Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 18 SB 460/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 verpflichtet, bei der Klägerin für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 einen GdB von 50 und für die Zeit danach einen GdB von 70 festzustellen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitgegenständlich ist die Bewertung des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin aufgrund einer Verschlechterung einer Funktionsstörung der Augen.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 22.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2013 einen GdB von 30 fest. Dem lagen eine versorgungsärztlich letztlich mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Sehstörung und deren mit einem weiteren Einzel-GdB von 20 bewertete Auswirkungen (eingeschränktes funktionales Sehen – individueller Umgang mit dem Sehvermögen in alltäglichen Situationen, im schulischen Bereich, psychische Beeinträchtigungen, Hilfsmittelversorgung und sonderpädagogische Förderung) zugrunde. Ein anschließendes Klageverfahren vor dem Sozialgericht Aachen (Az. S 3 285/13) auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines höheren GdB verlief erfolglos. In der mündlichen Verhandlung am 17.12.2014 wurde Klage auf Hinweis des seinerzeitigen Vorsitzenden der 3. Kammer zurückgenommen.
Mit Änderungsantrag vom 16.09.2015 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB. Zur Begründung führte sie ihre Sehbehinderung mit der Diagnose Okulokutaner Albinismus, einer Akkomodationsschwäche, hohen Einschränkungen des funktionalen Sehens, hoher Blendempfindlichkeit und einem Fernvisus von 0,2/0,25 sowie einem Nahvisus vom 0,006/0,1 an. Beigefügt wurde ein Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. (aus 07/2015).
Auf versorgungsärztliche Einschätzung der Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 40 und visueller Wahrnehmungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 stellte die Beklagte unter Aufhebung ihrer Feststellung vom 28.01.2013 mit Bescheid vom 17.11.2015 ab Antragstellung einen GdB von 40 fest.
Hiergegen legte die Klägerin am 02.12.2015 Widerspruch ein. Durch ihre Bevollmächtigten ließ sie zur Begründung ausführen, allein der sich aus dem Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. ergebende Fernvisus entspreche bereits einem GdB von 40. Unter Berücksichtigung der weiteren im Änderungsantrag dargestellten Beeinträchtigungen sei ein GdB von mindestens 70 sachgerecht, da die Einschränkungen tatsächlich den Nahvisuswerten entsprächen.
Nach weiterer versorgungsärztlicher Stellungnahme wies die Bezirksregierung N. den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten am 23.05.2016 unter Bezugnahme auf die Widerspruchsbegründung Klage erhoben und einen Arztbrief des Universitätsklinikums T. (aus 11/2016) vorgelegt.
Das Gericht hat Befundberichte des Kinderarztes Dr. L., u. a. mit einem weiteren Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. (aus 04/2014) und einen Arztbrief des Prof. Dr. L. (Klinik für Augenheilkunde der Uniklinik T. aus 09/2016) eingeholt.
Weiter hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Augenarztes Prof. Dr. Q. (Universitäts- Augenklinik N.) vom 01.03.2017. Der Sachverständige hat einen organisch unauffälligen Befund erhoben. Selbst die Diagnose eines Okulokutanen Albinismus lasse sich nicht erhärten. Auch wenn man eine Minimalvariante des Albinismus annähme, ließe sich das Ausmaß der angegebenen Einschränkungen mit einem Fernvisus von 0,125 bds. und eines Nahvisus von 0,05/0,06 in der gutachterlichen Untersuchung, zudem massiver Gesichtsfeldeinschränkungen, hierdurch nicht erklären. Nach den aktenkundigen Fernvisuswerten betrage der GdB bis zum 03.09.2016 40, bis zum 12.09.2016 50 und anschließend 70. Ophthalmologisch habe zu keinem Zeitpunkt ein GdB bestanden. Es bestehe der Verdacht auf eine über Jahre verfestigte psychogene Sehstörung. Es sei davon auszugehen, dass ein hoher GdB bestehe.
Die Klägerin hat sich daraufhin in der Abteilung für Psychiatrie II in den LVR-Kliniken E. vorgestellt und einen Arztbrief vom 08.06.2017 vorgelegt. Nach fachärztlich eingehender Exploration ergäben sich hiernach keine Hinweise für eine psychiatrische Ursache der visuellen Wahrnehmungs- und Gesichtsfeldstörungen.
Nach dem zunächst die Feststellung eines GdB von 70 ab Änderungsantrag begehrt worden ist, ist die Bevollmächtige der Klägerin zuletzt der Ansicht, trotz fehlenden morphologischen Korrelates sei der GdB so festzustellen, wie der Sachverständige dies anhand der Fernvisuswerte dargestellt habe.
Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt daher,
die Beklagte unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 zu verpflichten, bei der Klägerin für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 einen GdB von 50 und für die Zeit danach einen GdB von 70 festzustellen.
Die Vertreterin der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, es sei nicht möglich, einen höheren GdB als 40 festzustellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verfahrensakte zum Az. S 3 285/13 sowie die Akte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGG) ist i. S. des Klageantrages begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 und eines GdB von 70 für die Zeit danach.
A. Da die Beklagte bereits mit Bescheid vom 22.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2013 einen GdB von 30 festgestellt und damit über den GdB der Klägerin entschieden hat, richten sich die Voraussetzungen für die begehrte Neufeststellung mit Antrag vom 16.09.2015 grds. zunächst nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) (vgl. Goebel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 69 SGB IX, Rn. 34). Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist dann anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung oder Verschlechterung eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamtbehinderungsgrades um wenigstens 10 ergibt (BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 6/12 R –, SozR 4-1300 § 48 Nr 26, Rn. 30; BSG, Urteil vom 19. September 2000 – B 9 SB 3/00 R –, BSGE 87, 126-131, SozR 3-1300 § 45 Nr 43, SozR 3-1300 § 48 Nr 74, SozR 3-3870 § 4 Nr 27; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05. Januar 2011 – L 6 (7) SB 135/06 –, Rn. 20, juris).
