Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 29/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 134/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. April 2012 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund einer unfallbedingten Querschnittslähmung im Verfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X).
Der 1972 geborene Kläger erlitt am 26. September 2002 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall, als er auf dem Weg zur Arbeit mit seinem Fahrrad von einem Auto erfasst wurde. Hierdurch zog er sich eine LWK-1-Fraktur mit motorisch inkompletter Querschnittslähmung mit Blasen- und Mastdarmlähmung zu. Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte im Jahr 2005 nach Durchführung der Heilbehandlung Rentengutachten zur Bewertung der MdE ein: Der PD Dr. D., Marienhospital Herne, kam in seinem fachurologischen Zusatzgutachten vom 31. Januar 2005 zu dem Ergebnis, allein auf seinem Fachgebiet bestehe unfallbedingt wegen einer neurogenen Blasenfunktionsstörung mit der Notwendigkeit eines intermittierenden Selbstkatheterismus und rezidivierend auftretenden symptomatischen Harnwegsinfekten eine MdE von 20 v.H. Die Neurotraumatologin Dr. E., Berufsgenossenschaftliche Klinik Bergmannsheil in Bochum, diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 20. Januar 2005 u. a. eine "als funktionell komplett zu bezeichnende, nach ASIA definitionsgemäß ebenfalls komplette motorische Querschnittslähmung sub L 1, sensibel sub L 3 nach LWK 1 Fraktur" und eine "resultierende Blasen- und Mastdarmlähmung mit rezidivierender Inkontinenz bzw. Motilitätsproblematik. Notwendigkeit des regelmäßigen Einmalkatheterismus und des fremdunterstützten Abführens mittels rektaler Ausräumung". Allein auf ihrem Fachgebiet schätzte sie die MdE auf 80 v.H.; die Gesamt-MdE auf urologischem und neurotraumatologischem Fachgebiet bewertete sie mit 100 v.H. Diese Gutachten leitete die Beklagte ihrem Beratungsarzt Dr. F. zur Stellungnahme zu. Dieser vertrat die Ansicht, dass die Feststellung einer Gesamt-MdE von 80 v.H. gerechtfertigt sei. Mit Bescheid vom 28. April 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger deshalb Rente nach einer MdE von 80 v.H. mit einem Rentenbeginn am 25. März 2004; dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Unter dem 17. Oktober 2007 stellte der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten den Antrag, ihm wegen der Folgen des Unfalls Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 100 v.H. zu bewilligen. Die Beklagte holte daraufhin ein zweites Rentengutachten vom 11. Februar 2008 bei dem Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie PD Dr. G., Chefarzt des Zentrums für Rückenmarkverletzte der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, mit einem neuro-urologischen Zusatzgutachten des Dr. H., Chefarzt der Klinik für Neuro-Urologie der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, vom 11. August 2008 ein. Dr. H. stellte auf seinem Fachgebiet folgende Unfallfolgen fest: "kombinierte Schädigung des oberen und unteren motorischen Neurons mit überwiegender Schädigung des unteren motorischen Neurons. Notwendigkeit der Blasenentleerung durch intermittierenden Katheterismus. Eingeschränkte Blasensensibilität. Fehlende Mastdarmsensibilität. Unmöglichkeit der koordinierten und willkürlichen Darmentleerung. Erektile Dysfunktion. Ausbleibende Ejakulation." Allein auf neuro-urologischem Fachgebiet sei eine MdE von 40 v. H. festzustellen. Dr. G. kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, ohne Berücksichtigung des urologischen Fachgebiets sei eine MdE von 80 v.H. festzustellen. Er stellte die folgenden Unfallfolgen fest:
• Mittlerweile knöchern fest konsolidierte LWK 1-Fraktur mit einliegendem Osteosynthesematerial von BWK 12 bis LWK 2. Dadurch Ausschaltung zweier Bewegungssegmente der Wirbelsäule. Narben am rechten Rippenbogen thorakolumbal und rechter dorsaler Beckenkamm
• Motorisch inkomplette spastische Paraplegie unterhalb L 1, funktionell motorisch komplett unterhalb L 2, sensibel inkomplett unterhalb L 3. Der Verletzte ist zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Gehen mit Unterschenkelschienen ist nur zu therapeutischen Zwecken möglich. Es besteht erhebliche Spastik der unteren Extremitäten.
• Blasen- und Mastdarmlähmung mit der Notwendigkeit des intermittierenden Selbstkatheterismus der Harnblase sowie dem Problem stundenlanger Abführvorgänge trotz regelmäßiger Zuhilfenahme von Abführmitteln.
• Nicht dislozierte bekanntermaßen knöchern fest verheilte Sitzbeinfraktur links ohne verbleibende klinische Problematik.
• Nach Angaben des Verletzten nahezu vollständig erloschene Vita sexualis (lediglich unter Cialis besteht eine mäßige Erektion, keine Ejakulation).
Außerdem bestünden als sekundäre Unfallfolgen:
• Heterotope Ossifikation am rechten lateralen Oberschenkelschaft, durch die es beim Gehen zu einem Schnappen de Sehne des M. tensor fasciae latae kommt.
