L 1 KR 368/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 3 KR 114/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 368/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 20. Juli 2017 wird abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab sofort bis zum Ergehen einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 4. Januar 2018, bei Vorlage der Verordnung eines Vertragsarztes die Kosten einer Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten der Sorten Bedrocan oder Bedica in maximaler Tagesdosis von 3,0 g bei einem Vierwochen-Bedarf von 90 g zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Hier sind ein Anordnungsanspruch und ein -grund zu bejahen. Zum Sachverhalt wird zunächst nach § 142 Abs. 2 S. 3 SGG auf den Beschluss des Sozialgerichts vom 20. Juli 2017 verwiesen.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben. Dem Antragsteller steht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der geltend gemachte Sachleistungsanspruch zu, weil eine entsprechende Genehmigung fingiert wird. Nach § 54 Abs. 5 SGG kann (im Hauptsacheverfahren) die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt (§ 77 SGG) vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – Rdnr. 8 mit weit. Nachw.). Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Die Genehmigungsfiktion bewirkt ohne Bekanntgabe (§§ 37, 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -SGB X) einen in jeder Hinsicht voll wirksamen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 S 1 SGB X. Durch den Eintritt der Fiktion verwandelt sich der hinreichend inhaltlich bestimmte Antrag in den Verfügungssatz des fingierten Verwaltungsakts. Er hat zur Rechtsfolge, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten - wie hier - unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht.

Die Voraussetzungen einer fingierten Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V (in der seit 26.Februar 2013 geltenden Fassung des Art 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (PatRVerbG&707; vom 20. Februar 2013, BGBl I 277) sind erfüllt. Damit besteht ein durchsetzbarer Anspruch.

Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch. Ausdrücklich regelt das Gesetz, dass, wenn keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes erfolgt, die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs. 3a S 6 SGB V). Der Naturalleistungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion ermöglicht auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ihren Anspruch zu realisieren. Für diese Auslegung spricht der Sanktionscharakter der Norm (BSG, a. a. O. Rdnr. 12f).

§ 13 Abs. 3a SGB V ist bewusst abweichend von den sonstigen in § 13 SGB V geregelten Kostenerstattungstatbeständen geregelt (vgl. § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V) und erstreckt sich wie der Erstattungsanspruch deshalb nur auf subjektiv "erforderliche" Leistungen (BSG, a. a. O. Rdnr. 13 mit Bezugnahme auf Urteil vom 8. März 2016 -B 1 KR 25/15 R, BSGE 121, 40, Rdnr. 25). Der Sachleistungsanspruch auf medizinisches Cannabis ist von § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V umfasst. Die Regelung betrifft unter anderem -wie hier- Ansprüche auf Krankenbehandlung, nicht dagegen Ansprüche, die unmittelbar auf eine Geldleistung oder auf Leistungen zur medizinischen Reha gerichtet sind (BSG, Urt. v. 8. März 2016 Rdnr 11 ff). Der Antragsteller ist als bei der Antragsgegnerin Versicherter Leistungsberechtigter.

Der dem vorliegenden Verfahren zu Grund liegende Antrag war so bestimmt, dass die fiktive Genehmigung ihrerseits dem Erfordernis der Bestimmtheit nach § 33 SGB X genügt (vgl. BSG, a. a. O. Rdnr. 23; LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 27. Juni 2017 -L 9 KR 249/17 BER).

Der Antragsteller hatte seinem Antrag vom 25. Januar 2017 auf Kostenübernahme für Cannabisblüten unter anderem seine ihm erteilte Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz samt der Erklärung des ihn betreuenden Facharztes für Neurochirurgie B beigefügt, der Sorten, Einzeldosen, maximale Tagesdosis und der Vierwochenbedarf entnommen werden konnte.

Der Antrag betrifft auch ohne beigefügte ärztliche Verordnung eine Leistung, die der Antragstellerin für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV lag: Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich, aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck an, neben dem Sachleistungsanspruch aufgrund § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V auch einen naturalleistungsersetzenden Kostenerstattungsanspruch vorzusehen (BSG, a. a. O. Rdnr. 25). Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (BSG, a. a. O Rdnr. 26 unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien und mit weiteren Nachweisen). Gemessen hieran liegt eine Versorgung mit Cannabis unter Einhaltung aller formellen Voraussetzungen des zum 10. März 2017 durch das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften (vom 6. März 2017, BGBl I S. 403) eingeführten § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) jedenfalls hier nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs. Zwischen den Beteiligten ist zwar streitig, ob der Antragsteller an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V leidet. Außer Streit steht jedoch die Diagnose eines schweren chronischen Schmerzsyndroms aufgrund eines Bandscheibenvorfalles. Therapieversuche mit Alternativen sind unternommen worden, auch wenn auch diesbezüglich Streit besteht.

Der Antrag ist auch nicht völlig verfrüht gestellt worden. Der Antragsteller brachte seinen Antrag zu einem Zeitpunkt ein, als der Bundestag das Gesetz mit Einführung des § 31 Abs. 6 SGB V bereits verabschiedet hatte (20. Januar 2017).