Mit dem hier zur Überprüfung gestellten Änderungsbescheid vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 hat die Beklagte die Bestandkraft ihres Bescheides vom 22.01.2013 bereits beseitigt, indem sie den Bescheid vom 28.01.2013 in der Annahme einer wesentlichen Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin aufgehoben hat, um nunmehr statt eines GdB von 30 einen GdB von 40 festzustellen. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.01.2011- L 6 (7) SB 135/06 -, Rn. 21, juris unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 19.09.2000, - B 9 SB 3/00 R, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2002 – L 6 SB 142/00 –, Rn. 17, juris; SG Aachen, Urteil vom 01. März 2016 – S 12 SB 266/15 –, Rn. 29, juris). Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X sind deshalb inter omnes festgestellt und der gerichtlichen Prüfung entzogen.
Eine weitere wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X wird auch nicht deshalb Voraussetzung für eine Verpflichtung der Beklagten i. S. d. Klagebegehrens, weil die Klägerseite in ihrem zuletzt gestellten Klageantrag keine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt, sondern (nur noch) deren Änderung, die angefochtene Entscheidung also als ursprünglich rechtmäßig akzeptiert. Denn der Bescheid vom 17.11.2015 bleibt insoweit angefochten, wie er als Dauerverwaltungsakt einen zukunftsoffenen Geltungsanspruch hat. Innerhalb der Prüfung eines kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehrens (eines nicht bestandskräftigen) Dauerverwaltungsaktes bedarf es aber der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X nicht. Die gerichtliche Nachprüfung richtet sich, bezogen auf die tatsächlichen Verhältnisse, in Fällen einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die Feststellung des GdB betreffend – wie grundsätzlich - nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22. September 2016 – L 6 SB 5073/15 –, Rn. 43, juris).
B. Maßgebliche Bestimmung für die Feststellung des GdB ist § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Nach Abs. 1 Satz 1 der genannten Bestimmung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Vorschrift knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (näher s. unten C. II. 2. a)). Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14.01.2015 gültigen Fassung galten für den GdB die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) - nach dem sich die Beurteilung des Schweregrades, dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS), nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen richtet - und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Auf Rechtsgrundlage der Vorgängervorschrift des § 30 Abs. 16, dem Abs. 17 des § 30 BVG in der bis zum 30.06.2011 gültigen Fassung, wurde mit Wirkung zum 01.09.2009 die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und des § 35 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 08.12.2008 erlassen, die die bis zu diesem Zeitpunkt für die Bewertung des Grads der Behinderung maßgeblichen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2008 (AHP 2008), ablösten. Den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen AHP kam zwar keine Rechtsnormqualität zu, es handelte sich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aber um antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Wirkung (BSG, Urteil vom 30. September 2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr. 9; BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205). Da insbesondere die maßgebliche Anlage 2 zu § 2 VersMedV, die die so genannten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) beinhaltet, im Wesentlichen den AHP entspricht (vgl. die Begründung BR-Drucks. 767/08, S. 3 f.), waren mit dem Wechsel keine erheblichen inhaltlichen Änderungen verbunden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.12.2009 - L 11 SB 352/08, juris). Im Unterschied zu den AHP handelt es sich bei der VersMedV aber um eine Rechtsverordnung, d.h. eine für Verwaltungen und Gerichte verbindliche untergesetzliche Rechtsnorm, die im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen ist (BSG, Urteil vom 30.September 2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R –, Rn. 29, juris) (s. unten, C. II. 2.).
Zum 15.01.2016 hat der Gesetzgeber in § 70 Abs. 2 SGB IX das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Solange noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten indes gemäß § 159 Abs. 7 SGB IX weiterhin die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend (vgl. hierzu BT-Drucksache 18/3190, S. 5).
Damit wollte der Gesetzgeber angenommenen Zweifeln inwieweit die vormalige Ermächtigungsgrundlage für die Versorgungsmedizin-Verordnung in § 30 Absatz 16 des Bundesversorgungsgesetzes auch Regelungen abdecke, die sich auf die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung beziehen, den Boden entziehen (BT-Drs. 18/3190, S. 5). Damit geht indes nicht einher, dass die Regelungen der VersMedV nunmehr von einer Rechtsverordnung zu einem (einfachen) Parlamentsgesetz aufsteigen (vgl. SG Aachen, Urteil vom 20. Dezember 2016 – S 12 SB 660/16 –, Rn. 15, juris; a. A. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21. April 2015 – L 6 SB 3121/14 –, Rn. 27, juris; Dau, jurisPR-SozR 10/2016 Anm. 5). Denn - jedenfalls in Bezug auf die Maßstäbe zur Beurteilung des GdB (weitergehend hingegen ggfs. für die Kriterien für die Bewertung von Hilflosigkeit und die Voraussetzung für die Vergabe von Merkzeichen; hierzu Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 09. Mai 2011 – L 8 SB 2294/10, juris; Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) – die Anordnung der Geltung der VersMedV in § 159 Abs. 7 SGB IX gleicht der vormals in § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX enthaltenen ("gelten entsprechend"), der das Bundessozialgericht nicht die Bedeutung der Inkorporation der VersMedV in das SGB IX und damit in die Ebene des Parlamentsgesetzes beigemessen hat (vgl. nochmals BSG, Urteil vom 30.September 2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R –, Rn. 29, juris). Vielmehr wird – wie sich aus der Gesetzesbegründung (a.a.O.) unzweifelhaft ergibt - klargestellt, dass die Rechtsverordnung VersMedV (auch) für die Beurteilung des GdB im Rahmen dessen Feststellung von der Ermächtigung eines parlamentarischen Gesetzes (vgl. Art. 80 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG)) gedeckt ist (bis das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung in § 70 Abs. 2 SGB IX Gebrauch gemacht hat). Selbst wenn man annähme, es handele sich nicht um eine Klarstellung, sondern um eine nachträgliche Geltungsanordnung wäre nicht nachvollziehbar, weshalb der klare Wille des Gesetzgebers, den VersMedV als Rechtsverordnung Geltung zu verschaffen unbeachtet bleiben müsse. Tatsächlich führt nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (soweit das Verfahren nach Art 76 ff GG und die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG beachtet werden) nicht einmal die inhaltliche Änderung einer Rechtsverordnung durch den Gesetzgeber dazu, dass diese nunmehr auf die Ebene des Parlamentsgesetzes gehoben würde (BVerfG, Beschluss vom 13. September 2005 – 2 BvF 2/03 –, BVerfGE 114, 196-257; ablehnend Brosius-Gersdorf, ZG 2007, 305 ff.). Erst recht kann es dem Gesetzgeber nicht verwehrt bleiben ggfs. eine nachträgliche Ermächtigungsgrundlage für eine Rechtsverordnung zu schaffen. Auch der Wortlaut des § 159 Abs. 7 SGB IX steht einer Genehmigung des Geltungsanspruches der VersMedV für das Schwerbehindertenrecht nicht im Wege.