• Narbe rechter Innenknöchel nach trimalleoläre Sprunggelenksfraktur (Metall in situ). Die Fraktur entstand beim Übersetzen Pkw/Rollstuhl.
• Narben am Gesäß nach mehreren Dekubitusoperationen.
• Letztlich ist auch die aktuelle Großzehengrundgelenkfraktur als sekundäre Unfallfolge anzusehen, da diese beim Rollstuhltransfer erlitten wurde.
Auf ergänzende Nachfrage der Beklagten führte der Sachverständige Dr. G. unter dem 17. September 2009 aus, dass es durch die Beurteilung mit einer MdE von 40 v.H. in dem neuro-urologischen Gutachten nicht zu einer Änderung der Gesamt-MdE von 80 v.H. komme.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 28. April 2005 ab und stellte ausdrücklich fest, dass die Rente nicht zu erhöhen sei. Den hiergegen am 10. November 2008 eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2009 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 26. Februar 2009 beim Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) Klage erhoben.
Zur Begründung hat er ein für das Landgericht Limburg erstattetes orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten des Prof. Dr. J. vom 28. August 2007 vorgelegt. Hierin wird zusammenfassend ausgeführt, bei dem Kläger bestehe eine inkomplette Querschnittslähmung unterhalb des ersten Lendenwirbels. Konsekutiv resultiere eine komplette Darm- und Blasenlähmung. Aufgrund des vollständigen Kraftverlustes der Fußheber- und -senker sei der Kläger nur mit Schienen auf ganz kurzen Strecken gehfähig und für kurze Zeit stehfähig. Er sei dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Die insgesamt resultierenden Einschränkungen seien mit einer vollständigen Querschnittslähmung zu vergleichen.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein unfallchirurgisches Gutachten des Dr. K. vom 9. Juni 2011 eingeholt, das zu dem Ergebnis gelangt, die Unfallfolgen seien von der Beklagten unvollständig berücksichtigt worden. Frau Dr. E. habe schon in ihrem ursprünglichen Gutachten zu Recht eingeschätzt, dass die MdE bereits ab Rentenbeginn mit 100 v.H. zu bemessen gewesen sei. Beim Kläger bestehe eine motorisch und sensibel inkomplette Querschnittslähmung unterhalb L 1 mit zugehöriger Blasen- und Mastdarmlähmung und dadurch bedingt der Verlust der Gehfähigkeit und das Angewiesensein auf einen Rollstuhl.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 27. April 2012 unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2009 verurteilt, den Bescheid vom 28. April 2005 zurückzunehmen und dem Kläger Rente nach einer MdE von 100 v.H. zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar habe die Beklagte die MdE bei dem Kläger entsprechend der in den Standardwerken niedergelegten Bewertungsrichtlinien festgesetzt, wonach eine unvollständige Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit ausgeprägter Teillähmung beider Beine sowie Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung mit einer MdE von 60 bis 80 v.H. zu bemessen sei. Diese Standardwerke hätten jedoch weder Gesetzesrang noch seien sie Verordnungsrecht gleichgestellt. Sie seien praktisch vorweg genommene gutachterliche Feststellungen und dienten der Gleichbehandlung aller Versicherten. Gerade an letzterem Grundsatz sei aber die MdE im konkreten Fall zu bewerten. Sie verstoße zur Überzeugung eklatant gegen den hier von der Rechtsprechung immer wieder herangezogenen Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3 Grundgesetz (GG). Es reiche nämlich nicht aus, dass jeder Fall mit derselben Verletzung gleichbehandelt werde. Vielmehr müsse das Gefüge der MdE-Tabellen eine Gleichbehandlung aller Verletzten innerhalb des Systems garantieren. Dies sei an den Funktionseinschränkungen auszurichten. Unstreitig sei beim Verlust beider Oberschenkel einer MdE von 100 v.H. festzustellen. Würde man die klägerischen Unfallfolgen vergleichen mit den Unfallfolgen eines Doppeloberschenkelamputierten, der im ungünstigsten Fall keine prothetische Versorgung erhalten könne, so wären beide auf den Rollstuhl angewiesen und insoweit gleichgestellt. Schon aus diesem Grund allein sei die Bemessung einer Gesamt-MdE von 100 v.H. gerechtfertigt. Dabei bleibe noch völlig unberücksichtigt, dass bei den inkomplett Querschnittsgelähmten noch die erheblichen Funktionsstörungen von Seiten der Blasen- und Mastdarmentleerung hinzukämen.
