Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
30
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 30 VE 8/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
der Bescheid vom 12.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2013 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden ist und dass Versagungsgründe nach § 2 OEG nicht vorliegen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) geworden ist und ob Versagungsgründe nach § 2 OEG vorliegen.
Der 1970 geborene Kläger beantragte am 02.08.2010 durch seinen gerichtlich bestellten Betreuer bei der Beklagten Versorgung nach dem OEG. Er gab an, am 29.05.2010, um 23.51h im U-Bahnhof N. bei einer Auseinandersetzung mit zwei Tätern schwer verletzt worden zu sein. Der Kläger ist gelernter KFZ-Mechaniker. Im Zeitpunkt der Schädigung studierte er Fahrzeugbau und arbeitete geringfügig beschäftigt im Kfz-Betrieb des Bruders, den er vor Aufnahme des Studiums gemeinsam mit dem Bruder geführt hatte.
Zur Tat gab der Betreuer an, der Kläger habe nach einem Stadtteilfest mit seiner Freundin Anja Baumeister (B.) auf die U-Bahn gewartet. Die Täter seien vorübergegangen und hätten Passanten belästigt, auch die Freundin des Klägers. Der Kläger sei aufgestanden und auf die beiden zugegangen. Der eine Täter habe den Kläger sofort, ohne Vorwarnung in den Bauch getreten. Es habe ein Handgemenge geben, bei dem beide Täter auf den Kläger eingeschlagen hätten. Der Kläger habe versucht, sich zu wehren und dabei einen Faustschlag gegen das Kinn bekommen. Er sei k.o. zu Boden gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen.
Der Kläger erlitt ein Schädelhirntrauma 3. Grades und ein Frontalhirnsyndrom sowie multiple Mittegesichtsfrakturen. Für den Kläger ist ein Grad der Behinderung von 80 und es sind die Merkzeichen G und B festgestellt.
Die Beklagte zog die Akte der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg (3490 Js 79/10 V) bei. Das Landgericht Hamburg verurteilte am 06.12.2010 (628 KLs 12/10 3490 Js 79/10) den 1977 geborenen k. Staatsangehörigen H. und den 1980 geborenen d. Staatsangehörigen W. wegen unterlassener Hilfeleistung. H. und W. sind vorbestraft. H. wegen Verkehrsdelikten, Raubes, der Abgabe und des Besitzes von Betäubungsmitteln und W. wegen Verstoßes gegen Waffengesetze, Diebstahls, Bedrohung, Beleidigung, versuchter Körperverletzung und Sachbeschädigung. Alle an der Auseinandersetzung Beteiligten waren im Zeitpunkt der Tat alkoholisiert. Das Landgericht benennt einen Blutalkoholgehalt von 1,7 – 2,7 ‰ für W., von 1,2 – 2,0 ‰ für H. und von mind. 1,0 ‰ für den Kläger. Nach der rechtsmedizinischen körperlichen Untersuchung des W. am 31.05.2010 konnten bei ihm weder aktive noch passive Abwehrverletzungen festgestellt werden. Über eine Untersuchung des H. liegt kein Bericht vor. Verletzungen werden nicht berichtet.
Das Landgericht hat das Handeln der Angeklagten als gerechtfertigt angesehen. Es hat seine Entscheidung auf die Bewertung der Aussagen der 1994 geborenen Schülerin Bn der 1981 geborenen Bb des 1994 geborenen Schülers A., der 1971 und 1963 geborenen Eheleute D. und H1 und von B. sowie auf die Aussagen der Angeklagten und die Auswertung der Aufnahmen der Videoüberwachungskameras am U-Bahnhof N. gestützt. Zur Tat wird in dem Urteil (Seiten 10 und 11) ausgeführt, W. habe auf dem Bahnsteig zunächst Bb. und anschließend Bn. angesprochen bzw. sich laut und für die Umstehenden hörbar gegenüber H. über beide geäußert. Bb. habe sich, um nicht weiter angesprochen zu werden, in die wartende U-Bahn gesetzt, woraufhin W. sich übergangslos Bn. und vielleicht auch der neben ihr sitzenden B. zugewandt habe. Bn. habe es als "freche Anmache" empfunden. Ihr sei die Situation unangenehm gewesen. Das Verhalten des W. sei ihr asozial, obszön und provokativ erschienen. Weiter heißt es in dem Urteil (Seite 20): "Nicht aufgeklärt werden konnte mit letzter Sicherheit, ob ein tätlicher Angriff des R. gegen W. tatsächlich unmittelbar bevorstand, oder aber ob R. nur deshalb mit erhobenen Fäusten auf W. zuging, um diesen zur Rede zu stellen oder durch sein bloßes Auftreten zu beeindrucken, dass dieser weitere verbale Äußerungen unterlassen würde." Das Landgericht sieht folgende Anhaltspunkte, die dafür sprächen, dass der Kläger den W. körperlich attackieren wollte: Der Kläger sei unmittelbar vor der Tat in einer aggressiven Grundstimmung gewesen, was sich an seinem Verhalten gegenüber B. beim ersten Betreten des Bahnsteigs und gegenüber einer Gruppe junger Männer gezeigt habe. B. habe, als der Kläger aufstand, die neben ihr auf der Bank sitzende Bn. aufgefordert, die Polizei zu rufen, weil sie einen körperlichen Angriff befürchtet habe. Schließlich führt das Landgericht aus, dass der Kläger, als er auf W. zuging, gesagt haben könnte: "Wenn sie nicht leise sind, kriegen sie einen". Dies stehe aber als Aussage nicht fest, denn nur B. habe diese Aussage bezeugt. Andere Zeugen hätten die Aussage: "Warum machst du meine Frau an", "Lasst das, was wollt ihr", "Jetzt reicht´s" gehört. Das Landgericht (S. 23) sieht den gegenwärtige Angriff des R. darin, "dass R. schnellen Schrittes und in bedrohlich wirkender Haltung auf den ihm körperlich unterlegenen W. zuging. Letztlich habe nicht geklärt werden können, "ob eine wirkliche Bedrohung vorlag, oder ob R. nicht körperlich sondern nur verbal gegen W. vorgehen wollte Deshalb ist, da dieser Punkt nicht aufklärbar ist, zugunsten der Angeklagten zu unterstellen, dass R. körperlich angreifen wollte."