Der hier streitigen Bemessung des GdB ist damit die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Teil A, S. 17 ff.) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil A, S. 33) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A, S. 20) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a, S. 33).
Die Bemessung des GdB folgt dabei nicht starren Beweisregeln, sondern ist aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der Versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 10/06 R -, Rn. 28, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. Juni 2012 – L 13 SB 127/1 -,Rn. 42, juris unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11. März 1998 - B 9 SB 9/97 R -, Rn. 10, juris m.w.N.).
C. Die Klägerin leidet unstreitig an einer Funktionsstörung der Augen, die letztlich unklarer Genese bleibt, für die aber der GdB dem Klageantrag entsprechend festzustellen ist.
I. Gemäß Teil B Ziff. 4 Ab. 1,2 VMG umfasst die Sehbehinderung alle Störungen des Sehvermögens. Für die Beurteilung ist in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend; daneben sind u.a. Ausfälle des Gesichtsfeldes und des Blickfeldes zu berücksichtigen. Die Sehschärfe ist grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) nach DIN 58220 (hierzu: Wesemann/ Schiefer/ Bach, Ophthalmologe 201821-826) zu bestimmen; Abweichungen hiervon sind nur in Ausnahmefällen zulässig (zum Beispiel bei Bettlägerigkeit oder Kleinkindern (hierzu SG Aachen, Urteil vom 12. Januar 2016 – S 18 SB 6/15, juris)). Die übrigen Partikularfunktionen des Sehvermögens sind nur mit Geräten oder Methoden zu prüfen, die den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) entsprechend eine gutachterlich einwandfreie Beurteilung erlauben. Die Grundlage für die GdS-Beurteilung bei Herabsetzung der Sehschärfe bildet die "MdE-Tabelle der DOG", die in Ziffer 4.3 des Teils B VMG enthalten ist. Die augenärztliche Untersuchung umfasst nach dem dortigen Vorspann zur Tabelle die Prüfung der einäugigen und beidäugigen Sehschärfe. Sind Ergebnisse beider Prüfungsarten unterschiedlich, so ist bei der Bewertung die beidäugige Sehschärfe als Sehschärfenwert des bessern Auges anzugeben.
Die bei der Klägerin erhobenen Visuswerte begründen das Klagebegehren, das sich zuletzt nach entsprechenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Q. vornehmlich an Fernvisuswerten ausrichtet, ohne weiteres.
Nach einem Arztbrief des Universitätsklinikums T. vom 16.07.2015 bestand bei einer Untersuchung (gem. DIN 58220) am 02.07.2015 einen Fernvisus mit bestmöglicher Korrektur von 0,2 rechts und 0,25 links. Dies entspricht nach der Tabelle in Teil B Ziffer 4.3 VMG einem GdB von 40, wie ihn auch die Beklagte festgestellt hat. Die in den vorhandenen ärztlichen Unterlagen durchgehend beschriebene Progredienz der Seh-/ visuellen Störungen der Klägerin ist in einem weiteren Arztbrief des Uniklinikums T. vom 03.09.2016 über eine Untersuchung am selben Tage mit einem Fernvisus von 0,16 auf dem rechten und 0,2 (Nahvisus nicht mitgeteilt) auf dem linken Auge dokumentiert; entsprechend eines GdB von 50. Bei dem Klagebegehren (vgl. § 123 SGG), über das das die Kammer in ihrer Entscheidung nicht hinausgehend kann (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 5 RE 21/14 R –, BSGE 118, 286-294, SozR 4-2600 § 2 Nr 19, Rn. 1; BFH, Urteil vom 31. Januar 2013 – III R 15/10 –, Rn. 12, juris), für die Zeit bis zum 12.09.2016, bleibt bereits außer Acht, dass die Werte für den Nahvisus sich durchgehend erheblich schlechter zeigen als die Werte des Fernvisus. (z. B. 0,06 rechts und 0,1 links, entsprechend eines GdB von 80 am 16.07.2015). Nach Auffassung der Kammer sind für die Beurteilung des GdB die Nahvisuswerte von ebenso großer Bedeutung, wie der Fernvisus. Teil B Ziff. 4. Enthält keine abweichende Aussage. Die maßgeblichen Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX) sind aber durch Beeinträchtigungen des Sehens in der Nähe (Lesen, Schreiben, Mahlzeiten zubereiten u. ä.) ebenso stark, wie beim Fernsehen (Teilnahme am Straßenverkehr, an Darbietungen im Theater, Kino u. ä.). Weiterhin werden bei der Klägerin seit einer Untersuchung vom 01.08.2016 erhebliche Gesichtsfeldeinschränkungen berichtet, die sich in einer Folgeuntersuchung am 25.11.2016 weiter progredient zeigten (siehe Arztbrief des Uniklinikums T. vom 25.11.2016).
Daher ist – die dokumentierten Prüfungswerte der Augenfunktionen zu Grunde gelegt - zweifelsfrei dem Klageantrag auch für die Zeit ab dem 13.09.2016, mit der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines GdB von 70, zu entsprechen. Ausgehend vom Mittel der Fern- und Nahvisuswerte ergibt sich schon nach dem Arztbrief vom 16.07.2015 ein GdB von 60. Dabei sind die Gesichtsfeldausfälle weiterhin noch nicht berücksichtigt. Der Schnitt des GdB für den Nahvisus aus diesem Bericht mit den in der Untersuchung vom 03.09.2016 erhobenen Fernvisuswerten ergibt dann gerundet bereits den begehren GdB von 70. In der Folgedokumentation mit Arztbrief des Uniklinikums T. vom 25.11.2016 resultiert bei einem Nahvisus von bds. 0,05 (entspricht nach der Tabelle in Ziffer 4.3 VMG einem GdB von 100) und einem Fernvisus von bds. und binokular 0,16 (einem GdB von 60 entsprechend) im Mittel ein GdB von 80, weiterhin ohne die nunmehr weit fortgeschrittenen Gesichtsfeldeinschränkungen berücksichtigt zu haben. Die in der Untersuchung durch den Sachverständigen erhoben Sehschärfenwerte bedingten in der Gesamtschau von Fern- und Nahvisus gerundet einen GdB von 90 (Ferne: 0,125 bds.; Nähe: 0,05 rechts und 0,06 links). Die angegebenen konzentrischen Gesichtsfeldausfälle mit zentraler Restsehinsel ergäben nunmehr zudem für sich genommen unter Beachtung des Teils B Ziff. 4.5 einen GdB über 70.