Gegen dieses ihr am 5. Juli 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. Juli 2012 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Die Beklagte ist der Auffassung, das Sozialgericht habe nicht geprüft, ob die vorliegend heranzuziehenden MdE-Vergleichswerte als nur einfache oder qualifizierte Erfahrungswerte heranzuziehen seien. Auch der behauptete Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz könne nicht nachvollzogen werden. Es liege auf der Hand, dass doppelseitig Oberschenkelamputierte und inkomplett Querschnittsgelähmte mit Blasen- und Mastdarmlähmung im Erwerbsleben unabhängig von der in vielen Fällen als Gemeinsamkeit bestehenden Rollstuhlpflicht ganz unterschiedlichen Einschränkungen unterlägen und deshalb nicht verglichen werden könnten. Korrekt wäre eine Plausibilitätsprüfung der Systematik der Erfahrungswerte, die verschiedene veröffentlichte MdE-Tabellen zu demselben Verletzungsfolgezustand, also dem vergleichbaren Gesamtbild der Einschränkungen im Erwerbsleben nach inkompletter oder auch kompletter Querschnittslähmung, vergleiche. Solche Unterschiede der Tabellenwerte hätten sich aber nicht ergeben. Ferner wäre es richtig gewesen zu prüfen, wie hoch die Akzeptanz der Erfahrungswerte durch Versicherungsträger und Rechtsprechung sei. Dem System der MdE-Erfahrungswerte sei immanent, dass die schwerste Ausprägung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit dem Höchstwert belegt werde. Geringergradige Schädigungen seien nach der Schwere entsprechend abzustufen. Das Sozialgericht habe nicht geprüft, ob bei dem Kläger ein im Rahmen der MdE-Erfahrungswerte für Rückenmarkschädigungen mit einer dort mit einer MdE von 100 v.H. zu bewertenden Schädigung vergleichbar gravierendes Bild der Funktionseinschränkungen vorliege; auch habe es seine durch Vergleich mit den Amputationsverletzungen gewonnene Bewertung nicht insoweit agitiert oder gewichtet und schließlich auch nicht geprüft, ob unter Umständen innerhalb der Erfahrungswerte für die Wirbelsäulenmarkschädigungen eine unbegründete Inkonsistenz bestehe. Selbst wenn der vom Sozialgericht herangezogene Vergleichsmaßstab schlüssig wäre, hätte es prüfen müssen, ob nicht die MdE von 100 v.H. für doppelseitig Oberschenkelamputierte angesichts der vom Sozialgericht beschriebenen Fortschritte in Rehabilitation und Ausstattung mit orthopädischen Hilfsmitteln noch zeitgemäß und richtig ist.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für rechtmäßig. Mit der inkompletten Querschnittslähmung sei er im Vergleich zu den Oberschenkelamputierten wegen der zusätzlichen Blasen- und Mastdarmlähmung funktional schlechter gestellt. Zudem könne er wegen der bestehenden Dekubitusanfälligkeit nicht lange sitzen. Lediglich zur Entlastung der Wirbelsäule könne er sich an einen Tisch hochziehen. Dies mache er immer dann, wenn er nicht mehr sitzen könne und kurzzeitig die Wirbelsäule entlasten müsse. Zudem liege bei ihm wegen der extremen Neigung zum Dekubitus die Besorgnis eines künstlichen Darmausgangs vor. Insgesamt liege eine Leistungseinschränkung von 100 % vor, sein Leistungsvermögen sei mit Null anzusetzen. Im Übrigen werde auf die Begutachtungen durch Dr. K. und Frau Dr. E. Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten und in den medizinischen Unterlagen, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das angefochtene erstinstanzliche Urteil ist rechtmäßig. Der bei der Beklagten versicherte Kläger hat unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2009 Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 28. April 2005 und Gewährung einer Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. September 2002 nach einer MdE von 100 v.H. ab 25. März 2004.
In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vorliegen. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Bei dem Kläger liegen entgegen der in dem Bescheid vom 28. April 2005 durch die Beklagte getroffenen Feststellungen auch bereits seit Rentenbeginn am 25. März 2004 Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 26. September 2002 vor, die eine MdE von 100 v.H. bedingen.
Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE danach, in welchem Umfang die Unfallfolgen das körperliche und geistige Leistungsvermögen des Versicherten beeinträchtigen und seine Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindern. Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteile vom 29. November 1956, Az.: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149, vom 27. Juni 2000, Az.: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 7 und vom 2. Mai 2001, Az.: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Dabei stellt die Bewertung der durch die Arbeitsunfallfolgen bedingten MdE eine tatsächliche Feststellung gemäß § 128 Abs. 2 SGG dar, die das Berufungsgericht nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung zu treffen und zu begründen hat (BSGE 37, 177, 179; 41, 99, 100; ständige Rechtsprechung des Senats: bspw. Urteile vom 15. November 2000 – Az.: L 3 U 104/99, 28. September 2005, Az.: L 3 U 165/04 und vom 14. Juli 2009, Az.: L 3 U 191/07). Sie erfolgt in Anlehnung an § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) im Wege einer annäherungsweisen Schätzung. Ärztliche Sachverständigengutachten sind bei der Beantwortung dieser Frage meist unverzichtbar. Wie weit die Unfallfolgen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (BSG, Urteile vom 26. Juni 1985, Az.: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr. 23, vom 26. November 1987, Az.: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27 und vom 30. Juni 1998, Az.: B 2 U 41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 5). Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen nach einheitlichen Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung der MdE (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az.: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500 ff.).