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12.06.2012 die Gewährung von Leistungen ab. Die Täter hätten sich in einer Notwehrlage befunden. Aufgrund der Notwehr gelte der Angriff nicht mehr als rechtswidrig. Der Kläger widersprach dem Bescheid. Die Annahme der Notwehrlage durch das Landgericht beruhe auf der Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo, der im Entschädigungsrecht nicht gelte.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 05.02.2013 unter Hinweis auf die Begründung des Urteils des Landgerichts zurück. Die Handlungen der Täter seien durch Notwehr gedeckt gewesen. Das Landgericht habe ausgeführt, dass ein gegenwärtiger Angriff bereits beginne, wenn der Angreifer ein Verhalten zeige, das unmittelbar in die eigentliche Verletzungshandlung umschlagen solle. Auch wenn letztlich nicht habe geklärt werden können, ob eine wirkliche Bedrohung des Klägers vorgelegen habe, so seien doch Anhaltspunkte benannt, die dafür sprächen, dass der Kläger den W. habe attackieren wollen. Selbst wenn hier noch Restzweifel bestünden, sei zu würdigen, dass H. mit ausgestreckten Armen zwischen den Kläger und W. getreten sei, um den Kampf zu beenden. Eine Geste, die ein offensichtliches Friedensangebot dargestellt habe, dass beide Seiten hätten annehmen können. Danach sei ein neuer Entschluss zur Weiterführung der Kampfhandlungen erforderlich gewesen. Die folgende Reaktion, den H. zur Seite zu schieben, sei vom Kläger ausgegangen, worin ein erneuter Angriff zu sehen sei. Erst anschließend seien die Verletzungen eingetreten. Diesem Umstand sei auch zu entnehmen, dass der Kläger zuvor, als er in Boxerhaltung auf den W. zuging, die Angelegenheit körperlich habe regeln wollte. Im Übrigen seien Leistungen zu versagen. Der Kläger habe eine Schlägerei bewusst herausgefordert, indem er in drohender Haltung und mit geballten Fäusten (Boxerhaltung) auf W. zugegangen sei. Er habe einen Kampf provoziert. W., der nach dem äußeren Anschein mit einem Angriff in Form von Faustschlägen gerechnet habe, habe versucht, den Angriff mit Tritten abzuwehren. In Anbetracht der Fähigkeit des Klägers als Kickboxer sei in einem Faustschlag des Klägers eine Begehung mittels einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs zu sehen. Selbst wenn dem Kläger die Provokation einer Schlägerei nicht unterstellt werden könne, so ergebe sich eine Mitverursachung aus dem Gesichtspunkt der Beteiligung an einer Schlägerei, auf die der Kläger sich bewusst eingelassen habe.
Mit seiner am 07.03.2013 erhobenen Klage trägt der Bevollmächtigte des Klägers vor, der Kläger leide bis zum heutigen Tag unter den Folgen der erlittenen Gewalteinwirkungen. Seine ausgeprägten Gedächtnisdefizite, die vorhandenen zeitlichen und situativen Orientierungsdefizite sowie die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen ließen selbst heute noch keine selbständige Lebensführung zu. Der Grundsatz in dubio pro reo, auf den das Landgericht seine Entscheidung gestützt habe, sei im Opferentschädigungsrecht nicht anwendbar. Im Entschädigungsverfahren sei eine eigenständige, von den strafgerichtlichen Feststellungen unabhängige Würdigung vorzunehmen. Es habe kein gegenwärtiger Angriff des Klägers vorgelegen. Das Zugehen auf W. mit schnellen Schritten und in der Absicht, den verbalen Provokationen ein Ende zu setzen, sei ein sozialadäquates Verhalten. Ein zur Redestellen des Provozierenden sei eine durchaus angemessene Reaktion. Der Kläger habe seine Schädigung auch nicht mitverursacht. Die Tatbeiträge des H. und des W. einerseits und des Klägers andererseits seien nicht gleichwertig und es bestehe kein überwiegendes Selbstverschulden des Klägers. Der Kläger habe sich nicht leichtfertig einer Schädigung ausgesetzt. W. habe auf obszöne Weise verschiedene Frauen belästigt. Es entspreche einem couragierten und sozial erwünschten Verhalten, wenn dem - verbal - Einhalt geboten werden soll. W. habe den Kläger grundlos angegriffen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 12.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2013 aufzuheben und festzustellen, dass der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden ist und dass Versagungsgründe nach § 2 OEG nicht vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bezieht sich zur Begründung auf den Akteninhalt und auf die in den angefochtenen Bescheiden dargelegten Gründe. Es habe vom Landgericht nicht geklärt werden können, was W. zu B. gesagt habe. B. habe sich aber nicht angemacht gefühlt und ein beleidigender Inhalt der Äußerungen des W. sei vom Landgericht nicht festgestellt worden. Der Kläger sei in Boxerhaltung auf W. zugegangen, mit ausgebreiteten, angehobenen Armen und geballten Fäusten und B. habe mit ihren Äußerungen gegenüber Bn. den geplanten Angriff bestätigt. Der Kläger habe dem Verhalten des W. auf jeden Fall ein Ende setzen wollen, ob körperlich oder verbal habe nicht geklärt werden können, weil W. dem Angriff des Klägers, den er aufgrund der Vorgeschichte annehmen durfte, zuvorgekommen sei. Der Kläger trage die Beweislast für die Rechtswidrigkeit des Angriffs. Zwar indiziere der Tatbestand eines rechtswidrigen Angriffs dessen Rechtswidrigkeit, zur Widerlegung des Anscheinsbeweises müsse aber nicht der volle Gegenbeweis geführt werden. Es genüge vielmehr, dass Umstände vorhanden seien, die auf mehr als nur die vage Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs schließen ließen. Zudem habe der Kläger, als H. dazwischen ging um die Kontrahenten zu trennen, diesen beiseite gestoßen und erneut angegriffen.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat dazu vorgetragen, die weiblichen Passanten auf dem Bahnsteig hätten sich sehr wohl belästigt gefühlt. Die Zeugin Bb. habe trotz "freundlicher Anmache" Angst bekommen und sich in die wartende U-Bahn gesetzt. Die Zeugin Bn. habe es als "freche Anmache" empfunden. Sie habe ausgesagt, es habe sich um eine Äußerung in der Art "du geile Sau" gehandelt, aber zugleich betont, dass nicht genau diese Worte gefallen seien. Auch wenn der Wortlaut der Äußerungen gegenüber B. nicht mehr festgestellt werden konnte, sei davon auszugehen, dass es sich um einen vergleichbaren Inhalt gehalten habe. Der Kläger habe zum Eigenschutz eine Boxerhaltung erst eingenommen, als er der W. ihn tätlich angegriffen habe. Obwohl H. schlichtend dazwischen gegangen sei, sei es W. gelungen, erneut in Richtung des Oberkörpers des Klägers zu treten. Auf diesen Tritt habe der Kläger erstmals mit einem Faustschlag reagiert. Der Kläger sei ausweislich des strafrechtlichen Urteils nicht Täter und Angreifer gewesen. Er sei weder strafrechtlich verfolgt, noch verurteilt worden. Vermutungen, weshalb der Kläger der Angreifer gewesen sein soll würden den Sachverhalt verkennen.