II. Die nach den Vorgaben des Teils B Ziffer 4 Abs. 1-3 VMG vorgegebenen Untersuchungsmethoden sind (wie auch andere Bestimmungen des Sehvermögens) mitwirkungsabhängig. Daher ist nach Absatz 4 der Ziffer 4. des Teils B VMG bei der Beurteilung von Sehstörungen darauf zu achten, dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt.
Zwar erklärt der organpathologische Befund die Sehstörungen der Klägerin nicht (dazu 1.). Dies steht dem Klagebegehren vorliegend jedoch ausnahmsweise nicht entgegen, weil die Sehstörungen im vom Klageantrag umfassten Ausmaß gleichwohl zur Überzeugungen der Kammer feststehen und Ziff. 4 Abs. 4 VMG unter Beachtung des Begriffes der Behinderung aus § 2 Abs. 1 und 69 Abs. 1 SGB IX und des im Schwerbehindertenrecht seit jeher geltenden Finalitätsprinzipes (vgl. auch Teil A ("Gemeinsame Grundsätze") Ziff. 2. lit. a VMG) auszulegen ist (dazu 2.)
1. Die bei der Klägerin vorliegenden Sehstörungen lassen sich nicht durch die seitens des Universitätsklinikums T. gestellten (organbezogenen) Diagnosen eines Okulokutanen Albinismus und einer Opikushypoplasie erklären. Dies hält das Klinikum selbst u.a. im Arztbrief vom 25.11.2016 fest, in dem es heißt, erneut sei besprochen worden, dass sowohl für den reduzierten Visus als auch für die zunehmende konzentrische Gesichtsfeldeinengung kein morphologisches Korrelat gefunden werden könne. Darauf hatte auch die Sachverständige Dr. T. in ihrem Gutachten vom 30.09.2014 im Verfahren S 3 SB 285/13 hingewiesen. Zwar lasse die (bereits im Jahr 2010 – vgl. Arztbrief des Universitätsklinikums T. vom 06.08.2010 – erfolgte) Albino-VEP-Untersuchung, die atypische Faserverläufe der Sehnerven aufgezeigt habe, die Diagnose des Okulokutanen Albinismus zu, jedoch seien insbesondere die Visus- und Gesichtsfeldangeben nicht erklärbar. Sie äußert erstmals den Verdacht einer funktionellen Überlagerung der Gesichtseinschränkungen. Sie habe den Eindruck, auch psychische Faktoren könnten bei der Klägerin eine Rolle spielen. Der Sachverständige Prof Dr. Q. kann selbst die Diagnose des Okulokutanen Albinismus nicht bestätigen. Zwar sei das zur Diagnostik durch ihn erneut durchgeführte Albino-VEP anfällig für Fehlmessungen und Störungen, allerdings fehlten auch die typischen klinischen Zeichen (Nystagmus, Irisdurchleuchtbarkeit, Makulahypoplasie). Selbst wenn man eine Minimalvariante eines Albinimus annehme, lasse sich das Ausmaß der subjektiv angegebenen Funktionseinschränkungen durch die objektiven Befunde nicht erklären. Prof. Dr. Q. zieht u.a., maßgeblich daraus den Schluss, dass eine seit Jahren verfestigte psychogene Sehstörung als schwerwiegende Erkrankung vorliege. Der Empfehlung zur zeitnahen Vorstellung in der Psychosomatik ist die Klägerin durch Konsultation der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. in der LVR-Klinik E., Abteilung für Psychiatrie II, auch gefolgt. In deren Arztbrief vom 08.06.2017 wird indes dargelegt, es ergäben sich nach eingehender Exploration der Klägerin keinerlei Hinweise für eine psychiatrische Ursache der visuellen Wahrnehmungs- und Gesichtsfeldstörungen. Psychopathologisch ergäben sich keinerlei Auffälligkeiten. Daher hat die Kammer auf psychiatrischen Fachgebiet keine Ermittlungen anstrengen müssen.
2. Lässt sich danach im Ergebnis auch kein morphologisches Korrelat für die unter I. im Wesentlichen dargestellten Sehstörungen der Klägerin sichern, steht das einer Beurteilung der Sehstörungen unter Rückgriff auf Teil B Ziff. 4 VMG dennoch ausnahmsweise nicht entgegen, gleichwohl nach Abs. 4 darauf zu achten ist, dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt. Dies ist dahingehend einschränkend auszulegen, dass Abs. 4 nur den grundsätzlichen Maßstab eines Vollbeweises für finale Teilhabebeeinträchtigungen durch Sehstörungen aufzeigt. Ihm darf jedoch kein universeller Geltungsanspruch dahingehend beigemessen werden, dass ohne morphologischen Befund keine Sehbehinderung angenommen werden darf, gleichwohl sich der Vollbeweis für eine Teilhabeeinschränkung durch eine (finale) Sehbehinderung ausnahmsweise dennoch führen lässt.