Die vom Sozialgericht in dem von der Beklagten angefochtenen Urteil vorgenommene Feststellung einer MdE von 100 v.H. ist in Anwendung dieser Grundsätze im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Die Einschätzung der MdE erfolgt bei Querschnittslähmungen in Abhängigkeit von Lähmungsniveau und –ausmaß sowie den hieraus resultierenden Funktionsstörungen. Besonderen Einfluss auf die MdE hat dabei der Umfang der Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Ziff. 8.3.5.7, S. 474). Eine unvollständige Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit vollständigen Lähmungen von Körperstamm und Beinen sowie Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung bedingt nach Schönberger u.a., S. 475, eine MdE von 100 v. H., mit ausgeprägter Teillähmung beider Beine sowie Blasen- und Mastdarmstörung eine MdE von 60 bis 80 v.H. Nach Mehrhoff, Ekkernkamp, Wich, Unfallbegutachtung, 13. Auflage 2012 ist eine inkomplette Paraplegie bei nicht funktioneller Muskulatur mit Blasen- und Mastdarmstörung mit einer MdE von 80 bis 100 v.H., bei funktioneller Muskulatur mit Blasen- und Mastdarmstörung mit einer MdE von 60 bis 80 v.H. zu beurteilen (S. 162). Alleinige Blasen- und Mastdarmstörungen nach Wirbelbruch oder Bluterguss ins Rückenmark sind hiernach mit einer MdE vom 30 bis 100 v.H., Lähmungen beider Beine, der Blase und des Mastdarms nach einem Wirbelkörperbruch mit einer MdE von 100 v.H. zu bewerten.
Aus den Gutachten von Dr. E., Dr. G. und Dr. K. ist übereinstimmend zu entnehmen, dass bei dem Kläger diagnostisch eine inkomplette spastische Paraplegie unterhalb L1 vorliegt, die aber als funktionell motorisch komplett unterhalb L2 zu bezeichnen ist. Die insoweit beschriebene Gehfähigkeit resultiert nur aus künstlichen, gelenkübergreifenden Stützschalen unter Zuhilfenahme von zwei Gehstützen und ist nach übereinstimmenden Aussagen der Sachverständigen ausschließlich zu therapeutischen Zwecken nutzbar. Dies zeigt sich zusätzlich auch darin, dass es alleine beim Umsetzen aus oder in den Rollstuhl bereits mehrfach zu Stürzen mit Frakturverletzungen gekommen ist. Hinzu kommt, dass alle Sachverständigen - insbesondere im Bereich des linken Beines - bei Bewegungen oder Anschlagen der Beine eine massive einschießende Spastik festgestellt haben, außerdem im Bereich der Wadenmuskulatur einen sehr hohen Tonus, der dazu führt, dass beide Füße ohne äußere Manipulation etwa eine Senkung von 25 Grad einnehmen. Zur Fortbewegung ist der Kläger letztlich ausschließlich auf den Rollstuhl angewiesen. Zu der damit beim Kläger vorliegenden nicht funktionellen Muskulatur in beiden Beinen kommen nicht nur "Blasen- und Mastdarmstörungen", sondern tritt eine vollständige Blasen- und Mastdarmlähmung hinzu. Dies führt im Hinblick auf die aufgehobene Blasenfunktion zur Notwendigkeit der Blasenentleerung im Wege einer ca. sechsmal pro Tag durchzuführenden Selbstkatheterisierung; zudem kommt es zu rezidivierenden Harnwegsinfekten, im Rahmen derer auch Inkontinenz auftritt. Daneben besteht die vollständige Lähmung des Mastdarms. Zur Stuhlentleerung nimmt der Kläger jeden zweiten Tag Abführmittel ein, trotzdem gestaltet sich das Abführen problematisch und nicht regelmäßig. Es sind alle zwei Tage aufwendige Darmentleerungssitzungen von bis zu sechs Stunden Dauer erforderlich; ein- bis zweimal monatlich kommt es außerdem zu unkontrollierten Darmentleerungen.
Ausgehend von diesen Beeinträchtigungen ist bei dem Kläger eine Paraplegie nicht nur mit einer ausgeprägten Teillähmung der Beine, sondern mit nicht funktioneller Muskulatur und damit funktionell vollständiger Lähmung der Beine festzustellen. Hierzu treten Blasen- und Mastdarmstörungen im Ausmaß der vollständigen Lähmung beider Organe mit den beschriebenen ganz erheblichen Beeinträchtigungen. In Anwendung der obengenannten Erfahrungswerte sowohl nach Schönberger/Mehrtens/Valentin als auch nach Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich erfüllt der Kläger mit funktionell vollständiger Lähmung der Beine sowie vollständiger Blasen- und Mastdarmlähmung die Voraussetzungen für die Feststellung einer MdE von 100 v.H. Dabei ist außerdem das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Sexualfunktion mit Wegfall der Zeugungsfähigkeit noch unberücksichtigt.
Das entsprechende Ausmaß an Funktionsstörungen liegt ausweislich der aktenkundigen Sachverständigengutachten, beginnend mit dem Gutachten der Neurotraumatologin Dr. E. vom 20. Januar 2005, auch bereits seit Rentenbeginn am 25. März 2004 vor, sodass der insoweit abweichende bestandskräftige Bescheid 28. April 2005 zurückzunehmen ist. Da die Rücknahme auf den Antrag des Klägers vom 17. Oktober 2007 erfolgt, ist auch die höhere Rentenzahlung ab Rentenbeginn am 25. März 2004 zu leisten (§ 44 Abs. S. 1 und 3 SGB X).