Darauf hat die Beklagte erwidert, nach den Feststellungen des Landgerichts hätten sowohl Bn. als auch J. den Wortwechsel als freundlich und die Situation als entspannt und locker wahrgenommen. Auch habe das Landgericht festgestellt, dass H., als er zwischen W. und den Kläger gegangen sei, von diesem zurückgestoßen wurde. Es sei abwegig dass der Kläger einen Streit habe schlichten wollen. Bis zu seinem Eingreifen habe es keinen Streit gegeben. W. habe nicht provoziert. Sein Verhalten sei nicht bedrohlich gewesen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30.07.2014 haben das Gericht und die Beteiligten die Video-Aufzeichnung der Hochbahn mehrfach angesehen. Zudem hat die Vertreterin der Beklagten Bildausdrucke der Videoaufzeichnung überreicht, die ebenfalls gemeinsam angesehen und vorläufig zur Akte genommen wurden.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Unterlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
1. Die form- und fristgerecht erhobene Anfechtung- und Feststellungklage (§§ 54 Abs. 1 und 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig. Mit dem Antrag auf Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs und das Nichtvorliegen von Versagungsgründen begehrt der Kläger die gerichtliche Feststellung der Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz, um einen konkreten Anspruch auf Geld- und Sachleistungen geltend machen zu können. Es ist zulässig, die Grundlage der in Frage kommenden Leistungsansprüche vorab im Wege einer isolierten Feststellungsklage klären zu lassen (vgl. BSG vom 07.09.2004, B 2 U 46/03 R, in juris; LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.12.2007, L 5 VG 15/05, in juris).
2. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid vom 12.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2013 war als rechtwidrig aufzuheben. Der Kläger ist Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden (2.1). Gründe für eine Versagung des Anspruchs bestehen nicht (2.2).
2.1. Nach § 1 OEG hat Anspruch auf Versorgung, wer im Geltungsbereich des Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen nachgewiesen, d.h. mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt sein bzw. in so hohem Grad wahrscheinlich sein, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BSG vom 17.4.2013, 9 V 3/12 R, in juris).
2.1.1. Der Kläger ist Opfer eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs geworden. H. hat den Kläger mit einem gezielten Faustschlag in das Gesicht, der zu multiplen Mittelgesichtsfrakturen und einem ungebremsten Sturz auf den Bahnsteig mit weiteren schweren Hirnverletzungen führte, vorsätzlich tätlich angegriffen. Es handelte sich bei diesem Schlag um eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper des Klägers zielende gewaltsame Einwirkung (vgl. Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, OEG Kommentar, 5. Aufl. § 1, Anm. 11 m.w.Nw.). Der Schädiger wusste, was er tat und er wollte es - ohne Berücksichtigung des hier tatsächlich eingetretenen Erfolges - auch (vgl. Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, § 1 OEG, Anm. 58).
2.1.2. Der Angriff war auch rechtswidrig. Ein tätlicher Angriff, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt ist grundsätzlich rechtswidrig, denn die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit (vgl. Knickrehm, a.a.O., § 1 OEG Anm. 66), es sei denn, es ist liegt ein Rechtfertigungsgrund vor. Der hier in Betracht kommende Rechtfertigungsgrund der Notwehr liegt zur Überzeugung der Kammer nicht vor. H. stand, anders als es vom Landgericht nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" angenommen wurde, ein Notwehrrecht nicht zur Seite. Er hat allenfalls in Putativnotwehr und damit rechtswidrig gehandelt. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit im Opferentschädigungsrecht erfolgt unabhängig von der strafgerichtlichen Beurteilung nach den Rechtsmaßstäben, die in den Strafgesetzen und ergänzend durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind (vgl. BSG vom 25.3.1999, B 9 VG 1/98 R, in juris). Notwehr ist nach § 32 StGB die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich (Notwehr) oder einem anderen (Nothilfe) abzuwenden.
2.1.3. Bei der Beurteilung ist auf den Beginn des als Einheit zu betrachtenden Geschehensablaufs abzustellen. Zur Überzeugung der Kammer hat der Kläger versucht, einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zunächst nur des W. und später auch des H. gegen sich abzuwehren. Die Kammer wertet das zügige und erkennbar entschlossene Zugehen des Klägers auf W. nicht als Angriffshandlung. Richtig ist, dass ein Angriff auch in einem physisch vermittelten Zwang liegen kann, ohne dass bereits eine körperlich Berührung stattgefunden hat (vgl. BSG vom 07.04.2011, B 9 VG 2/10 R, in juris). Die aus der objektiven Sicht eines vernünftigen Dritten zu beurteilende Grenze zum tätlichen Angriff (vgl. BSG a.a.O.) war hier jedoch nicht überschritten. Nach der Auswertung der Videoaufzeichnung der Tat steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger weder mit erhobenen Armen noch mit geballten Fäusten auf W. zugegangen ist. Anders als für das Landgericht und die Beklagte und auch anders als für H., der gegenüber der Polizei ausgesagt hat, der Kläger sei in Boxerhaltung und mit zappelnden Händen auf W. zugegangen (Bl. 109, Bd. I der Akte der StA), ist für die Kammer deutlich erkennbar, dass beide Arme des Klägers während er auf den W. zugeht am Körper herabhängen (23.51.54h der Videoaufzeichnung). Es ist auch erkennbar, dass der Kläger mit W. spricht. Der Kläger hebt erst als W. zum Tritt ansetzt seine auf der Aufzeichnung allein zu erkennende linke Hand, die nicht zur Faust geballt, sondern geöffnet ist (23.51.55) und senkt sie wieder. Der Kläger begibt sich in diesem Augenblick, den Tritt des W. gewärtigend, erkennbar in eine Abwehrhaltung - die als Boxerhaltung bezeichnet werden kann. Er hebt seine geöffnete rechte Hand, was die Kammer als Zeichen der Abwehr wertet, während W. den Tritt mit - zum Halten des Gleichgewichts - nach hinten gebeugten Oberkörper ausführt. Der Ansatz zu einem Angriff des Klägers gegen W., sei es mit Fäusten oder Füßen, ist für die Kammer weder in dieser Sequenz noch in dem Zugehen auf W. zu erkennen. Allein der Umstand, dass der große und kräftige Kläger entschlossen und zügig auf W. zugeht, begründet keinen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. W. wusste bzw. musste aufgrund der vorangegangenen "Anmache" gegenüber Bb., Bn. und F. wissen, dass und warum ihm Einhalt geboten werden soll. Er hätte zurückweichen und verbal und mit Körpersprache zunächst das Signal: "Ist gut, ich halte den Mund" setzten können. Zur Begründung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs kann die von der Beklagten unterstellte aggressive Grundstimmung des Klägers, die aus dem Umstand, dass der Kläger ca. 10 Minuten zuvor eine verbale Auseinandersetzung mit B. und anschließend einer Gruppe Jugendlicher hatte abgeleitet wird ebenso wenig herangezogen werden wie die Aufforderung von B. an die neben ihr auf der Bank sitzende Bn., die Polizei zu rufen. Ob ein rechtswidriger tätlicher Angriff vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Im Übrigen hat der Kläger 3 bis 4 Minuten ruhig auf der Bank sitzend dem übergriffigen Treiben des W. zugesehen und zugehört, bevor er aufgestanden ist. Auf der Videoaufzeichnung ist gut zu erkennen, wie W. in vor Selbstgefälligkeit strotzender Haltung die Sitzenden "zutextet". Es ist eine bloße Vermutung, wenn auf eine fortgesetzte aggressive Grundstimmung des Klägers geschlossen wird. Genauso beruht die Annahme, dass der Kläger angreifen will, weil B. dieser Überzeugung gewesen sein soll, auf einer bloßen Vermutung und zudem der Interpretation einer Drittwahrnehmung.
Auch in der Reaktion des Klägers auf das von der Beklagten als Friedensangebot an beide Kontrahenten gewertete Eingreifen des H. liegt kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff. Von W., der bis zu diesem Zeitpunkt allein in die Auseinandersetzung mit dem Kläger verwickelt war, ist kein Angebot ausgegangen. Im Gegenteil, W. zeigte sich zur Überzeugung der Kammer nach dem Inhalt der Videoaufzeichnung von dem Versuch des H. unbeeindruckt. H. hat seinen ausgestreckten rechten Arm zwischen W. und den Kläger gehalten (23.51.56), während der Kläger mit seinem wieder gesenkten rechten Arm erkennbar nach wie vor in Abwehrhaltung bleibt und W. den Angriff fortsetzt (23.51.57). Der Kläger sieht sich jetzt zwei Angreifern gegenüber (23.51.57) und stößt H. zurück (23.51.58), ohne ihn zu verletzten. Nachdem W. erneut zutritt greift H. wiederum in den Kampf ein (23.51.59) und den Kläger an (23.52.00), der jetzt erstmals (23.52.02) zuschlägt, wiederum ohne Verletzungsfolgen zu verursachen. Jetzt schlägt H. mit Abdrücken des hinteren Beines und Drehung der Hüfte und Schulter ohne Ausholbewegung gezielt in das Gesicht des Klägers und setzt einen Wirkungstreffer. Für die Kammer nicht nachvollziehbar schreibt die Beklagte allein dem Kläger die Gefährlichkeit eines Kickboxers zu, obwohl deutlich wird, dass H. wusste, wie er den Kläger mit einem gezielten Schlag kampfunfähig macht. Eine körperliche Unterlegenheit des H. bzw. beider gemeinsam handelnder Täter ist trotz des Größenunterschiedes nach dem Tatablauf nicht erkennbar. Die Aussage des H. gegenüber der Polizei (Bl. 108, Band I der StA-Akte), dass, hätte er dem Kläger wehtun wollen, er ihn ja auch gleich ins Gleis hätte "schmeißen" können, zeigt, dass H. selbst sich im Zusammenwirken mit W. offenbar auch nicht körperlich unterlegen gefühlt hat. W. und H. mussten, als sie sich auf eine körperliche Auseinandersetzung mit dem Kläger einließen, keinesfalls davon ausgehen, dass sie "die Schwächeren" sind.
2.1.4. Selbst unter der Annahme, dass der geforderte Vollbeweis der Notwehrlage nicht geführt ist, ist die Rechtswidrigkeit des Angriffs zu bejahen. Der im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigende, auf der indizierten Rechtswidrigkeit beruhende Prima-facie-Beweis ist nicht entkräftet. Dafür bedürfte es des Nachweises eines ernsthaft möglichen anderen Geschehensablaufs (vgl. BSG vom 12.02.1998, B 8 KN 3/96 R, in juris), der aus konkreten Tatsachen abgeleitet und voll bewiesen sein muss (BSG 27.11.1986, 5a RKnU 3/85, in juris). Nach dem für die Frage der Rechtswidrigkeit des Angriffs entscheidenden Geschehensablauf kann eine Notwehrlage als möglich in Betracht kommen. Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger keine verbale Klärung sondern sogleich eine körperliche wollte. Der Grad der ernsthaften Möglichkeit wird aber in der Abwägung der in Betracht kommenden Abläufe nicht erreicht.
2. 2. In § 2 Abs. 1 OEG wird geregelt, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Mitursächlichkeit bestimmt sich nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung. Das Opfer hat den Angriff mitverursacht, wenn es einen eigenen Beitrag zur Tat geleistet hat, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Angriff entfiele. Das Verhalten des Opfers muss dabei mindestens eine annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Tatbeitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers sein (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Entscheidung vom 29.3.2007, B 9a VG 2/05 R, in juris). Für die Vergleichbarkeit der Tatbeiträge ist insbesondere deren strafrechtliche Einordnung von Bedeutung. Die Tatbeiträge sind vergleichbar, wenn sie jeweils strafbare Handlungen darstellen und die Strafandrohungen in etwa gleich sind (vgl. a.a.O).
Nach den Feststellungen der Kammer hat der Kläger seine Schädigung nicht mitverursacht. Weder hat er eine eigene strafrechtlich relevante Handlung begangen noch hat er sich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung tatfördernd verhalten. Nach der Rechtsprechung des BSG ist eine Entschädigung bei einer leichtfertigen Selbstgefährdung des Opfers ausgeschlossen (vgl. BSG vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R, in juris). Mitursächlich ist in diesen Fällen ein in hohem Maß vernunftwidriges, an einem individuellen Sorgfaltsmaßstab gemessenes Verhalten des Opfers, das einem grob fahrlässigen Verhalten entspricht (vgl. BSG vom 21.10.1998, B 9 VG 4/97 R, in juris). Bei der Beurteilung ist auf die konkret eingetretene Schädigung abzustellen (vgl. Knickrehm, a.a.O., § 2 Anm. 15). Es ist zu beurteilen, ob der Angriff des Täters nach Art und Schwere der vom Opfer ausgehenden Provokation - objektiv - verhältnismäßig ist und ob das Opfer - subjektiv - mit einer so schweren Gewalttat rechnen musste (vgl. BSG 1.9.1999, B 9 VG 3/97 R, in juris).
Der Kläger hat sich nicht durch ein schwerwiegendes und vorwerfbares Verhalten der Gefahr seiner massiven Schädigung ausgesetzt. Selbst wenn sein am Beginn der Auseinandersetzung stehendes Verhalten als Provokation zu werten wäre, liegt keine leichtfertige Selbstgefährdung vor. Für den Kläger war der tatsächliche weitere Geschehensablauf, mit den für ihn gravierenden Folgen, nicht vorhersehbar. Das Ausmaß seiner Selbstgefährdung war für den Kläger nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den Grundsätzen des § 193 SGG.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) geworden ist und ob Versagungsgründe nach § 2 OEG vorliegen.
Der 1970 geborene Kläger beantragte am 02.08.2010 durch seinen gerichtlich bestellten Betreuer bei der Beklagten Versorgung nach dem OEG. Er gab an, am 29.05.2010, um 23.51h im U-Bahnhof N. bei einer Auseinandersetzung mit zwei Tätern schwer verletzt worden zu sein. Der Kläger ist gelernter KFZ-Mechaniker. Im Zeitpunkt der Schädigung studierte er Fahrzeugbau und arbeitete geringfügig beschäftigt im Kfz-Betrieb des Bruders, den er vor Aufnahme des Studiums gemeinsam mit dem Bruder geführt hatte.
Zur Tat gab der Betreuer an, der Kläger habe nach einem Stadtteilfest mit seiner Freundin Anja Baumeister (B.) auf die U-Bahn gewartet. Die Täter seien vorübergegangen und hätten Passanten belästigt, auch die Freundin des Klägers. Der Kläger sei aufgestanden und auf die beiden zugegangen. Der eine Täter habe den Kläger sofort, ohne Vorwarnung in den Bauch getreten. Es habe ein Handgemenge geben, bei dem beide Täter auf den Kläger eingeschlagen hätten. Der Kläger habe versucht, sich zu wehren und dabei einen Faustschlag gegen das Kinn bekommen. Er sei k.o. zu Boden gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen.
Der Kläger erlitt ein Schädelhirntrauma 3. Grades und ein Frontalhirnsyndrom sowie multiple Mittegesichtsfrakturen. Für den Kläger ist ein Grad der Behinderung von 80 und es sind die Merkzeichen G und B festgestellt.
Die Beklagte zog die Akte der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg (3490 Js 79/10 V) bei. Das Landgericht Hamburg verurteilte am 06.12.2010 (628 KLs 12/10 3490 Js 79/10) den 1977 geborenen k. Staatsangehörigen H. und den 1980 geborenen d. Staatsangehörigen W. wegen unterlassener Hilfeleistung. H. und W. sind vorbestraft. H. wegen Verkehrsdelikten, Raubes, der Abgabe und des Besitzes von Betäubungsmitteln und W. wegen Verstoßes gegen Waffengesetze, Diebstahls, Bedrohung, Beleidigung, versuchter Körperverletzung und Sachbeschädigung. Alle an der Auseinandersetzung Beteiligten waren im Zeitpunkt der Tat alkoholisiert. Das Landgericht benennt einen Blutalkoholgehalt von 1,7 – 2,7 ‰ für W., von 1,2 – 2,0 ‰ für H. und von mind. 1,0 ‰ für den Kläger. Nach der rechtsmedizinischen körperlichen Untersuchung des W. am 31.05.2010 konnten bei ihm weder aktive noch passive Abwehrverletzungen festgestellt werden. Über eine Untersuchung des H. liegt kein Bericht vor. Verletzungen werden nicht berichtet.
Das Landgericht hat das Handeln der Angeklagten als gerechtfertigt angesehen. Es hat seine Entscheidung auf die Bewertung der Aussagen der 1994 geborenen Schülerin Bn der 1981 geborenen Bb des 1994 geborenen Schülers A., der 1971 und 1963 geborenen Eheleute D. und H1 und von B. sowie auf die Aussagen der Angeklagten und die Auswertung der Aufnahmen der Videoüberwachungskameras am U-Bahnhof N. gestützt. Zur Tat wird in dem Urteil (Seiten 10 und 11) ausgeführt, W. habe auf dem Bahnsteig zunächst Bb. und anschließend Bn. angesprochen bzw. sich laut und für die Umstehenden hörbar gegenüber H. über beide geäußert. Bb. habe sich, um nicht weiter angesprochen zu werden, in die wartende U-Bahn gesetzt, woraufhin W. sich übergangslos Bn. und vielleicht auch der neben ihr sitzenden B. zugewandt habe. Bn. habe es als "freche Anmache" empfunden. Ihr sei die Situation unangenehm gewesen. Das Verhalten des W. sei ihr asozial, obszön und provokativ erschienen. Weiter heißt es in dem Urteil (Seite 20): "Nicht aufgeklärt werden konnte mit letzter Sicherheit, ob ein tätlicher Angriff des R. gegen W. tatsächlich unmittelbar bevorstand, oder aber ob R. nur deshalb mit erhobenen Fäusten auf W. zuging, um diesen zur Rede zu stellen oder durch sein bloßes Auftreten zu beeindrucken, dass dieser weitere verbale Äußerungen unterlassen würde." Das Landgericht sieht folgende Anhaltspunkte, die dafür sprächen, dass der Kläger den W. körperlich attackieren wollte: Der Kläger sei unmittelbar vor der Tat in einer aggressiven Grundstimmung gewesen, was sich an seinem Verhalten gegenüber B. beim ersten Betreten des Bahnsteigs und gegenüber einer Gruppe junger Männer gezeigt habe. B. habe, als der Kläger aufstand, die neben ihr auf der Bank sitzende Bn. aufgefordert, die Polizei zu rufen, weil sie einen körperlichen Angriff befürchtet habe. Schließlich führt das Landgericht aus, dass der Kläger, als er auf W. zuging, gesagt haben könnte: "Wenn sie nicht leise sind, kriegen sie einen". Dies stehe aber als Aussage nicht fest, denn nur B. habe diese Aussage bezeugt. Andere Zeugen hätten die Aussage: "Warum machst du meine Frau an", "Lasst das, was wollt ihr", "Jetzt reicht´s" gehört. Das Landgericht (S. 23) sieht den gegenwärtige Angriff des R. darin, "dass R. schnellen Schrittes und in bedrohlich wirkender Haltung auf den ihm körperlich unterlegenen W. zuging. Letztlich habe nicht geklärt werden können, "ob eine wirkliche Bedrohung vorlag, oder ob R. nicht körperlich sondern nur verbal gegen W. vorgehen wollte Deshalb ist, da dieser Punkt nicht aufklärbar ist, zugunsten der Angeklagten zu unterstellen, dass R. körperlich angreifen wollte."
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12.06.2012 die Gewährung von Leistungen ab. Die Täter hätten sich in einer Notwehrlage befunden. Aufgrund der Notwehr gelte der Angriff nicht mehr als rechtswidrig. Der Kläger widersprach dem Bescheid. Die Annahme der Notwehrlage durch das Landgericht beruhe auf der Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo, der im Entschädigungsrecht nicht gelte.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 05.02.2013 unter Hinweis auf die Begründung des Urteils des Landgerichts zurück. Die Handlungen der Täter seien durch Notwehr gedeckt gewesen. Das Landgericht habe ausgeführt, dass ein gegenwärtiger Angriff bereits beginne, wenn der Angreifer ein Verhalten zeige, das unmittelbar in die eigentliche Verletzungshandlung umschlagen solle. Auch wenn letztlich nicht habe geklärt werden können, ob eine wirkliche Bedrohung des Klägers vorgelegen habe, so seien doch Anhaltspunkte benannt, die dafür sprächen, dass der Kläger den W. habe attackieren wollen. Selbst wenn hier noch Restzweifel bestünden, sei zu würdigen, dass H. mit ausgestreckten Armen zwischen den Kläger und W. getreten sei, um den Kampf zu beenden. Eine Geste, die ein offensichtliches Friedensangebot dargestellt habe, dass beide Seiten hätten annehmen können. Danach sei ein neuer Entschluss zur Weiterführung der Kampfhandlungen erforderlich gewesen. Die folgende Reaktion, den H. zur Seite zu schieben, sei vom Kläger ausgegangen, worin ein erneuter Angriff zu sehen sei. Erst anschließend seien die Verletzungen eingetreten. Diesem Umstand sei auch zu entnehmen, dass der Kläger zuvor, als er in Boxerhaltung auf den W. zuging, die Angelegenheit körperlich habe regeln wollte. Im Übrigen seien Leistungen zu versagen. Der Kläger habe eine Schlägerei bewusst herausgefordert, indem er in drohender Haltung und mit geballten Fäusten (Boxerhaltung) auf W. zugegangen sei. Er habe einen Kampf provoziert. W., der nach dem äußeren Anschein mit einem Angriff in Form von Faustschlägen gerechnet habe, habe versucht, den Angriff mit Tritten abzuwehren. In Anbetracht der Fähigkeit des Klägers als Kickboxer sei in einem Faustschlag des Klägers eine Begehung mittels einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs zu sehen. Selbst wenn dem Kläger die Provokation einer Schlägerei nicht unterstellt werden könne, so ergebe sich eine Mitverursachung aus dem Gesichtspunkt der Beteiligung an einer Schlägerei, auf die der Kläger sich bewusst eingelassen habe.
Mit seiner am 07.03.2013 erhobenen Klage trägt der Bevollmächtigte des Klägers vor, der Kläger leide bis zum heutigen Tag unter den Folgen der erlittenen Gewalteinwirkungen. Seine ausgeprägten Gedächtnisdefizite, die vorhandenen zeitlichen und situativen Orientierungsdefizite sowie die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen ließen selbst heute noch keine selbständige Lebensführung zu. Der Grundsatz in dubio pro reo, auf den das Landgericht seine Entscheidung gestützt habe, sei im Opferentschädigungsrecht nicht anwendbar. Im Entschädigungsverfahren sei eine eigenständige, von den strafgerichtlichen Feststellungen unabhängige Würdigung vorzunehmen. Es habe kein gegenwärtiger Angriff des Klägers vorgelegen. Das Zugehen auf W. mit schnellen Schritten und in der Absicht, den verbalen Provokationen ein Ende zu setzen, sei ein sozialadäquates Verhalten. Ein zur Redestellen des Provozierenden sei eine durchaus angemessene Reaktion. Der Kläger habe seine Schädigung auch nicht mitverursacht. Die Tatbeiträge des H. und des W. einerseits und des Klägers andererseits seien nicht gleichwertig und es bestehe kein überwiegendes Selbstverschulden des Klägers. Der Kläger habe sich nicht leichtfertig einer Schädigung ausgesetzt. W. habe auf obszöne Weise verschiedene Frauen belästigt. Es entspreche einem couragierten und sozial erwünschten Verhalten, wenn dem - verbal - Einhalt geboten werden soll. W. habe den Kläger grundlos angegriffen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 12.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2013 aufzuheben und festzustellen, dass der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden ist und dass Versagungsgründe nach § 2 OEG nicht vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bezieht sich zur Begründung auf den Akteninhalt und auf die in den angefochtenen Bescheiden dargelegten Gründe. Es habe vom Landgericht nicht geklärt werden können, was W. zu B. gesagt habe. B. habe sich aber nicht angemacht gefühlt und ein beleidigender Inhalt der Äußerungen des W. sei vom Landgericht nicht festgestellt worden. Der Kläger sei in Boxerhaltung auf W. zugegangen, mit ausgebreiteten, angehobenen Armen und geballten Fäusten und B. habe mit ihren Äußerungen gegenüber Bn. den geplanten Angriff bestätigt. Der Kläger habe dem Verhalten des W. auf jeden Fall ein Ende setzen wollen, ob körperlich oder verbal habe nicht geklärt werden können, weil W. dem Angriff des Klägers, den er aufgrund der Vorgeschichte annehmen durfte, zuvorgekommen sei. Der Kläger trage die Beweislast für die Rechtswidrigkeit des Angriffs. Zwar indiziere der Tatbestand eines rechtswidrigen Angriffs dessen Rechtswidrigkeit, zur Widerlegung des Anscheinsbeweises müsse aber nicht der volle Gegenbeweis geführt werden. Es genüge vielmehr, dass Umstände vorhanden seien, die auf mehr als nur die vage Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs schließen ließen. Zudem habe der Kläger, als H. dazwischen ging um die Kontrahenten zu trennen, diesen beiseite gestoßen und erneut angegriffen.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat dazu vorgetragen, die weiblichen Passanten auf dem Bahnsteig hätten sich sehr wohl belästigt gefühlt. Die Zeugin Bb. habe trotz "freundlicher Anmache" Angst bekommen und sich in die wartende U-Bahn gesetzt. Die Zeugin Bn. habe es als "freche Anmache" empfunden. Sie habe ausgesagt, es habe sich um eine Äußerung in der Art "du geile Sau" gehandelt, aber zugleich betont, dass nicht genau diese Worte gefallen seien. Auch wenn der Wortlaut der Äußerungen gegenüber B. nicht mehr festgestellt werden konnte, sei davon auszugehen, dass es sich um einen vergleichbaren Inhalt gehalten habe. Der Kläger habe zum Eigenschutz eine Boxerhaltung erst eingenommen, als er der W. ihn tätlich angegriffen habe. Obwohl H. schlichtend dazwischen gegangen sei, sei es W. gelungen, erneut in Richtung des Oberkörpers des Klägers zu treten. Auf diesen Tritt habe der Kläger erstmals mit einem Faustschlag reagiert. Der Kläger sei ausweislich des strafrechtlichen Urteils nicht Täter und Angreifer gewesen. Er sei weder strafrechtlich verfolgt, noch verurteilt worden. Vermutungen, weshalb der Kläger der Angreifer gewesen sein soll würden den Sachverhalt verkennen.
Darauf hat die Beklagte erwidert, nach den Feststellungen des Landgerichts hätten sowohl Bn. als auch J. den Wortwechsel als freundlich und die Situation als entspannt und locker wahrgenommen. Auch habe das Landgericht festgestellt, dass H., als er zwischen W. und den Kläger gegangen sei, von diesem zurückgestoßen wurde. Es sei abwegig dass der Kläger einen Streit habe schlichten wollen. Bis zu seinem Eingreifen habe es keinen Streit gegeben. W. habe nicht provoziert. Sein Verhalten sei nicht bedrohlich gewesen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30.07.2014 haben das Gericht und die Beteiligten die Video-Aufzeichnung der Hochbahn mehrfach angesehen. Zudem hat die Vertreterin der Beklagten Bildausdrucke der Videoaufzeichnung überreicht, die ebenfalls gemeinsam angesehen und vorläufig zur Akte genommen wurden.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Unterlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
1. Die form- und fristgerecht erhobene Anfechtung- und Feststellungklage (§§ 54 Abs. 1 und 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig. Mit dem Antrag auf Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs und das Nichtvorliegen von Versagungsgründen begehrt der Kläger die gerichtliche Feststellung der Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz, um einen konkreten Anspruch auf Geld- und Sachleistungen geltend machen zu können. Es ist zulässig, die Grundlage der in Frage kommenden Leistungsansprüche vorab im Wege einer isolierten Feststellungsklage klären zu lassen (vgl. BSG vom 07.09.2004, B 2 U 46/03 R, in juris; LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.12.2007, L 5 VG 15/05, in juris).
2. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid vom 12.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.02.2013 war als rechtwidrig aufzuheben. Der Kläger ist Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden (2.1). Gründe für eine Versagung des Anspruchs bestehen nicht (2.2).
2.1. Nach § 1 OEG hat Anspruch auf Versorgung, wer im Geltungsbereich des Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen nachgewiesen, d.h. mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt sein bzw. in so hohem Grad wahrscheinlich sein, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BSG vom 17.4.2013, 9 V 3/12 R, in juris).
2.1.1. Der Kläger ist Opfer eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs geworden. H. hat den Kläger mit einem gezielten Faustschlag in das Gesicht, der zu multiplen Mittelgesichtsfrakturen und einem ungebremsten Sturz auf den Bahnsteig mit weiteren schweren Hirnverletzungen führte, vorsätzlich tätlich angegriffen. Es handelte sich bei diesem Schlag um eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper des Klägers zielende gewaltsame Einwirkung (vgl. Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, OEG Kommentar, 5. Aufl. § 1, Anm. 11 m.w.Nw.). Der Schädiger wusste, was er tat und er wollte es - ohne Berücksichtigung des hier tatsächlich eingetretenen Erfolges - auch (vgl. Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, § 1 OEG, Anm. 58).
2.1.2. Der Angriff war auch rechtswidrig. Ein tätlicher Angriff, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt ist grundsätzlich rechtswidrig, denn die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit (vgl. Knickrehm, a.a.O., § 1 OEG Anm. 66), es sei denn, es ist liegt ein Rechtfertigungsgrund vor. Der hier in Betracht kommende Rechtfertigungsgrund der Notwehr liegt zur Überzeugung der Kammer nicht vor. H. stand, anders als es vom Landgericht nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" angenommen wurde, ein Notwehrrecht nicht zur Seite. Er hat allenfalls in Putativnotwehr und damit rechtswidrig gehandelt. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit im Opferentschädigungsrecht erfolgt unabhängig von der strafgerichtlichen Beurteilung nach den Rechtsmaßstäben, die in den Strafgesetzen und ergänzend durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind (vgl. BSG vom 25.3.1999, B 9 VG 1/98 R, in juris). Notwehr ist nach § 32 StGB die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich (Notwehr) oder einem anderen (Nothilfe) abzuwenden.
2.1.3. Bei der Beurteilung ist auf den Beginn des als Einheit zu betrachtenden Geschehensablaufs abzustellen. Zur Überzeugung der Kammer hat der Kläger versucht, einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zunächst nur des W. und später auch des H. gegen sich abzuwehren. Die Kammer wertet das zügige und erkennbar entschlossene Zugehen des Klägers auf W. nicht als Angriffshandlung. Richtig ist, dass ein Angriff auch in einem physisch vermittelten Zwang liegen kann, ohne dass bereits eine körperlich Berührung stattgefunden hat (vgl. BSG vom 07.04.2011, B 9 VG 2/10 R, in juris). Die aus der objektiven Sicht eines vernünftigen Dritten zu beurteilende Grenze zum tätlichen Angriff (vgl. BSG a.a.O.) war hier jedoch nicht überschritten. Nach der Auswertung der Videoaufzeichnung der Tat steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger weder mit erhobenen Armen noch mit geballten Fäusten auf W. zugegangen ist. Anders als für das Landgericht und die Beklagte und auch anders als für H., der gegenüber der Polizei ausgesagt hat, der Kläger sei in Boxerhaltung und mit zappelnden Händen auf W. zugegangen (Bl. 109, Bd. I der Akte der StA), ist für die Kammer deutlich erkennbar, dass beide Arme des Klägers während er auf den W. zugeht am Körper herabhängen (23.51.54h der Videoaufzeichnung). Es ist auch erkennbar, dass der Kläger mit W. spricht. Der Kläger hebt erst als W. zum Tritt ansetzt seine auf der Aufzeichnung allein zu erkennende linke Hand, die nicht zur Faust geballt, sondern geöffnet ist (23.51.55) und senkt sie wieder. Der Kläger begibt sich in diesem Augenblick, den Tritt des W. gewärtigend, erkennbar in eine Abwehrhaltung - die als Boxerhaltung bezeichnet werden kann. Er hebt seine geöffnete rechte Hand, was die Kammer als Zeichen der Abwehr wertet, während W. den Tritt mit - zum Halten des Gleichgewichts - nach hinten gebeugten Oberkörper ausführt. Der Ansatz zu einem Angriff des Klägers gegen W., sei es mit Fäusten oder Füßen, ist für die Kammer weder in dieser Sequenz noch in dem Zugehen auf W. zu erkennen. Allein der Umstand, dass der große und kräftige Kläger entschlossen und zügig auf W. zugeht, begründet keinen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. W. wusste bzw. musste aufgrund der vorangegangenen "Anmache" gegenüber Bb., Bn. und F. wissen, dass und warum ihm Einhalt geboten werden soll. Er hätte zurückweichen und verbal und mit Körpersprache zunächst das Signal: "Ist gut, ich halte den Mund" setzten können. Zur Begründung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs kann die von der Beklagten unterstellte aggressive Grundstimmung des Klägers, die aus dem Umstand, dass der Kläger ca. 10 Minuten zuvor eine verbale Auseinandersetzung mit B. und anschließend einer Gruppe Jugendlicher hatte abgeleitet wird ebenso wenig herangezogen werden wie die Aufforderung von B. an die neben ihr auf der Bank sitzende Bn., die Polizei zu rufen. Ob ein rechtswidriger tätlicher Angriff vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Im Übrigen hat der Kläger 3 bis 4 Minuten ruhig auf der Bank sitzend dem übergriffigen Treiben des W. zugesehen und zugehört, bevor er aufgestanden ist. Auf der Videoaufzeichnung ist gut zu erkennen, wie W. in vor Selbstgefälligkeit strotzender Haltung die Sitzenden "zutextet". Es ist eine bloße Vermutung, wenn auf eine fortgesetzte aggressive Grundstimmung des Klägers geschlossen wird. Genauso beruht die Annahme, dass der Kläger angreifen will, weil B. dieser Überzeugung gewesen sein soll, auf einer bloßen Vermutung und zudem der Interpretation einer Drittwahrnehmung.
Auch in der Reaktion des Klägers auf das von der Beklagten als Friedensangebot an beide Kontrahenten gewertete Eingreifen des H. liegt kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff. Von W., der bis zu diesem Zeitpunkt allein in die Auseinandersetzung mit dem Kläger verwickelt war, ist kein Angebot ausgegangen. Im Gegenteil, W. zeigte sich zur Überzeugung der Kammer nach dem Inhalt der Videoaufzeichnung von dem Versuch des H. unbeeindruckt. H. hat seinen ausgestreckten rechten Arm zwischen W. und den Kläger gehalten (23.51.56), während der Kläger mit seinem wieder gesenkten rechten Arm erkennbar nach wie vor in Abwehrhaltung bleibt und W. den Angriff fortsetzt (23.51.57). Der Kläger sieht sich jetzt zwei Angreifern gegenüber (23.51.57) und stößt H. zurück (23.51.58), ohne ihn zu verletzten. Nachdem W. erneut zutritt greift H. wiederum in den Kampf ein (23.51.59) und den Kläger an (23.52.00), der jetzt erstmals (23.52.02) zuschlägt, wiederum ohne Verletzungsfolgen zu verursachen. Jetzt schlägt H. mit Abdrücken des hinteren Beines und Drehung der Hüfte und Schulter ohne Ausholbewegung gezielt in das Gesicht des Klägers und setzt einen Wirkungstreffer. Für die Kammer nicht nachvollziehbar schreibt die Beklagte allein dem Kläger die Gefährlichkeit eines Kickboxers zu, obwohl deutlich wird, dass H. wusste, wie er den Kläger mit einem gezielten Schlag kampfunfähig macht. Eine körperliche Unterlegenheit des H. bzw. beider gemeinsam handelnder Täter ist trotz des Größenunterschiedes nach dem Tatablauf nicht erkennbar. Die Aussage des H. gegenüber der Polizei (Bl. 108, Band I der StA-Akte), dass, hätte er dem Kläger wehtun wollen, er ihn ja auch gleich ins Gleis hätte "schmeißen" können, zeigt, dass H. selbst sich im Zusammenwirken mit W. offenbar auch nicht körperlich unterlegen gefühlt hat. W. und H. mussten, als sie sich auf eine körperliche Auseinandersetzung mit dem Kläger einließen, keinesfalls davon ausgehen, dass sie "die Schwächeren" sind.
2.1.4. Selbst unter der Annahme, dass der geforderte Vollbeweis der Notwehrlage nicht geführt ist, ist die Rechtswidrigkeit des Angriffs zu bejahen. Der im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigende, auf der indizierten Rechtswidrigkeit beruhende Prima-facie-Beweis ist nicht entkräftet. Dafür bedürfte es des Nachweises eines ernsthaft möglichen anderen Geschehensablaufs (vgl. BSG vom 12.02.1998, B 8 KN 3/96 R, in juris), der aus konkreten Tatsachen abgeleitet und voll bewiesen sein muss (BSG 27.11.1986, 5a RKnU 3/85, in juris). Nach dem für die Frage der Rechtswidrigkeit des Angriffs entscheidenden Geschehensablauf kann eine Notwehrlage als möglich in Betracht kommen. Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger keine verbale Klärung sondern sogleich eine körperliche wollte. Der Grad der ernsthaften Möglichkeit wird aber in der Abwägung der in Betracht kommenden Abläufe nicht erreicht.
2. 2. In § 2 Abs. 1 OEG wird geregelt, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Mitursächlichkeit bestimmt sich nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung. Das Opfer hat den Angriff mitverursacht, wenn es einen eigenen Beitrag zur Tat geleistet hat, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Angriff entfiele. Das Verhalten des Opfers muss dabei mindestens eine annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Tatbeitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers sein (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Entscheidung vom 29.3.2007, B 9a VG 2/05 R, in juris). Für die Vergleichbarkeit der Tatbeiträge ist insbesondere deren strafrechtliche Einordnung von Bedeutung. Die Tatbeiträge sind vergleichbar, wenn sie jeweils strafbare Handlungen darstellen und die Strafandrohungen in etwa gleich sind (vgl. a.a.O).
Nach den Feststellungen der Kammer hat der Kläger seine Schädigung nicht mitverursacht. Weder hat er eine eigene strafrechtlich relevante Handlung begangen noch hat er sich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung tatfördernd verhalten. Nach der Rechtsprechung des BSG ist eine Entschädigung bei einer leichtfertigen Selbstgefährdung des Opfers ausgeschlossen (vgl. BSG vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R, in juris). Mitursächlich ist in diesen Fällen ein in hohem Maß vernunftwidriges, an einem individuellen Sorgfaltsmaßstab gemessenes Verhalten des Opfers, das einem grob fahrlässigen Verhalten entspricht (vgl. BSG vom 21.10.1998, B 9 VG 4/97 R, in juris). Bei der Beurteilung ist auf die konkret eingetretene Schädigung abzustellen (vgl. Knickrehm, a.a.O., § 2 Anm. 15). Es ist zu beurteilen, ob der Angriff des Täters nach Art und Schwere der vom Opfer ausgehenden Provokation - objektiv - verhältnismäßig ist und ob das Opfer - subjektiv - mit einer so schweren Gewalttat rechnen musste (vgl. BSG 1.9.1999, B 9 VG 3/97 R, in juris).
Der Kläger hat sich nicht durch ein schwerwiegendes und vorwerfbares Verhalten der Gefahr seiner massiven Schädigung ausgesetzt. Selbst wenn sein am Beginn der Auseinandersetzung stehendes Verhalten als Provokation zu werten wäre, liegt keine leichtfertige Selbstgefährdung vor. Für den Kläger war der tatsächliche weitere Geschehensablauf, mit den für ihn gravierenden Folgen, nicht vorhersehbar. Das Ausmaß seiner Selbstgefährdung war für den Kläger nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den Grundsätzen des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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HAM
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