Ein solches Verständnis setzte sich nicht nur in Widerspruch mit höherrangigem Recht, sondern auch mit den "Gemeinsamen Grundsätzen" in Teil A Ziff. 2 a) VMG.
a) Es ist bereits dargelegt worden (vgl. B.), dass die VersMedV mit ihrer Anlage zu § 2, den VMG, eine Rechtsvorordnung, d.h. eine für Verwaltungen und Gerichte verbindliche untergesetzliche Rechtsnorm, die im Lichte der rechtlichen Vorgaben der §§ 2, 69 SGB IX bzw. anderem höherrangigem Recht auszulegen ist, darstellt (B.). Die Bindungswirkung gilt nur, soweit die VersMedV nebst Anlagen mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Wie jede untergesetzliche Norm ist die VersMedV auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen zu prüfen und im Falle eines Verstoßes insoweit nicht anzuwenden (ggfs. geltungserhaltend zu reduzieren), wie dies mit höherrangigem Recht kollidierte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R –, Rn. 27, juris; BSG, Urteil vom 30. September 2009 – B 9 SB 4/08 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 10, Rn. 19; Goebel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 69 SGB IX, Rn. 30).
Das uneingeschränkte Dogma der Erforderlichkeit eines morphologischen, also organpathologischen Befundes für die Anerkennung einer Sehbehinderung verstieße gegen den Begriff der Behinderung i. S. d. § 69 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX.
Der Begriff der körperlichen Funktionen i.S.d. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist nicht nur organisch und orthopädisch, sondern im umfassenden Sinn zu verstehen; er schließt vielmehr Störungen der Sinne und Empfindungen ein (vgl. Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 2 SGB IX, Rn. 70). Der Terminus der Beeinträchtigung einer körperlichen Funktion erfordert seinem Wortlaut nach nicht den Nachweis eines strukturellen, morphologischen Schadens, sondern ist vielmehr auf die finale Einschränkung einer Fähigkeit gerichtet. Das findet systematisch Bestätigung in der inneren Bezugnahme zur Teilhabebeeinträchtigung, die nicht weitere Voraussetzung für eine Behinderung, sondern deren finaler Maßstab ist, wie das Wort "daher" , das Hbs. 1 und 2 des Abs. 1 S. 1 des § 2 SGB IX verbindet, anzeigt.
Auch die Historie und der Gesetzeszweck bestätigen dies. Während die im Jahr 1986 in § 3 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) eingeführte Definition der Behinderung sich noch deutlich von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX unterschied, weil noch die "Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung" entscheidend waren und der Bezug zur Teilhabebeeinträchtigung fehlte, hat der Gesetzgeber mit § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX an den von einem Krankheitsfolgekonzept zu einem "biopsychosozialen" Rehabilitationsmodell gewandelten Begriff der Behinderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angeknüpft, wie er in der ICDH-2 (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) von der Vollversammlung der WHO im Mai 2001 beschlossen worden ist (BT-Drs14/5074, S. 98 vgl. zuletzt auch BT-Drs. 18/9522, S. 317). Hiernach steht nicht mehr die Orientierung an wirklichen oder vermeintlichen Defiziten des behinderten Menschen, sondern das Ziel seiner Teilhabe an den verschiedenen Lebensbereichen im Mittelpunkt ("umfassender Behinderungsbegriff" BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 22, Rn. 16; BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 21, Rn. 21; BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 3/12 R –, Rn. 28, juris; BSG, Urteil vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 2/12 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 16, Rn. 26 ("bislang nicht überall in der Anlage zur VersMedV konsequent umgesetzt"); BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 22, Rn. 17: "biopsychosozialer Behindertenbegriff" – zu diesem Begriff auch BAG, Urteil vom 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 –, BAGE 147, 60-88, Rn. 58; Hansen, jurisPR-SozR 8/2017 Anm. 4; vgl. Grauthoff in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 4. Aufl. 2015, § 2 Rn. 4-6; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 2 SGB IX, Rn. 60; kritisch ders. in: Rehabilitationsrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 12 ff.).
Entsprechend hat das Bundessozialgericht gerade in Bezug auf Sehstörungen im Rahmen der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" seine frühere Unterscheidung zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) aufgegeben. Es bleibt hiernach ohne Bedeutung, ob sich eine spezifische Schädigung des Sehvermögens aufgrund einer (spezifischen) Schädigung des Sehapparates finden nachweisen lässt, vielmehr sind allein die faktischen "visuellen Fähigkeiten", die Möglichkeit zum "Einsatz der Sehfähigkeit im Alltag" und deren Objektivierbarkeit entscheidend (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 BL 1/14 R –, BSGE 119, 224-230, SozR 4-5921 Art 1 Nr 3, Rn. 16-21.; folgend: SG Aachen, Urteil vom 18. März 2016 – S 18 SB 1110/14, juris).
Nach Teil A Nr. 2 lit. a S. 2, 3 der Anlage zu § 2 VersMedV ist der GdB zudem auf alle in diesem Lichte zu verstehenden Gesundheitsstörungen, unabhängig von ihrer Ursache, bezogen. Er hat final die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen zum Inhalt und ist ein Maß für die körperlichen, geistigen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung.
Im Schwerbehindertenrecht ist das, in diesen "vor die Klammer" gezogenen "Gemeinsamen Grundsätzen" der VMG angesprochene, Finalitätsprinzip seit jeher zu beachten. Es ist sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX festgeschrieben worden. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von der Kenntnis ihres Entstehungsgrundes oder der Zuordenbarkeit zu einer Diagnose zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Die Bezeichnung regelwidriger Zustände mit medizinischen Diagnosen dient nur der Begründung des den GdB festlegenden Verwaltungsakts, enthält jedoch keine Aussage über die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen (BSG, Urteil vom 30. September 2009 – B 9 SB 4/08 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 10, Rn. 20; BSG, Urteil vom 27. Februar 2002, B 9 SB 6/01 R, juris; Urteil vom 30. September 2009 – B 9 SB 4/08 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 10, Rn. 29; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. März 2014 – L 3 SB 229/12 –, Rn. 24, juris; Zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz vgl. BSG, Urteil vom 08. Oktober 1987 - 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr. 1 S. 5; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 2 SGB IX, Rn. 135).