Nach alledem konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund einer unfallbedingten Querschnittslähmung im Verfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X).
Der 1972 geborene Kläger erlitt am 26. September 2002 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall, als er auf dem Weg zur Arbeit mit seinem Fahrrad von einem Auto erfasst wurde. Hierdurch zog er sich eine LWK-1-Fraktur mit motorisch inkompletter Querschnittslähmung mit Blasen- und Mastdarmlähmung zu. Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte im Jahr 2005 nach Durchführung der Heilbehandlung Rentengutachten zur Bewertung der MdE ein: Der PD Dr. D., Marienhospital Herne, kam in seinem fachurologischen Zusatzgutachten vom 31. Januar 2005 zu dem Ergebnis, allein auf seinem Fachgebiet bestehe unfallbedingt wegen einer neurogenen Blasenfunktionsstörung mit der Notwendigkeit eines intermittierenden Selbstkatheterismus und rezidivierend auftretenden symptomatischen Harnwegsinfekten eine MdE von 20 v.H. Die Neurotraumatologin Dr. E., Berufsgenossenschaftliche Klinik Bergmannsheil in Bochum, diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 20. Januar 2005 u. a. eine "als funktionell komplett zu bezeichnende, nach ASIA definitionsgemäß ebenfalls komplette motorische Querschnittslähmung sub L 1, sensibel sub L 3 nach LWK 1 Fraktur" und eine "resultierende Blasen- und Mastdarmlähmung mit rezidivierender Inkontinenz bzw. Motilitätsproblematik. Notwendigkeit des regelmäßigen Einmalkatheterismus und des fremdunterstützten Abführens mittels rektaler Ausräumung". Allein auf ihrem Fachgebiet schätzte sie die MdE auf 80 v.H.; die Gesamt-MdE auf urologischem und neurotraumatologischem Fachgebiet bewertete sie mit 100 v.H. Diese Gutachten leitete die Beklagte ihrem Beratungsarzt Dr. F. zur Stellungnahme zu. Dieser vertrat die Ansicht, dass die Feststellung einer Gesamt-MdE von 80 v.H. gerechtfertigt sei. Mit Bescheid vom 28. April 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger deshalb Rente nach einer MdE von 80 v.H. mit einem Rentenbeginn am 25. März 2004; dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Unter dem 17. Oktober 2007 stellte der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten den Antrag, ihm wegen der Folgen des Unfalls Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 100 v.H. zu bewilligen. Die Beklagte holte daraufhin ein zweites Rentengutachten vom 11. Februar 2008 bei dem Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie PD Dr. G., Chefarzt des Zentrums für Rückenmarkverletzte der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, mit einem neuro-urologischen Zusatzgutachten des Dr. H., Chefarzt der Klinik für Neuro-Urologie der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, vom 11. August 2008 ein. Dr. H. stellte auf seinem Fachgebiet folgende Unfallfolgen fest: "kombinierte Schädigung des oberen und unteren motorischen Neurons mit überwiegender Schädigung des unteren motorischen Neurons. Notwendigkeit der Blasenentleerung durch intermittierenden Katheterismus. Eingeschränkte Blasensensibilität. Fehlende Mastdarmsensibilität. Unmöglichkeit der koordinierten und willkürlichen Darmentleerung. Erektile Dysfunktion. Ausbleibende Ejakulation." Allein auf neuro-urologischem Fachgebiet sei eine MdE von 40 v. H. festzustellen. Dr. G. kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, ohne Berücksichtigung des urologischen Fachgebiets sei eine MdE von 80 v.H. festzustellen. Er stellte die folgenden Unfallfolgen fest:
• Mittlerweile knöchern fest konsolidierte LWK 1-Fraktur mit einliegendem Osteosynthesematerial von BWK 12 bis LWK 2. Dadurch Ausschaltung zweier Bewegungssegmente der Wirbelsäule. Narben am rechten Rippenbogen thorakolumbal und rechter dorsaler Beckenkamm
• Motorisch inkomplette spastische Paraplegie unterhalb L 1, funktionell motorisch komplett unterhalb L 2, sensibel inkomplett unterhalb L 3. Der Verletzte ist zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Gehen mit Unterschenkelschienen ist nur zu therapeutischen Zwecken möglich. Es besteht erhebliche Spastik der unteren Extremitäten.
• Blasen- und Mastdarmlähmung mit der Notwendigkeit des intermittierenden Selbstkatheterismus der Harnblase sowie dem Problem stundenlanger Abführvorgänge trotz regelmäßiger Zuhilfenahme von Abführmitteln.
• Nicht dislozierte bekanntermaßen knöchern fest verheilte Sitzbeinfraktur links ohne verbleibende klinische Problematik.
• Nach Angaben des Verletzten nahezu vollständig erloschene Vita sexualis (lediglich unter Cialis besteht eine mäßige Erektion, keine Ejakulation).
Außerdem bestünden als sekundäre Unfallfolgen:
• Heterotope Ossifikation am rechten lateralen Oberschenkelschaft, durch die es beim Gehen zu einem Schnappen de Sehne des M. tensor fasciae latae kommt.
