S 42 R 90060/09

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
42
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 42 R 90060/09
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ¼ der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für Zeiten nach dem 31.12.2009 streitig.

Die am ... 1961 in der ... geborene Klägerin besaß bis zum ... 1998 die türkische Staatsbürgerschaft. Sie war zuletzt als Lehrerin tätig und verzog am 11.11.1988 in das Bundesgebiet.

Unter dem 26.02.2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Als Grund gab sie eine am 22.08.2006 statt- gehabte Beinverletzung durch Schüsse in der ... mit Beeinträchtigungen an. Nach ihrer Auffassung sei sie nicht mehr in der Lage, irgendwelche Arbeiten zu verrichten.

Nachdem die Beklagte Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin eingeholt hatte, erstellte der Facharzt für Orthopädie Dipl.-Med. H. unter dem 05.11.2008 ein Gutachten über die Klägerin nach Untersuchung. In dem Gutachten führte er aus, die erhobenen klinischen, röntgenologischen und funktionellen Befunde ließen die Feststellung zu, dass der posttraumatische Zustand nach Schussfraktur des Tibiakopfes vom 23.08.2006 funktionell gut adaptiert sei. Die beklagten Spannungsbeschwerden könnten objektiv nicht verifiziert werden. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin sei für die Lerntätigkeit als Grundschullehrerin der Art beeinträchtigt, dass eine stehende Tätigkeit vollschichtig zurzeit nicht ausgeübt werden könne. Für Verwaltungstätigkeiten, die leidensgerecht im leichten und mittelschweren Bereich anzusiedeln seien und im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen zu verrichten seien, bestehe durchaus vollschichtige Einsatzfähigkeit. Die Erwerbsfähigkeit sei nicht beeinträchtigt.

Mit Bescheid vom 18.11.2008 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin ab.

Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2009 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 04.03.2009 Klage zum ehemaligen Sozialgericht (SG) Stendal erhoben.

Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, sie sei nicht in der Lage, irgendeiner Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Das Gericht hat zunächst von den behandelnden Ärzten der Klägerin, der Dipl.-Med. S. unter dem 04.09.2009 sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. L. unter dem 01.10.2009 Befundberichte eingeholt. Beide Ärzte haben mitgeteilt, die Klägerin sei in der Lage, zumindest leichte körperliche Arbeiten mit zusätzlichen Einschränkungen 6 Stunden und mehr täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Darauf hat das Gericht mit Verfügung vom 16.11.2009 der Klägerin mitgeteilt, eine weitere Beweiserhebung von Amts wegen sei nicht beabsichtigt. Auf Antrag der Klägerin ist sodann von dem Facharzt für Chirurgie Dr. R. ein Gutachten über die Fragen eingeholt worden, welche Gesundheitsstörungen bei der Klägerin vorliegen und wie sich diese auf ihr Leistungsvermögen im Erwerbsleben auswirken. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das Gutachten des Dr. R. vom 20.06.2011 (Blatt 90 bis 113 der Gerichtsakte). Nachdem die Beklagte durch ihren ärztlichen Dienst (Dr. S.) in einer Stellungnahme vom 27.07.2011 zu dem Gutachten des Dr. R. Stellung genommen hatte, ist von Amts wegen über die zuvor genannten Fragen Beweis erhoben worden durch ein orthopädisches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. H. in Leipzig. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das Gutachten des Prof. Dr. H. vom 30.04.2012. Nachdem der Vertreter der Klägerin mit Schriftsatz vom 24.05.2012 zum Gutachten des Prof. Dr. H. ausführlich Stellung genommen hatte, hat das Gericht durch Prof. Dr. H. eine ergänzende Stellungnahme vom 25.09.2012 veranlasst. Wegen der näheren Einzelheiten dieser Stellungnahme wird auf Blatt 178 bis 183 der Gerichtsakte verwiesen. Schließlich hat die Beklagte unter dem 05.11.2012 durch ihren ärztlichen Dienst (Dr. S.) zum medizinischen Sachverhalt Stellung genommen.

Das Gericht hat die Beteiligten im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vom 05.03.2013 persönlich angehört.

In dem Termin hat die Beklagte erklärt, sie erkenne an, dass bei der Klägerin volle Erwerbsminderung auf Zeit bei einem Leistungsfall vom 22.08.2006 vorgelegen habe und der Klägerin daher Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab 01.02.2008 bis 31.12.2009 zu zahlen sei.

Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen und beantragt darüber hinaus nach ihrem schriftlichen sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.11.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009 zu verurteilen, bei ihr seit dem 22.08.2006 volle bzw. teilweise Erwerbsminderung anzunehmen und Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Sozialgericht Magdeburg ist nach der Auflösung des Sozialgerichts Stendal gemäß § 4 des Gesetzes zur Neuordnung der Gerichtsstrukturen vom 14.02.2008 (GVBl. LSA Nr. 3/2008 vom 20.08.2008) zur Entscheidung über den vorliegenden Rechtsstreit berufen.

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oberrechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt durch die umfassende Beweiserhebung des Gerichts geklärt ist. Die Vorschrift dient der Beschleunigung des Verfahrens. Auch das sich die Wahlmöglichkeit des Gerichts, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, auch dessen Besetzung auswirkt, verletzt nicht Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG).