Ziff. 4 Abs. 4 des Teils B der VMG lässt in ihrem Wortlaut Raum für ein Verständnis als "Chiffre" notwendiger Objektivierbarkeit einer Behinderung bzw. der Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft lässt (vgl. §§ 2, Abs. 1 S. 1, 69 Abs. 1 S. 4. SGB IX). Denn, soweit darauf "zu achten" ist, dass der morphologischer Befund die Sehstörungen erklärt, wird das Vorliegen eines entsprechenden Befundes nicht apodiktisch in dem Sinne gefordert, dass ohne organisches Korrelat eine (Seh)behinderung nicht festgestellt werden darf. Daher ist die Anwendbarkeit des Teil B Ziff. 4 Abs. 4 VMG nicht zu verwerfen oder geltungserhaltend zu reduzieren, sondern im systematischen Kontext mit in Teil A Nr. 2 a) S. 2, 3 der Anlage zu § 2 VersMedV "vor die Klammer gezogenen" Grundsätzen der VMG und konform zu höherrangigem Recht auszulegen.
b) Am Vorliegen einer bis dato progredienten Störung der visuellen Fähigkeiten der Klägerin, die ihr Klagebegehren rechtfertigt, hat die Kammer keine durchgreifenden Zweifel (anders vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 20. November 2002 – L 2 SB 2/01 –, Rn. 33, 35 juris im dortigen Einzelfall).
Die fortschreitende Störung des Sehvermögens ist bereits seit dem Grundschulalter durchgehend dokumentiert ist. Breites in diesem Alter zeigte sich bei der Klägerin eine Störung der visuellen Wahrnehmung. Manchmal konnte die Klägerin Texte lesen, die sie zu anderen Zeiten nicht erkannte. Aktenkundig (zum Teil) dokumentiert folgte eine lange Episode von Arztbesuchen. Wie in einem Pädagogischen Gutachten im Rahmen der Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfes gemäß § 12 der Ausbildungsverordnung vom 03.07.2012 niedergelegt ist, wurde bereits in der 3. Klasse ein Schulwechsel aufgrund des Erfordernisses einer der Sehbehinderung Rechnung tragenden Beschulung notwendig, der mit einer für die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn unerklärlichen bzw. undifferenzierten visuellen Wahrnehmungsstörung verbunden war. Bereits zuvor hatten sich schulische Schwierigkeiten besonders u. a. in den Bereichen Lesen/Rechtschreiben gezeigt, deren Ursachen zunächst im Bereich "Hören" vermutet worden waren. In dem Gutachten vom 03.07.2012 (damals war die Klägerin im 8. Schuljahr) heißt es weiter, im Laufe der Schulzeit habe sich eine Sehbeeinträchtigung, die vornehmlich auf eine visuelle Verarbeitungsstörung zurückzuführen sei, bestätigt. Notwendigkeiten besonderer Vorrichtungen und Behandlungen im Rahmen des Realschulbesuches aufgrund einer deutlichen Verschlechterung des Sehvermögens werden in dem Gutachten dargestellt. Zudem wird durch die verfassenden Lehrer bemerkt, dass die Klägerin konkrete Belastungen durch ihr Handicap eher verschweige statt darauf hinzuweisen und ihr zweifellos zustehende Sonderbehandlungen einzufordern und es wird von einer Verletzbarkeit der Klägerin durch Bemerkungen von Mitschülern, die sich schwer täten, das Ausmaß des Handicaps richtig einzuschätzen und dem Wunsch der Klägerin nach stärkerer Integration berichtet. Die Klägerin habe Angst davor, durch ihre Behinderung in eine Außenseiterposition zu geraten und das Gefühl mit einem Defizit belastet zu sein. Auch wenn der Klägerin eine hervorragende räumliche Orientierung bei Individualsportarten attestiert wird, wobei sich zugleich massive Schwierigkeiten in der Auge-Hand Koordination zeigten, liegt daher die Annahme fern, die Klägerin stelle, sei es auch nur bewusstseinsfern, ihre Beeinträchtigungen aggravierend dar, zumal in dem o. a. Gutachten weiter berichtet wird, die Klägerin sei bereit alles zu versuchen, um die Unterrichtsziele zu erreichen, jedoch seien ihr aufgrund der Behinderung ganz deutliche Grenzen gesetzt.
Bereits ihren Realschulabschluss hat die Klägerin in der Sehbehindertenform gemacht. Nach ihrer Schulzeit hat die Klägerin eine Ausbildung zur Physiotherapeutin im Berufsbildungswerk N., die speziell für blinde und sehbehinderte Menschen konzipiert ist, begonnen.
Soweit die Klägerin trotz ihrer erheblichen Behinderung noch ihrem Hobby, dem Turmspringen nachgehen kann, ist die klägerseitige Erklärung hierfür plausibel. Die Klägerin trainiere das Wasserspringen bereits seit dem 4. Lebensjahr; mehrere Jahre mit bis zu 7 Trainingseinheiten pro Woche. Die erlernten Bewegungsabläufe (genau festgelegte Schrittfolge) seien automatisiert. Der Punkt, an dem der Ablauf beginne, werde bei der Klägerin mit Hilfe des Trainers oder von Teamkollegen festgelegt. Zudem könne die Klägerin den starken Kontrast zwischen Brettspitze und Wasser bei Sprüngen aus dem Stand erkennen. Bei Sprüngen mit Drehungen signalisiere der Trainer durch Zuruf den Moment der Öffnung. Dieses Verfahren nutzten auch nichtbehinderte Springer beim Erlernen neuer Sprünge.
Auch der Sachverständige Prof. Dr. Q. hat am Bestehen einer finalen Sehstörung, wie sie sich in der gutachterlichen Untersuchung gezeigt hat, keine Zweifel gelassen. Er geht insofern von einer schwerwiegenden Erkrankung aus, gleichwohl er auf seinem Fachgebiet kein morphologisches Korrelat erkennen kann. Es handele sich um eine über Jahre verfestigte – nach seiner Vermutung psychogen bedingte – Sehstörung, die eine schwerwiegende Erkrankung darstelle. Es sei davon auszugehen, dass ein hoher Grad der Behinderung bestehe.
