L 16 R 70/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 3 R 318/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 70/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 12. Dezember 2016 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Streitig ist die Versagung einer Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM), hilfsweise wegen teilweiser EM.

Der 1973 geborene und seit Dezember 2010 arbeitslose Kläger beantragte im Oktober 2013 EM-Rente. Die Beklagte ließ den Kläger durch den Facharzt für Allgemeinmedizin und Sozialmedizin Dr. G untersuchen und begutachten. Dieser hielt den Kläger noch für sechs Stunden und mehr täglich einsetzbar in leichten bis mittelschweren Tätigkeiten. Im Hinblick auf den vorliegenden Alkoholmissbrauch bestehe indes eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit. Eine Heilmaßnahme in einer suchtspezifischen Fachklinik werde daher zur abschließenden Einschätzung empfohlen (Gutachten vom 20. Januar 2014).

Mit Bescheid vom 26. März 2014 bewilligte die Beklagte ein stationäres medizinisches Rehabilitationsverfahren in der Psychotherapeutischen Klinik Bad L, die am 16. April 2014 beginnen sollte. Der Kläger trat das Heilverfahren ohne Angaben von Gründen nicht an, auch nicht nach Erteilung einer Mitwirkungsaufforderung der Beklagten vom 17. Oktober 2014, in dem diese ua darauf verwies, dass die Rentenleistung bei weiterhin fehlender Mitwirkung nach § 66 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) versagt werde; auf die Einzelheiten wird Bezug genommen. Mit Bescheid vom 7. November 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2015 versagte die Beklagte die Rentenleistung nach § 66 SGB I. Gründe, im Ermessenswege hiervon abzusehen, lägen nicht vor.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Potsdam Befundberichte der behandelnden Ärzte, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, eingeholt. Es hat sodann den Facharzt für Allgemeinmedizin, Physikalische Medizin und Rehabilitative Medizin Dr. Sch und den Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. T als Sachverständige eingesetzt, die beide für körperlich leichte Tätigkeiten unter Beachtung der aufgezeigten qualitativen Einschränkungen keine quantitative Leistungsminderung gesehen haben (Gutachten vom 26. April 2016 – Untersuchung am 5. April 2016 – und vom 1. August 2016). Das SG hat die auf Gewährung von Rente wegen voller EM, hilfsweise wegen teilweiser EM für die Zeit ab 1. Oktober 2013 gerichtete Klage mit Urteil vom 12. Dezember 2016 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser EM. Er sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, da ihm eine zumutbare Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Umfang von täglich mindestens sechs Stunden trotz seiner krankheitsbedingten qualitativen Leistungseinschränkungen noch möglich sei. Dies folge zur Überzeugung der Kammer aus den eingeholten Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen, die die Beschwerden des Klägers und die vorliegenden medizinischen Befunde vollumfänglich gewürdigt und ihre Leistungsbeurteilung schlüssig begründet hätten.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und trägt ergänzend vor: Das SG habe nicht sämtliche Gesundheitsstörungen berücksichtigt. Er sei unbefristet als schwerbehinderter Mensch anerkannt.

Der Kläger beantragt nach seinem Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 12. Dezember 2016 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 7. November 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2105 zu verurteilen, ihm für die Zeit ab 1. Oktober 2013 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung des Klägers durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).

Das auf die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von EM-Rente mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) verfolgte Begehren ist bereits unzulässig, so dass es einer Sachprüfung der Voraussetzungen für die Bewilligung der begehrten Rentenleistung(en) schon nicht bedarf. Nach § 54 Abs. 4 SGG kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsaktes gleichzeitig die Leistung verlangt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Regelung setzt somit voraus, dass die Verwaltung über die begehrte Leistung entschieden hat. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn der Leistungsträger die Leistung ohne abschließende Ermittlung bis zur Nachholung der Mitwirkung nach § 66 SGB I versagt. Gegen einen solchen Versagensbescheid ist grundsätzlich nur die (isolierte) Anfechtungsklage eröffnet (vgl BSG SozR 1200 § 66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nrn 1, 3; BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 – B 4 AS 78/08 R = SozR 4-1200 § 66 Nr 5).