• Narbe rechter Innenknöchel nach trimalleoläre Sprunggelenksfraktur (Metall in situ). Die Fraktur entstand beim Übersetzen Pkw/Rollstuhl.
• Narben am Gesäß nach mehreren Dekubitusoperationen.
• Letztlich ist auch die aktuelle Großzehengrundgelenkfraktur als sekundäre Unfallfolge anzusehen, da diese beim Rollstuhltransfer erlitten wurde.
Auf ergänzende Nachfrage der Beklagten führte der Sachverständige Dr. G. unter dem 17. September 2009 aus, dass es durch die Beurteilung mit einer MdE von 40 v.H. in dem neuro-urologischen Gutachten nicht zu einer Änderung der Gesamt-MdE von 80 v.H. komme.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 28. April 2005 ab und stellte ausdrücklich fest, dass die Rente nicht zu erhöhen sei. Den hiergegen am 10. November 2008 eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2009 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 26. Februar 2009 beim Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) Klage erhoben.
Zur Begründung hat er ein für das Landgericht Limburg erstattetes orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten des Prof. Dr. J. vom 28. August 2007 vorgelegt. Hierin wird zusammenfassend ausgeführt, bei dem Kläger bestehe eine inkomplette Querschnittslähmung unterhalb des ersten Lendenwirbels. Konsekutiv resultiere eine komplette Darm- und Blasenlähmung. Aufgrund des vollständigen Kraftverlustes der Fußheber- und -senker sei der Kläger nur mit Schienen auf ganz kurzen Strecken gehfähig und für kurze Zeit stehfähig. Er sei dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Die insgesamt resultierenden Einschränkungen seien mit einer vollständigen Querschnittslähmung zu vergleichen.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein unfallchirurgisches Gutachten des Dr. K. vom 9. Juni 2011 eingeholt, das zu dem Ergebnis gelangt, die Unfallfolgen seien von der Beklagten unvollständig berücksichtigt worden. Frau Dr. E. habe schon in ihrem ursprünglichen Gutachten zu Recht eingeschätzt, dass die MdE bereits ab Rentenbeginn mit 100 v.H. zu bemessen gewesen sei. Beim Kläger bestehe eine motorisch und sensibel inkomplette Querschnittslähmung unterhalb L 1 mit zugehöriger Blasen- und Mastdarmlähmung und dadurch bedingt der Verlust der Gehfähigkeit und das Angewiesensein auf einen Rollstuhl.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 27. April 2012 unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2009 verurteilt, den Bescheid vom 28. April 2005 zurückzunehmen und dem Kläger Rente nach einer MdE von 100 v.H. zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar habe die Beklagte die MdE bei dem Kläger entsprechend der in den Standardwerken niedergelegten Bewertungsrichtlinien festgesetzt, wonach eine unvollständige Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit ausgeprägter Teillähmung beider Beine sowie Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung mit einer MdE von 60 bis 80 v.H. zu bemessen sei. Diese Standardwerke hätten jedoch weder Gesetzesrang noch seien sie Verordnungsrecht gleichgestellt. Sie seien praktisch vorweg genommene gutachterliche Feststellungen und dienten der Gleichbehandlung aller Versicherten. Gerade an letzterem Grundsatz sei aber die MdE im konkreten Fall zu bewerten. Sie verstoße zur Überzeugung eklatant gegen den hier von der Rechtsprechung immer wieder herangezogenen Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3 Grundgesetz (GG). Es reiche nämlich nicht aus, dass jeder Fall mit derselben Verletzung gleichbehandelt werde. Vielmehr müsse das Gefüge der MdE-Tabellen eine Gleichbehandlung aller Verletzten innerhalb des Systems garantieren. Dies sei an den Funktionseinschränkungen auszurichten. Unstreitig sei beim Verlust beider Oberschenkel einer MdE von 100 v.H. festzustellen. Würde man die klägerischen Unfallfolgen vergleichen mit den Unfallfolgen eines Doppeloberschenkelamputierten, der im ungünstigsten Fall keine prothetische Versorgung erhalten könne, so wären beide auf den Rollstuhl angewiesen und insoweit gleichgestellt. Schon aus diesem Grund allein sei die Bemessung einer Gesamt-MdE von 100 v.H. gerechtfertigt. Dabei bleibe noch völlig unberücksichtigt, dass bei den inkomplett Querschnittsgelähmten noch die erheblichen Funktionsstörungen von Seiten der Blasen- und Mastdarmentleerung hinzukämen.
Gegen dieses ihr am 5. Juli 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. Juli 2012 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Die Beklagte ist der Auffassung, das Sozialgericht habe nicht geprüft, ob die vorliegend heranzuziehenden MdE-Vergleichswerte als nur einfache oder qualifizierte Erfahrungswerte heranzuziehen seien. Auch der behauptete Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz könne nicht nachvollzogen werden. Es liege auf der Hand, dass doppelseitig Oberschenkelamputierte und inkomplett Querschnittsgelähmte mit Blasen- und Mastdarmlähmung im Erwerbsleben unabhängig von der in vielen Fällen als Gemeinsamkeit bestehenden Rollstuhlpflicht ganz unterschiedlichen Einschränkungen unterlägen und deshalb nicht verglichen werden könnten. Korrekt wäre eine Plausibilitätsprüfung der Systematik der Erfahrungswerte, die verschiedene veröffentlichte MdE-Tabellen zu demselben Verletzungsfolgezustand, also dem vergleichbaren Gesamtbild der Einschränkungen im Erwerbsleben nach inkompletter oder auch kompletter Querschnittslähmung, vergleiche. Solche Unterschiede der Tabellenwerte hätten sich aber nicht ergeben. Ferner wäre es richtig gewesen zu prüfen, wie hoch die Akzeptanz der Erfahrungswerte durch Versicherungsträger und Rechtsprechung sei. Dem System der MdE-Erfahrungswerte sei immanent, dass die schwerste Ausprägung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit dem Höchstwert belegt werde. Geringergradige Schädigungen seien nach der Schwere entsprechend abzustufen. Das Sozialgericht habe nicht geprüft, ob bei dem Kläger ein im Rahmen der MdE-Erfahrungswerte für Rückenmarkschädigungen mit einer dort mit einer MdE von 100 v.H. zu bewertenden Schädigung vergleichbar gravierendes Bild der Funktionseinschränkungen vorliege; auch habe es seine durch Vergleich mit den Amputationsverletzungen gewonnene Bewertung nicht insoweit agitiert oder gewichtet und schließlich auch nicht geprüft, ob unter Umständen innerhalb der Erfahrungswerte für die Wirbelsäulenmarkschädigungen eine unbegründete Inkonsistenz bestehe. Selbst wenn der vom Sozialgericht herangezogene Vergleichsmaßstab schlüssig wäre, hätte es prüfen müssen, ob nicht die MdE von 100 v.H. für doppelseitig Oberschenkelamputierte angesichts der vom Sozialgericht beschriebenen Fortschritte in Rehabilitation und Ausstattung mit orthopädischen Hilfsmitteln noch zeitgemäß und richtig ist.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für rechtmäßig. Mit der inkompletten Querschnittslähmung sei er im Vergleich zu den Oberschenkelamputierten wegen der zusätzlichen Blasen- und Mastdarmlähmung funktional schlechter gestellt. Zudem könne er wegen der bestehenden Dekubitusanfälligkeit nicht lange sitzen. Lediglich zur Entlastung der Wirbelsäule könne er sich an einen Tisch hochziehen. Dies mache er immer dann, wenn er nicht mehr sitzen könne und kurzzeitig die Wirbelsäule entlasten müsse. Zudem liege bei ihm wegen der extremen Neigung zum Dekubitus die Besorgnis eines künstlichen Darmausgangs vor. Insgesamt liege eine Leistungseinschränkung von 100 % vor, sein Leistungsvermögen sei mit Null anzusetzen. Im Übrigen werde auf die Begutachtungen durch Dr. K. und Frau Dr. E. Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten und in den medizinischen Unterlagen, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das angefochtene erstinstanzliche Urteil ist rechtmäßig. Der bei der Beklagten versicherte Kläger hat unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2009 Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 28. April 2005 und Gewährung einer Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. September 2002 nach einer MdE von 100 v.H. ab 25. März 2004.
In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vorliegen. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Bei dem Kläger liegen entgegen der in dem Bescheid vom 28. April 2005 durch die Beklagte getroffenen Feststellungen auch bereits seit Rentenbeginn am 25. März 2004 Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 26. September 2002 vor, die eine MdE von 100 v.H. bedingen.
Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE danach, in welchem Umfang die Unfallfolgen das körperliche und geistige Leistungsvermögen des Versicherten beeinträchtigen und seine Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindern. Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteile vom 29. November 1956, Az.: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149, vom 27. Juni 2000, Az.: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 7 und vom 2. Mai 2001, Az.: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Dabei stellt die Bewertung der durch die Arbeitsunfallfolgen bedingten MdE eine tatsächliche Feststellung gemäß § 128 Abs. 2 SGG dar, die das Berufungsgericht nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung zu treffen und zu begründen hat (BSGE 37, 177, 179; 41, 99, 100; ständige Rechtsprechung des Senats: bspw. Urteile vom 15. November 2000 – Az.: L 3 U 104/99, 28. September 2005, Az.: L 3 U 165/04 und vom 14. Juli 2009, Az.: L 3 U 191/07). Sie erfolgt in Anlehnung an § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) im Wege einer annäherungsweisen Schätzung. Ärztliche Sachverständigengutachten sind bei der Beantwortung dieser Frage meist unverzichtbar. Wie weit die Unfallfolgen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (BSG, Urteile vom 26. Juni 1985, Az.: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr. 23, vom 26. November 1987, Az.: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27 und vom 30. Juni 1998, Az.: B 2 U 41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 5). Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen nach einheitlichen Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung der MdE (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az.: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500 ff.).
