L 13 SB 119/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 26 SB 69/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 119/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 25. Februar 2015 geändert und der Beklagte unter Änderung seines Bescheides vom 17. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2013 verpflichtet, bei dem Kläger mit Wirkung vom 1. September 2015 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten für das Verfahren in zweiter Instanz zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1950 geborene Kläger begehrt noch die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Am 12. Juli 2012 beantragte der Kläger beim Beklagten die Heraufsetzung des zuvor festgestellten GdB von 30 sowie die Zuerkennung der Merkzeichen G und RF. Hierzu gab der Kläger an, er habe sich im Jahre 2008 einen Bruch des rechten Handgelenkes zugezogen, aus dem sich eine dauerhafte Bewegungseinschränkung ergebe. Ferner habe er sich 2011 den linken Unterschenkel gebrochen und eine Lungenembolie durchgemacht. Darüber hinaus sei 1998 nach Verengung einer Beckenarterie die Einsetzung eines Stents notwendig geworden. Nach Beiziehung von Behandlungsunterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Oktober 2012 beim Kläger mit Wirkung ab dem 10. Juli 2012 einen GdB von 40 fest und lehnte die Zuerkennung der begehrten Merkzeichen ab. Hierbei ging der Beklagte von folgenden Gesundheitsstörungen aus:

&61485; Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Herzleistungsminderung (Einzel-GdB20), &61485; Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), &61485; Funktionsstörung des rechten Kniegelenkes, operierte arterielle Verschlusskrankheit beider Beine (Einzel-GdB 30).

Am 12. November 2012 erhob der Kläger Widerspruch. Nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen aus einem Rentenverfahren wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2013 den Widerspruch zurück, ging hierbei aber im Vergleich zum Ausgangsbescheid zusätzlich von einer Funktionsstörung der rechten Hand aus, die er verwaltungsintern mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete. Mit der am 1. März 2013 erhobenen Klage hat der Kläger die Zuerkennung eines GdB von mindestens 80 sowie der Merkzeichen G und RF begehrt. Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Chirurgen beigezogen und Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. B, der den Kläger am 17. September 2014 untersucht hat und in seinem Gutachten zu der Einschätzung gelangt ist, beim Kläger sei eine Funktionsstörung beider Hände (GdB 20), eine Funktionsstörung des rechten Handgelenkes (GdB 10) sowie eine Funktionsstörung des rechten Kniegelenkes (GdB 30) festzustellen. Hingegen lägen keine das Altersmaß überschreitenden Herzleistungsminderungen vor, keine leistungsmindernden Herzrhythmusstörungen und kein therapiepflichtiges Bluthochdruckleiden, auch keine Funktionsstörung der Wirbelsäule. Die beim Kläger bestehende tablettenpflichtige Zuckerstoffwechselstörung sei befriedigend medikamentös eingestellt und deshalb nicht mit einem GdB zu bewerten. Die operative Versorgung der arteriellen Verschlusskrankheit beider Beine habe nicht nur zu einer ausreichenden, sondern zu einer sehr befriedigenden Wiederherstellung der peripheren Durchblutung beider Beine geführt. Eine GdB-Feststellung sei deshalb auch dafür nicht möglich. Insgesamt sei der GdB mit maximal 40 zu bemessen. Gesundheitliche Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G und RF lägen nicht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen. Mit Urteil vom 25. Februar 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich zur Begründung die Ausführungen des Sachverständigen Dr. B zu Eigen gemacht.

Mit der am 8. Mai 2015 eingelegten Berufung hat der Kläger sein Begehren ursprünglich weiterverfolgt und hierzu vorgebracht, die vom Sachverständigen Dr. B in Abrede gestellten Funktionsbeeinträchtigungen seien bei ihm gegeben und entsprechend diagnostiziert worden.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin und Sozialmedizin Dr. Sch, der den Kläger am 11. Februar 2016 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 1. März 2016 zu der Einschätzung gelangt ist, beim Kläger sei ein Gesamt-GdB von 50 in Ansatz zu bringen. Hierfür maßgeblich seien folgende Funktionsbeeinträchtigungen:

1. Obere Extremitäten: Polyarthrose der Fingergelenke ohne relevante Bewegungsstörungen (GdB 20), Handgelenkbruch rechts (GdB 10), 2. Funktionssystem untere Extremitäten: Folgen nach abgelaufener Thrombose, Durchblutungsstörung der Beine, Hüftgelenksverschleiß bds., Funktionsstörung des rechten Kniegelenkes nach Schienbeinbruch und mehrfachen operativen Behandlungen bei entzündlichen Komplikationen (GdB 30), 3. Funktionssystem Wirbelsäule: Verschleiß der Wirbelsäule (GdB 0), 4. Funktionssystem Kreislauf, Herz: Bluthochdruck, Aufweitung der Herzkranzgefäße mit Stent-Implantation. Herzveränderungen bei Bluthochdruck (GdB 10), 5. Funktionssystem Diabetes: Insulinpflichtige Blutzuckerkrankheit (GdB 20), 6. Funktionssystem Psyche: Alkoholabhängigkeit (GdB 0), 7. Blut, Blutbildende Organe: Eisenmangel (GdB 10).