Bei den hier streitigen Bescheiden handelte es sich um eine (vorläufige) Versagung der Rentengewährung auf der Grundlage von § 66 SGB I. Schließlich liegen auch die von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Voraussetzungen für eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass lediglich die isolierte Anfechtung des Versagensbescheides statthaft ist, nicht vor (vgl hierzu BSG aaO; BSG USK 87161; BSG SozR 1200 § 66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nr 1; vgl auch BVerwGE 71, 8, 11 = Buchholz 435.11 § 66 SGB I Nr 1). Für diese Rechtsprechung werden Gründe der Prozessökonomie und des effektiven Rechtsschutzes angeführt. Eine zusätzliche Klage auf Leistungsgewährung ist danach zulässig, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten unstreitig ist oder vom Kläger behauptet wird. Eine derartige Situation liegt hier nicht vor. Es ist zwischen den Beteiligten insbesondere nicht unstreitig, dass die Leistungsvoraussetzungen für einen Anspruch auf EM-Rente vorliegen. Mangels Sachentscheidung der Beklagten ist dem Gericht daher eine Prüfung der materiellrechtlichen Leistungsvoraussetzungen verwehrt. Indes ist darauf zu verweisen, dass nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme auch in der Sache ein EM-Rentenanspruch nicht bestünde.

Der Kläger war und ist in dem vorliegend streitigen Zeitraum ab 1. Oktober 2013 nicht voll bzw teilweise erwerbsgemindert iSv § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Denn er verfügte und verfügt in dem maßgebenden Zeitraum noch über ein Restleistungsvermögen jedenfalls für leichte körperliche und seinem intellektuellen Niveau in Ansehung seiner Schul- und Berufsausbildung entsprechende geistige Arbeiten, mit dem er regelmäßig einer mindestens sechsstündigen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen konnte und kann. Dass der Kläger über ein derartiges Leistungsvermögen verfügte und auch derzeit noch verfügt, folgt zur Überzeugung des Gerichts aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere der Leistungsbeurteilung in den Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen Dr. Sch und Dr. T. Zur weiteren Begründung wird daher auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (vgl § 153 Abs. 2 SGG). Eine Rente wegen Berufsunfähigkeit kommt von vornherein aufgrund des Geburtsdatums des Klägers nicht in Betracht (vgl § 240 Abs. 1 Nr 1 SGB VI), so dass ein etwaiger Berufsschutz des Klägers und eine hieraus ggf resultierende eingeschränkte Verweisbarkeit nicht zu prüfen waren. Im Rahmen der hier (nur) begehrten Rente wegen voller bzw teilweiser EM sind hingegen die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes maßgebend, auf den der Kläger insoweit verweisbar ist, ohne dass es der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedurft hätte. Auch bei Beachtung der von allen Sachverständigen ausführlich beschriebenen weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen bestand und besteht im Übrigen weder eine spezifische Leistungsbehinderung noch lag oder liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor (vgl BSG, Urteil vom 18. Februar 1998 – B 5/4 RA 58/97 R – juris), die eine Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit zur Folge gehabt hätte. Aus der Berufungsbegründung des Klägers folgt nichts Abweichendes. Neue ärztliche Befunde oder Einschätzungen hat der Kläger nicht beigebracht. Anhaltspunkte für eine wesentliche Verschlechterung der bekannten Leiden oder neue, bislang nicht berücksichtigte Gesundheitsstörungen sind nicht ersichtlich. Dass der Kläger letztlich allein mit dem Ergebnis der Gutachten nicht einverstanden ist, vermag deren Überzeugungskraft nicht zu erschüttern.

Soweit die Klage als Anfechtungsklage gegen den Versagensbescheid vom 7, November 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2015 zulässig ist, ist sie unbegründet.

Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff ist § 66 Abs. 2 SGB I. Danach kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen (oder entziehen), wenn derjenige, der eine Sozialleistung wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit beantragt, seinen Mitwirkungspflichten ua nach § 63 SGB I nicht nachkommt und unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass deshalb die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird. Darüber hinaus dürfen nach § 66 Abs. 3 SGB I Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt (oder entzogen) werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Der streitige Verwaltungsakt ist eine Leistungsversagung iS der vorgenannten Vorschriften. Die Versagungsermächtigung nach § 66 Abs. 2 SGB I erlaubt dem Leistungsträger, durch gestaltenden Verwaltungsakt einen Sozialleistungsanspruch des Bürgers zu versagen. Da die Versagung nach § 66 Abs. 2 SGB I rechtmäßig nur wegen fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten, nicht aber wegen Fehlens materieller Leistungsvoraussetzungen ausgesprochen werden darf, wird dieser Verwaltungsakt rechtswidrig, sobald die Mitwirkungspflicht nachgeholt wird oder aus sonstigen Gründen entfällt. Dann ist der Versagungsbescheid gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB X aufzuheben. Dies hat jedoch wegen der vernichtenden Wirkung der Versagung nicht zur Folge, daß die Ansprüche, die während der Geltungszeit der Entziehungsentscheidung erloschen waren, rückwirkend wieder aufleben. Vielmehr entsteht, sobald die Mitwirkung nachgeholt wird, gemäß § 67 SGB I iVm § 39 Abs. 1 SGB I ein Recht des Bürgers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (vgl dazu BSG -, Urteil vom 14. Dezember 1994 – 4 RA 42/94 – juris) über die nachträgliche Erbringung der versagten Sozialleistung (im Falle der Entziehung vgl BSG, Urteil vom 22. Februar 1995 – 4 RA 44/94 = SozR 3-1200 § 66 Nr 3).

Der Kläger ist in dem Schreiben vom 17. Oktober 2014 schriftlich, unmissverständlich und konkret darauf hingewiesen worden, die Rente werde iS von § 66 Abs. 2 SGB I versagt, wenn er an dem angebotenen Heilverfahren nicht teilnehme. Die Mitwirkungsfrist bis zum 3. November 2014 war angemessen. Damit ist der Hinweispflicht des § 66 Abs. 3 SGB I genügt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Versagungsermächtigung liegen auch im Übrigen vor. Der Kläger ist einer Mitwirkungspflicht nach § 63 SGB I nicht nachgekommen. Nach dieser Vorschrift soll derjenige, der Sozialleistungen beantragt, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers (hier: der Beklagten) einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung des Gesundheitszustandes herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. Letzteres war nach den Feststellungen des im Verwaltungsverfahren gehörten Gutachters Dr. G der Fall, der eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit durch die Alkoholsucht des Klägers festgestellt hat. Der Kläger hat, ohne dass die Grenzen seiner Mitwirkungspflichten iSv 65 SGB I durch das Verlangen der Beklagten überschritten worden wären, an dem – wohnortnahen – Heilverfahren ohne plausible Gründe nicht teilgenommen. Behandlungen und Untersuchungen nach Maßgabe von § 65 Abs. 2 SGB I waren mit dem Heilverfahren von vornherein nicht verbunden. Der Kläger hat mit seiner Weigerung, an dem Heilverfahren teilzunehmen, jedenfalls auch eine Verbesserung seiner Erwerbsfähigkeit verhindert. Denn aufgrund eines längerfristigen Heilverfahrens wäre eine umfassende Behandlung und Einschätzung seines Leistungsvermögens – und damit ggfs auch der Voraussetzungen für den geltend gemachten EM-Rentenanspruch – möglich gewesen, die zum Einen mit Wahrscheinlichkeit seine Erwerbsfähigkeit gebessert, aber auch der Beklagten eine abschließende Sachentscheidung über den EM-Rentenantrag ermöglicht hätten. Ermessensfehler der Beklagten sind nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved