzug grundsätzlich dem § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II. Das gelte jedoch nicht für vom Maßregelvollzug beurlaubte Personen, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen sollen.
Der Gerichtsbescheid wurde dem Beklagten am 26. Januar 2016 zugestellt. Am 24. Februar 2016 hat er (die vom Sozialgericht ausdrücklich zugelassene) Berufung eingelegt: Der Kläger habe sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufgehalten, die nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II einer Unterbringung in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II gleichgestellt sei und damit einen Leistungsausschluss zur Folge habe. Die Beurlaubung des Klägers ändere daran nichts.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Januar 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Sachakten des Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.
Die grundsätzliche Leistungsberechtigung des Klägers nach § 7 Abs. 1 SGB II steht nicht in Frage. Er erfüllte in der fraglichen Zeit sämtliche Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er fällt nicht unter die Ausschlusskriterien des § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB II, und insbesondere war er hilfebedürftig i. S. des § 9 Abs. 1 SGB II.
Der Kläger war – entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten – damals auch nicht vom Leistungsbezug nach § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen. Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistungen oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Nach Satz 2 wird dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II a.F. erhält abweichend von diesen Regelungen Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
Die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II lagen hier zwar zunächst vor. Der Kläger war im Rahmen des Maßregelvollzugs nach § 64 StGB untergebracht und damit ab stationärer Aufnahme am 15. Dezember 2011 vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Ein Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II liegt insbesondere vor bei dem Vollzug von Strafhaft, Untersuchungshaft, Maßregeln der Besserung und Sicherung, einstweiliger Unterbringung, der Absonderung nach dem Bundesseuchengesetz, Geschlechtskrankheitengesetz, der Unterbringung psychisch Kranker und Suchtkranker nach den Unterbringungsgesetzen der Länder sowie dann, wenn nach § 1666 BGB das Vormundschaftsgericht die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes trifft (vgl. BT-Drucks 16/1410, S. 20 zu Nr. 7 Buchst. c). Der Kläger hielt sich jedoch seit dem 21. Oktober 2014, d.h. während seiner Beurlaubung aus dem Maßregelvollzug, nicht mehr in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i.S.d. genannten Norm auf.
In seiner neueren Rechtsprechung zur Regelung des § 7 Abs. 4 SGB II hat das Bundessozialgericht (BSG) festgestellt, dass der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nach der seit 1. August 2006 geltenden Gesetzesfassung Leistungen nach dem SGB II dann ausschließt, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzepts die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernimmt (Urteile vom 5. Juni 2014 - B 4 AS 32/13 R – und vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 35/13 R). Diese Rechtsprechung ist zu übertragen auf Fälle des Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, da nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II diese Fälle denen des Aufenthalts in einer stationären Einrichtung nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II ausdrücklich gleichgestellt sind. Das BSG hat in der genannten Entscheidung vom 5. Juni 2014 klargestellt, dass an der früheren Rechtsprechung, die zur bis 31. Juli 2006 geltenden Gesetzesfassung ergangen ist, vor allem an dem darin entwickelten funktionalen Einrichtungsbegriff nicht mehr festgehalten werden könne. Insbesondere § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II in der danach geltenden Fassung, wonach eine ausdrückliche Rückausnahme vom Leistungsausschluss lediglich für den Fall einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit vorgesehen sei, gebe Anlass zu einer Modifizierung des bisherigen Einrichtungsbegriffs in Zusammenschau mit dem sozialhilferechtlichen Begriffsverständnisses aus § 13 SGB XII. Aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II, der Gesetzesbegründung, dem Sinn und Zweck und der Systematik folgert das BSG, dass für das Eingreifen eines Leistungsausschlusses drei Voraussetzungen vorliegen müssen: 1. die Leistungserbringung in einer Einrichtung, 2. eine stationäre Leistungserbringung, 3. eine Unterbringung in einer Einrichtung. Dabei hat das BSG hinsichtlich des Einrichtungsbegriffs ausdrücklich auf § 13 SGB XII Bezug genommen in der Absicht, das in der Kommentarliteratur kritisierte Auseinanderfallen der Einrichtungsbegriffe nach dem SGB II und dem SGB XII aufzuheben, und sich für die Frage der Zuordnung zu einem der beiden Leistungssysteme für einen einheitlichen Einrichtungsbegriff entschieden. Das BSG hat weiter ausgeführt, dass von einer stationären Leistungserbringung nur ausgegangen werden könne, wenn der Leistungsempfänger nach formaler Aufnahme in der Institution lebe und die Unterbringung Teil der Leistungserbringung sei. Das Erfordernis der Unterbringung sei von § 7 Abs. 4 SGB II ausdrücklich zum Tatbestandsmerkmal erhoben worden. Von einer Unterbringung im Sinne der Vorschrift sei nur auszugehen, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzeptes die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernehme; ein geringes Maß an Unterbringung im Sinne einer formalen Aufnahme genüge hingegen nicht. Insbesondere die Voraussetzungen einer stationären Unterbringung in einer Einrichtung waren nach Erteilung der dauerhaften Beurlaubung des Klägers und damit während des dauerhaften Aufenthaltes in seiner eigenen Wohnung nicht mehr gegeben. Auch die Tatsache, dass der Kläger im streitigen Zeitraum seinen Lebensunterhalt außerhalb der Einrichtung selbständig sicherstellen sollte, spricht für diese Auslegung. Gleiches gilt für die Zielrichtung der erfolgten Beurlaubung im Sinne der Resozialisierung und zur Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben und zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Dagegen führt die Tatsache, dass eine förmliche Entlassung aus dem Maßregelvollzug noch nicht erfolgt war, sondern die Unterbringung im maßregelvollzugsrechtlichen Sinne fortdauerte, zu keinem anderen Ergebnis (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.1.2016, L 13 AS 309/13, m.w.N.).
Aus § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II in der heute geltenden Fassung ergibt sich nichts anderes. Zwar ist die Rückausnahme dieser Norm damit ausdrücklich auf Personen in stationären Einrichtungen i.S.v. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II beschränkt worden. Der Kläger profitiert nach Vorstehendem jedoch nicht erst von der Rückausnahme, sondern bereits vom Fehlen des Tatbestandsmerkmals des Aufenthalts in einer Einrichtung (Satz 2).
Nach alledem hat das Sozialgericht den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, dem Kläger ergänzende Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
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