Selbst die Beklagte – die sich, wie aus den diversen versorgungsärztlichen Stellungnahmen zu ersehen ist, mit der Beurteilung des GdB bereits bei der Feststellung zum Bescheid vom 28.01.2013 schwer getan hat – geht (möglicherweise mit Ausnahme der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 21.05.2017) von einer Sehbehinderung aus. Dabei konnte sie – einen Rückgriff auf Ziffer 4. der VMG möglicherweise ablehnend – nicht mitteilen, auf welche Rechtsgrundlage sie ihre Bewertung stützt (vgl. versorgungsärztliche Stellungnahme vom 18.07.2017 auf die gerichtliche Verfügung vom 10.07.2017). Die Beklagte zieht – ungeachtet der Außerachtlassung der progredienten Gesichtsfeldausfälle in keiner Weise die Visusverschlechterung seit ihrer Vorbescheidung nach, ohne dass nachvollziehbar würde oder von der Beklagten hätte erklärt werden können, weshalb sie die zunächst jedenfalls im Ergebnis bestehende Korrelation von Visus und Beurteilung des GdB nunmehr aufgegeben sehen will. Soweit in der gutachterlichen Stellungnahme vom 21.05.2017 darauf verwiesen wird, dass die Klägerin ihr Leben gut meistere, steht das einer höheren Bewertung des GdB als durch die Beklagte festgestellt keinesfalls entgegen. Der GdB für eine Störung des Sehvermögens wird in Teil B Tiff. 4 VMG nicht davon abhängig gemacht, ob und inwieweit Sehbehinderte Menschen – unter entsprechender Einrichtung (vorliegend u. a. Ausbildung in einem speziell auf Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung eingerichteten Berufsbildungswerk) – an der Bewältigung eines Alltages scheitern.
Vor dem Hintergrund all dessen teilt die Kammer die einzig seitens der Sachverständigen Dr. T. noch geäußerten Zweifel in deren Gutachten vom 30.09.2014 (aus dem Verfahren S 3 SB 285/13) an der Validität der subjektiven Angaben der Klägerin, die bei der Sachverständigen insbesondere aus dem fehlenden organischen Befund resultieren, nicht, zumal die Sachverständige dennoch eine Weit- und eine Stabsichtigkeit bds. als erwiesen erachtet, ferner eine Sehstörung in Form einer visuellen Wahrnehmungsstörung, bezüglich dieser zunehmend zu beobachtenden Störungen mangels präziser Definierbarkeit und zureichender Erforschung aber letztlich in der Beurteilung kapituliert.
Die Forschungsgruppe "Organisation ProViIon, Sehen, Wahrnehmen, Lernen, Verstehen der technischen Universität E. hat in einem Bericht über die Überprüfung des funktionalen Sehens der Klägerin vom 15.06.2012 jedenfalls bereits festgehalten, dass das Sehen in der Nähe für die Klägerin eine große Herausforderung darstelle, da die Naheinstellung (Akkomodation/Konvergenz) in einem geringeren Abstand als 30 cm deutlich erschwert sei. Die Annäherung von Texten ergebe keinen Vorteil bei gleichzeitig hohem Vergrößerungsbedarf. Es habe festgestellt werden könne, dass die Klägerin bei komplexen Mustern (Liniengittern) und nah bei einander stehenden Zahlen und Buchstaben Einzelheiten nicht mehr visuell auflösen könne. Dies steht im Einklang mit den durchgehend deutlich schlechteren Nahvisus- gegenüber den Fernvisuswerten und den Angaben der Klägerin und erhöht die Glaubhaftigkeit deren Angaben in den Untersuchungen zur Bestimmung des Visus und der Gesichtsfeldausfälle zusätzlich.
D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG. Dabei ist nicht nur auf den Ausgang des Rechtsstreits allein abzustellen, vielmehr ist im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens wesentlich auf das Veranlassungsprinzip abzustellen. (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 193, Rn. 12b; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19.09.2006, L 5 B 376/06 KR ER).
Vorliegend war dem Klageantrag zwar vollständig zu entsprechen, jedoch hat die Klägerseite durch ihre endgültige Antragsfassung in der mündlichen Verhandlung die angefochtene Entscheidung der Beklagten als rechtmäßig anerkannt und die Verpflichtung zur Feststellung eines höheren GdB erst für einen Zeitpunkt nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides begehrt. Anlass zur Klageerhebung hat die Beklagte insofern letztlich nicht gegeben. Dies findet darin Ausdruck, dass ihre Entscheidung nicht aufzuheben ist, sie vielmehr zur Änderung ihrer Entscheidung zu verpflichten war (vgl. SG Aachen, Urteil vom 18. März 2016 – S 18 SB 1110/14 –, Rn. 40, juris).
Tatbestand:
Streitgegenständlich ist die Bewertung des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin aufgrund einer Verschlechterung einer Funktionsstörung der Augen.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 22.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2013 einen GdB von 30 fest. Dem lagen eine versorgungsärztlich letztlich mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Sehstörung und deren mit einem weiteren Einzel-GdB von 20 bewertete Auswirkungen (eingeschränktes funktionales Sehen – individueller Umgang mit dem Sehvermögen in alltäglichen Situationen, im schulischen Bereich, psychische Beeinträchtigungen, Hilfsmittelversorgung und sonderpädagogische Förderung) zugrunde. Ein anschließendes Klageverfahren vor dem Sozialgericht Aachen (Az. S 3 285/13) auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines höheren GdB verlief erfolglos. In der mündlichen Verhandlung am 17.12.2014 wurde Klage auf Hinweis des seinerzeitigen Vorsitzenden der 3. Kammer zurückgenommen.
Mit Änderungsantrag vom 16.09.2015 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB. Zur Begründung führte sie ihre Sehbehinderung mit der Diagnose Okulokutaner Albinismus, einer Akkomodationsschwäche, hohen Einschränkungen des funktionalen Sehens, hoher Blendempfindlichkeit und einem Fernvisus von 0,2/0,25 sowie einem Nahvisus vom 0,006/0,1 an. Beigefügt wurde ein Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. (aus 07/2015).
Auf versorgungsärztliche Einschätzung der Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 40 und visueller Wahrnehmungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 stellte die Beklagte unter Aufhebung ihrer Feststellung vom 28.01.2013 mit Bescheid vom 17.11.2015 ab Antragstellung einen GdB von 40 fest.
Hiergegen legte die Klägerin am 02.12.2015 Widerspruch ein. Durch ihre Bevollmächtigten ließ sie zur Begründung ausführen, allein der sich aus dem Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. ergebende Fernvisus entspreche bereits einem GdB von 40. Unter Berücksichtigung der weiteren im Änderungsantrag dargestellten Beeinträchtigungen sei ein GdB von mindestens 70 sachgerecht, da die Einschränkungen tatsächlich den Nahvisuswerten entsprächen.