Die Genehmigungsfiktion ist hier mit hinreichender Sicherheit eingetreten: Nach § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, bis spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Hält die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Nach § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V hat die Krankenkasse, sofern sie Fristen nach Satz 1 nicht einhalten kann, dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mitzuteilen. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6).

Die Frist begann am Folgetag nach der Antragstellung am 25. Januar 2017, also am Dienstag, den 26. Januar 2014 (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Die Frist endete am Montag, den 15. Februar 2017 (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB).

Die Antragsgegnerin hat auf den Antrag mit Schreiben vom 9. Februar 2017 reagiert, in dem es heißt, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine Kostenübernahme nicht erfolgen könne, da ein aktuell ausgefüllter Arztfragebogen fehle. Weiter heißt es in dem Schreiben, gerne werde der Antrag nach Eingang der genannten Unterlage erneut überprüft.

Dieses Schreiben stellt nach dem maßgeblichen objektivierten Empfängerhorizont keine Ablehnung des Antrages dar. Dagegen spricht neben der fehlenden Rechtsmittelbelehrung die Formulierung, aus der sich nur ergibt, dass zur Zeit keine Stattgabe erfolgen könne. Ob ein ablehnender Verwaltungsakt nach § 40 Abs. 1 SGB X nichtig wäre, soweit damit grob rechtswidrig sowohl die Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V als auch die von Gesetzes wegen vorgesehenen Regularien einer Ablehnung alleine aufgrund fehlender Mitwirkung nach § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch umgangen werden soll, kann in diesem Fall dahingestellt bleiben.

Die Frist von drei Wochen ist maßgeblich, weil die Antragsgegnerin den Antragsgegner nicht zugleich über die Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme unterrichtete. Ohne diese gebotene Information kann der Leistungsberechtigte nach Ablauf von drei Wochen annehmen, dass sein Antrag als genehmigt gilt (BSG, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 25/15 R –, BSGE 121, 40, Rdnr. 28). Hier hätte die Kasse ihrem Versicherten von vornherein mitteilen müssen, dass sie nach Eingang der aus ihrer Sicht erforderlichen Unterlagen erst noch den MDK einschalten würde (vgl. zur Pflicht § 13 Abs. 3a S. 2 SGB V). Denn die Krankenkasse muss, wenn sie Fristen nach Satz 1 nicht einhalten kann, dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mitteilen (§ 13 Abs. 3a S. 5 SGB V).

Überdies enthält das weitere Mitteilungsschreiben vom 27. Februar 2017, auf ein Gutachten des MDKs angewiesen zu sein, nicht die geforderte taggenaue Prognose der weiteren Verzögerung (BSG, a. a. O. Rdnr. 20). Der Ablehnungsbescheid vom 16. März 2017 ist deshalb erst ergangen, nachdem die fiktive Genehmigung bereits wirksam war. Es ist auch nicht vorgetragen oder ersichtlich, dass die fiktive Genehmigung wieder aufgehoben worden ist.

Der Tenor war nach Auffassung des Senats nicht unter die weitere Voraussetzung zu stellen, dass in der Hauptsache Klage erhoben werde (so bereits Beschluss des Senats vom 4. September 2017-L 1 KR 305/17 B ER). In zeitlicher Hinsicht kann die Antragsgegnerin auf die Möglichkeit nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 926 Zivilprozessordnung verwiesen werden, vom Antragsteller eine Klage in der Hauptsache zu verlangen (vgl. zur Zulässigkeit einer allgemeinen Leistungsklage durch den Antragssteller: BSG, Urt. v. 11. Juli 2017 -B 1 KR 26/16 R- Rdnr. 8 und zur Unbeachtlichkeit der verspäteten Ablehnung: BSG, a. a. O. Rdnr. 36). Denn die einstweilige Anordnung gilt von vorneherein nur für drei Monate.

Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Der Antragsteller hat hinreichend glaubhaft gemacht, nicht über die finanziellen Mittel zu verfügen, sich das Cannabis auf Privatrezept zu verschaffen.

Die Beschwerde war klarstellend im Übrigen zurückzuweisen: Nach dem Wortlaut des Antrages wird die vorläufige Gewährung der Sachleistungen auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum begehrt. Insoweit käme nur eine (vorläufige) Kostenerstattung bzw. -freistellung in Betracht. Anhaltspunkte für die besondere Dringlichkeit einer solchen Regelung sind jedoch nicht ersichtlich. Entsprechendes gilt, soweit die einstweilige Anordnung zeitlich unbegrenzt auch über den zugesprochenen Zeitraum hinaus begehrt wird.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG. Es ist in der Sache von einem ganz überwiegenden Erfolg des Antragstellers auszugehen.

Mit der zusprechenden Kostenentscheidung hat sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe aus Sicht des Senats erledigt, weil der Antragsteller insoweit nicht mehr bedürftig ist.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Bundessozialgericht nicht gegeben (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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