Der Gesamt-GdB 50 gelte ab der Diagnostizierung des insulinpflichtigen Diabetes im September 2015. Anzumerken sei darüber hinaus, dass die Funktionsbeeinträchtigung des rechten Kniegelenkes mit einem GdB von 30 bewertet worden sei, dies aber eine deutliche Tendenz zu einer Bewertung zu 40 aufweise. Der Beklagte ist dem Ergebnis der Begutachtung insoweit entgegengetreten, als er die Dokumentationen zum Bereich der Funktionsstörung der Hände nicht als schlüssig angesehen hat. Zwar sei der Bewertung des Diabetes mellitus mit einem GdB von 20 zu folgen, gleiches gelte für die Bewertung des Kniegelenkleidens mit einem GdB von 30. Eine weitere Erhöhung des festgestellten GdB von 40 wegen der Diabeteserkrankung auf 50 sei indes nicht geboten. Mit den Einwänden des Beklagten und des Klägers konfrontiert, hat der Sachverständige Dr. Sch mit ergänzender Stellungnahme vom 15. Juni 2016 sein Gutachten dahingehend korrigiert, dass sich ein Übertragungsfehler bei der Dokumentation zum Befund des rechten Handgelenkes eingeschlichen habe. Tatsächlich sei das rechte Handgelenk leicht- bis mittelgradig deformiert und es seien deutliche Bewegungseinschränkungen festzustellen. Erneut hat der Sachverständige ausgeführt, die Funktionsstörungen der unteren Extremitäten sein zwar mit einem GdB von 30 zutreffend bewertet, doch handele es sich eben um eine Bewertung an der Grenze zu einem GdB von 40. Eine deutliche funktionelle Einschränkung sei anhand der muskulären Schwäche insbesondere im Bereich des rechten Unterschenkels festzustellen. Dies rechtfertige zum einen die Anhebung auf einen GdB von 40 unter Heranziehung auch der Funktionsbeeinträchtigungen der oberen Extremitäten und die Anhebung auf 50 unter Berücksichtigung des Diabetes mellitus. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die ergänzende Stellungnahme Bezug genommen.

Der Kläger hat die Berufung zurückgenommen, soweit sie sich auf die Zuerkennung eines GdB über 50, die Zuerkennung von Merkzeichen und schließlich die Zeit vor September 2015 bezogen hat. Er beantragt nunmehr noch,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 25. Februar 2015 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2013 zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 1. September 2015 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist in dem nach teilweiser Rücknahme noch streitgegenständlichen Umfange begründet.

Dem Kläger ist mit Wirkung ab dem 1. September 2015 ein Grad der Behinderung von 50 zuzuerkennen.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.

Es steht nach den gutachterlichen Feststellungen aus beiden Instanzen fest, dass beim Kläger eine Funktionsstörung des rechten Kniegelenkes als "führendes" Leiden besteht. Ebenso ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig, dass diese Funktionsstörung nach VMG Ziffer B 18.14 mit einem GdB nicht unter 30 zu bewerten ist. Weiterhin besteht beim Kläger ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus. Auch insofern besteht zu Recht zwischen den Beteiligten Einigkeit darüber, dass hierfür nach VMG Ziffer B 15.1 ein GdB von 20 anzusetzen ist. Auch wenn die Prozessbevollmächtigte des Beklagten dies in der mündlichen Verhandlung angezweifelt hat, ergibt sich die übereinstimmende Einschätzung des sachkundigen ärztlichen Dienstes des Beklagten aus dessen Stellungnahme von 21. März 2016, in der es wörtlich heißt: "der Bewertung des jetzt insulinpflichtigen Diabetes mellitus ohne Notwendigkeit einer täglichen Blutzuckerkontrolle mit einem Einzel-GdB von 20 ab September 2015 wird versorgungsärztlich gefolgt." Ferner besteht beim Kläger eine Funktionsstörung des rechten Handgelenks. Insoweit hat der Sachverständige Dr. S. in der ergänzenden Stellungnahme zu seinem Gutachten ausgeführt, in seinem Gutachten seien irrtümlich unzutreffende Bewegungsausmaße beschrieben gewesen. Die dann nachgereichten tatsächlich festgestellten Werte rechtfertigen nach VMG Ziffer B 18.13 die Zuerkennung eines GdB von 20 als dem unteren Wert der für stärkere Bewegungseinschränkungen eines Handgelenkes vorgesehenen Spanne.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Senates einerseits zu berücksichtigen, dass nach der VersMedV zwar nicht jeder GdB von 20 gleichsam automatisch zur Anhebung des Gesamt-GdB führt, andererseits aber der Gleichbehandlungsgrundsatz es gebietet, unterschiedliche Sachverhalte individuell zu würdigen und entsprechend den Unterscheidungen auch unterschiedlich zu behandeln. Wirkt sich mithin eine weitere Funktionsbeeinträchtigung nicht nur vernachlässigbar negativ auf die bereits durch das "führende Leiden" gegebene Teilhabebeeinträchtigung aus, muss dies bei der Bildung des Gesamt-GdB auch zum Ausdruck kommen. Dies wird in aller Regel der Fall sein, wenn die jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen verschiedene Lebensbereiche ohne Überschneidungen betreffen. Vereinfacht beispielhaft ausgedrückt, liegt es auf der Hand, dass ein behinderter Mensch mit einer Gehbehinderung stärker bei der Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigt ist, wenn er zusätzlich auch eine nicht unerhebliche Sehstörung aufweist. Unter Anlegung dieses Maßstabes ist nach Überzeugung des Senates hier eine Anhebung des GdB von 30 für die Knieversteifung um jeweils einen Grad von 10 wegen des Diabetes mellitus und für die Handgelenkversteifung geboten, weil es sich um völlig getrennte Funktionssysteme handelt, die keine Überschneidungen aufweisen und bei denen daher die festgestellte Funktionsbeeinträchtigung zu einer weiteren Einschränkung des Klägers bei der Teilhabe an der Gesellschaft führt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den wechselseitigen Grad des Unterliegens. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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