Die vom Sozialgericht in dem von der Beklagten angefochtenen Urteil vorgenommene Feststellung einer MdE von 100 v.H. ist in Anwendung dieser Grundsätze im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Die Einschätzung der MdE erfolgt bei Querschnittslähmungen in Abhängigkeit von Lähmungsniveau und –ausmaß sowie den hieraus resultierenden Funktionsstörungen. Besonderen Einfluss auf die MdE hat dabei der Umfang der Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Ziff. 8.3.5.7, S. 474). Eine unvollständige Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit vollständigen Lähmungen von Körperstamm und Beinen sowie Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung bedingt nach Schönberger u.a., S. 475, eine MdE von 100 v. H., mit ausgeprägter Teillähmung beider Beine sowie Blasen- und Mastdarmstörung eine MdE von 60 bis 80 v.H. Nach Mehrhoff, Ekkernkamp, Wich, Unfallbegutachtung, 13. Auflage 2012 ist eine inkomplette Paraplegie bei nicht funktioneller Muskulatur mit Blasen- und Mastdarmstörung mit einer MdE von 80 bis 100 v.H., bei funktioneller Muskulatur mit Blasen- und Mastdarmstörung mit einer MdE von 60 bis 80 v.H. zu beurteilen (S. 162). Alleinige Blasen- und Mastdarmstörungen nach Wirbelbruch oder Bluterguss ins Rückenmark sind hiernach mit einer MdE vom 30 bis 100 v.H., Lähmungen beider Beine, der Blase und des Mastdarms nach einem Wirbelkörperbruch mit einer MdE von 100 v.H. zu bewerten.
Aus den Gutachten von Dr. E., Dr. G. und Dr. K. ist übereinstimmend zu entnehmen, dass bei dem Kläger diagnostisch eine inkomplette spastische Paraplegie unterhalb L1 vorliegt, die aber als funktionell motorisch komplett unterhalb L2 zu bezeichnen ist. Die insoweit beschriebene Gehfähigkeit resultiert nur aus künstlichen, gelenkübergreifenden Stützschalen unter Zuhilfenahme von zwei Gehstützen und ist nach übereinstimmenden Aussagen der Sachverständigen ausschließlich zu therapeutischen Zwecken nutzbar. Dies zeigt sich zusätzlich auch darin, dass es alleine beim Umsetzen aus oder in den Rollstuhl bereits mehrfach zu Stürzen mit Frakturverletzungen gekommen ist. Hinzu kommt, dass alle Sachverständigen - insbesondere im Bereich des linken Beines - bei Bewegungen oder Anschlagen der Beine eine massive einschießende Spastik festgestellt haben, außerdem im Bereich der Wadenmuskulatur einen sehr hohen Tonus, der dazu führt, dass beide Füße ohne äußere Manipulation etwa eine Senkung von 25 Grad einnehmen. Zur Fortbewegung ist der Kläger letztlich ausschließlich auf den Rollstuhl angewiesen. Zu der damit beim Kläger vorliegenden nicht funktionellen Muskulatur in beiden Beinen kommen nicht nur "Blasen- und Mastdarmstörungen", sondern tritt eine vollständige Blasen- und Mastdarmlähmung hinzu. Dies führt im Hinblick auf die aufgehobene Blasenfunktion zur Notwendigkeit der Blasenentleerung im Wege einer ca. sechsmal pro Tag durchzuführenden Selbstkatheterisierung; zudem kommt es zu rezidivierenden Harnwegsinfekten, im Rahmen derer auch Inkontinenz auftritt. Daneben besteht die vollständige Lähmung des Mastdarms. Zur Stuhlentleerung nimmt der Kläger jeden zweiten Tag Abführmittel ein, trotzdem gestaltet sich das Abführen problematisch und nicht regelmäßig. Es sind alle zwei Tage aufwendige Darmentleerungssitzungen von bis zu sechs Stunden Dauer erforderlich; ein- bis zweimal monatlich kommt es außerdem zu unkontrollierten Darmentleerungen.
Ausgehend von diesen Beeinträchtigungen ist bei dem Kläger eine Paraplegie nicht nur mit einer ausgeprägten Teillähmung der Beine, sondern mit nicht funktioneller Muskulatur und damit funktionell vollständiger Lähmung der Beine festzustellen. Hierzu treten Blasen- und Mastdarmstörungen im Ausmaß der vollständigen Lähmung beider Organe mit den beschriebenen ganz erheblichen Beeinträchtigungen. In Anwendung der obengenannten Erfahrungswerte sowohl nach Schönberger/Mehrtens/Valentin als auch nach Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich erfüllt der Kläger mit funktionell vollständiger Lähmung der Beine sowie vollständiger Blasen- und Mastdarmlähmung die Voraussetzungen für die Feststellung einer MdE von 100 v.H. Dabei ist außerdem das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Sexualfunktion mit Wegfall der Zeugungsfähigkeit noch unberücksichtigt.
Das entsprechende Ausmaß an Funktionsstörungen liegt ausweislich der aktenkundigen Sachverständigengutachten, beginnend mit dem Gutachten der Neurotraumatologin Dr. E. vom 20. Januar 2005, auch bereits seit Rentenbeginn am 25. März 2004 vor, sodass der insoweit abweichende bestandskräftige Bescheid 28. April 2005 zurückzunehmen ist. Da die Rücknahme auf den Antrag des Klägers vom 17. Oktober 2007 erfolgt, ist auch die höhere Rentenzahlung ab Rentenbeginn am 25. März 2004 zu leisten (§ 44 Abs. S. 1 und 3 SGB X).
Nach alledem konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
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