Soweit die Beklagte im Termin vom 05.03.2013 erklärt hat, bei der Klägerin habe bei einem Leistungsfall vom 22.08.2006 volle Erwerbsminderung auf Zeit bis 31.12.2009 vorgelegen und sie sei bereit, Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab 01.02.2008 bis 31.12.2009 zu zahlen, liegt ein Teilanerkenntnis im Sinne von § 101 Abs. 2 SGG vor, welches nach Annahme durch die Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache insoweit erledigt hat. Da aus dem Teilanerkenntnis selbst vollstreckt werden kann (§ 199 Abs. 1 Nr. 3 SGG), war ein Teil-Anerkenntnisurteil nicht notwendig.

Die über das Teil-Anerkenntnis hinausgehende Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 Sozialgesetzbuch, 6. Buch (SGB VI) scheidet für die am ... 1961 geborene Klägerin von vornherein aus. Aber auch ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung liegen nach dem 31.12.2009 nicht mehr vor. Die Voraussetzungen der dafür als Anspruchsgrundlagen ausschließlich im Betracht kommenden § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI sind nach dem zuvor genannten Zeitpunkt nicht mehr erfüllt. Der Bescheid der Beklagten vom 18.11.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009 ist insoweit rechtmäßig.

Nach § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sei teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch behinderte Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist dagegen nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage insoweit nicht zu berücksichtigen ist.

Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss hierbei im Wege des sogenannten Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Dies bedeutet, dass Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können; es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen. Von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/2006 R -). Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt rechtlich herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 23.10.1996 – 4 RA 1/96 -).

Unter Berücksichtigung dieser Prämissen besteht bei der Klägerin nach dem 31.12.2009 weder teilweise noch volle Erwerbsminderung, da sie unter Beachtung der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dieses Ergebnis beruht auf den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. in seinem Gutachten vom 30.04.2012. Dessen Ausführungen schließt sich das Gericht nach eigener gründlicher Prüfung an. Der Sachverständige hat seine Erkenntnisse auf der Grundlage einer eigenen Untersuchung und unter Berücksichtigung aller maßgeblichen medizinischen Befunde gewonnen und seine Ergebnisse daraus widerspruchsfrei und überzeugend hergeleitet. Die Ausführungen des Dr. R. in seinem Gutachten vom 20.06.2011 sind hingegen vor diesem Hintergrund jedenfalls nach Maßgabe des deutschen Rentenrechts nicht nachvollziehbar, zumal stichhaltige medizinische Gesichtspunkte nicht angegeben werden. Beispielhaft sei angeführt, dass es nicht einmal ansatzweise nachvollzogen werden kann, welcher Zusammenhang zwischen ortsüblichen Wegstrecken und der Verrichtung körperlich leichter Tätigkeiten bestehen.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens liegen bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen vor:

Retropatellararthrose und Verusfehlstellung des rechten Kniegelenkes nach Schussverletzung der rechten Tibia mit rezidivierenden Schwellneigungen im Bereich des Kniegelenkes

muskuläres Defizit rechter Oberschenkel nach Schussverletzung und arteriovenöser Fistel und Operationen

Rest-Shunt bei Zustand nach arteriovenöser Fistel rechter Unterschenkel und operativer Versorgung

rezidivierendes Zervikobrachialsyndrom bei funktionellen Störungen und beginnenden Degenerationen im Bereich der Kopfgelenke und der unteren Halswirbelsäule

rezidivierende Lumboischialgie bei beginnenden degenerativen Veränderungen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule Rumpfmuskelinsuffizienz.

Diese Gesundheitsstörungen schränken das Leistungsvermögen der Klägerin für die Zeit ab 01.01.2010 jedoch alleine qualitativ ein. Sicherlich kann die Klägerin nicht mehr leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten verrichten. Sie ist aufgrund der Befunde jedoch nicht gehindert noch körperlich leichte Arbeiten durchzuführen, wobei ein Wechsel von gehender, stehender und sitzender Tätigkeit und einförmiger Belastung vorzunehmen ist. Das Arbeiten in geschlossenen Räumen ist einer Tätigkeit im Freien vorzuziehen. Nicht zumutbar sind Tätigkeiten mit Wechselschicht, Akkord- und Fliesbandarbeit, ferner Überkopfarbeiten, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten wie Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten. Anspruchsvolle geistige Tätigkeiten kann die Klägerin durchaus ausführen. Die Gebrauchsfähigkeit der Hände ist nicht eingeschränkt. Unter Beachtung der vorerwähnten Einschränkungen ist die Klägerin ansonsten in der Lage, leichte körperliche Arbeiten 6 Stunden und mehr täglich durchzuführen. Die Klägerin ist auch in der Lage, 4 x täglich 500 m zu Fuß zurückzulegen. Wie der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. H. dargelegt hat, ist die Klägerin dazu in der Lage. Insgesamt kann sie eine normale Arbeitsleistung erbringen.

Dieses Ergebnis wird gestützt durch die im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Befundberichte von den Ärzten des Vertrauens. Die von der Klägerin benannten Ärzte Dipl.-Med. S. und Dr. L. haben in ihren Befundberichten von Oktober 2009 und September 2009 angegeben, die Klägerin könne wieder leichte körperliche Tätigkeiten mit zusätzlichen qualitativen Einschränkungen 6 Stunden täglich verrichten.

Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin für die Zeit ab 01.01.2010 wieder in der Lage ist, mit dem von dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. H. angegebenen Leistungsvermögen tätig zu sein.

Nach alledem war die Klage abzuweisen, soweit sie über das Teilanerkenntnis der Beklagten hinausgeht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen der Klägerin.
Rechtskraft
Aus
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