Nach weiterer versorgungsärztlicher Stellungnahme wies die Bezirksregierung N. den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten am 23.05.2016 unter Bezugnahme auf die Widerspruchsbegründung Klage erhoben und einen Arztbrief des Universitätsklinikums T. (aus 11/2016) vorgelegt.
Das Gericht hat Befundberichte des Kinderarztes Dr. L., u. a. mit einem weiteren Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. (aus 04/2014) und einen Arztbrief des Prof. Dr. L. (Klinik für Augenheilkunde der Uniklinik T. aus 09/2016) eingeholt.
Weiter hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Augenarztes Prof. Dr. Q. (Universitäts- Augenklinik N.) vom 01.03.2017. Der Sachverständige hat einen organisch unauffälligen Befund erhoben. Selbst die Diagnose eines Okulokutanen Albinismus lasse sich nicht erhärten. Auch wenn man eine Minimalvariante des Albinismus annähme, ließe sich das Ausmaß der angegebenen Einschränkungen mit einem Fernvisus von 0,125 bds. und eines Nahvisus von 0,05/0,06 in der gutachterlichen Untersuchung, zudem massiver Gesichtsfeldeinschränkungen, hierdurch nicht erklären. Nach den aktenkundigen Fernvisuswerten betrage der GdB bis zum 03.09.2016 40, bis zum 12.09.2016 50 und anschließend 70. Ophthalmologisch habe zu keinem Zeitpunkt ein GdB bestanden. Es bestehe der Verdacht auf eine über Jahre verfestigte psychogene Sehstörung. Es sei davon auszugehen, dass ein hoher GdB bestehe.
Die Klägerin hat sich daraufhin in der Abteilung für Psychiatrie II in den LVR-Kliniken E. vorgestellt und einen Arztbrief vom 08.06.2017 vorgelegt. Nach fachärztlich eingehender Exploration ergäben sich hiernach keine Hinweise für eine psychiatrische Ursache der visuellen Wahrnehmungs- und Gesichtsfeldstörungen.
Nach dem zunächst die Feststellung eines GdB von 70 ab Änderungsantrag begehrt worden ist, ist die Bevollmächtige der Klägerin zuletzt der Ansicht, trotz fehlenden morphologischen Korrelates sei der GdB so festzustellen, wie der Sachverständige dies anhand der Fernvisuswerte dargestellt habe.
Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt daher,
die Beklagte unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 zu verpflichten, bei der Klägerin für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 einen GdB von 50 und für die Zeit danach einen GdB von 70 festzustellen.
Die Vertreterin der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, es sei nicht möglich, einen höheren GdB als 40 festzustellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verfahrensakte zum Az. S 3 285/13 sowie die Akte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGG) ist i. S. des Klageantrages begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 und eines GdB von 70 für die Zeit danach.
A. Da die Beklagte bereits mit Bescheid vom 22.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2013 einen GdB von 30 festgestellt und damit über den GdB der Klägerin entschieden hat, richten sich die Voraussetzungen für die begehrte Neufeststellung mit Antrag vom 16.09.2015 grds. zunächst nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) (vgl. Goebel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 69 SGB IX, Rn. 34). Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist dann anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung oder Verschlechterung eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamtbehinderungsgrades um wenigstens 10 ergibt (BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 6/12 R –, SozR 4-1300 § 48 Nr 26, Rn. 30; BSG, Urteil vom 19. September 2000 – B 9 SB 3/00 R –, BSGE 87, 126-131, SozR 3-1300 § 45 Nr 43, SozR 3-1300 § 48 Nr 74, SozR 3-3870 § 4 Nr 27; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05. Januar 2011 – L 6 (7) SB 135/06 –, Rn. 20, juris).
Mit dem hier zur Überprüfung gestellten Änderungsbescheid vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 hat die Beklagte die Bestandkraft ihres Bescheides vom 22.01.2013 bereits beseitigt, indem sie den Bescheid vom 28.01.2013 in der Annahme einer wesentlichen Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin aufgehoben hat, um nunmehr statt eines GdB von 30 einen GdB von 40 festzustellen. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.01.2011- L 6 (7) SB 135/06 -, Rn. 21, juris unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 19.09.2000, - B 9 SB 3/00 R, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2002 – L 6 SB 142/00 –, Rn. 17, juris; SG Aachen, Urteil vom 01. März 2016 – S 12 SB 266/15 –, Rn. 29, juris). Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X sind deshalb inter omnes festgestellt und der gerichtlichen Prüfung entzogen.
Eine weitere wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X wird auch nicht deshalb Voraussetzung für eine Verpflichtung der Beklagten i. S. d. Klagebegehrens, weil die Klägerseite in ihrem zuletzt gestellten Klageantrag keine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt, sondern (nur noch) deren Änderung, die angefochtene Entscheidung also als ursprünglich rechtmäßig akzeptiert. Denn der Bescheid vom 17.11.2015 bleibt insoweit angefochten, wie er als Dauerverwaltungsakt einen zukunftsoffenen Geltungsanspruch hat. Innerhalb der Prüfung eines kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehrens (eines nicht bestandskräftigen) Dauerverwaltungsaktes bedarf es aber der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X nicht. Die gerichtliche Nachprüfung richtet sich, bezogen auf die tatsächlichen Verhältnisse, in Fällen einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die Feststellung des GdB betreffend – wie grundsätzlich - nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22. September 2016 – L 6 SB 5073/15 –, Rn. 43, juris).
B. Maßgebliche Bestimmung für die Feststellung des GdB ist § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Nach Abs. 1 Satz 1 der genannten Bestimmung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Vorschrift knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (näher s. unten C. II. 2. a)). Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14.01.2015 gültigen Fassung galten für den GdB die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) - nach dem sich die Beurteilung des Schweregrades, dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS), nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen richtet - und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Auf Rechtsgrundlage der Vorgängervorschrift des § 30 Abs. 16, dem Abs. 17 des § 30 BVG in der bis zum 30.06.2011 gültigen Fassung, wurde mit Wirkung zum 01.09.2009 die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und des § 35 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 08.12.2008 erlassen, die die bis zu diesem Zeitpunkt für die Bewertung des Grads der Behinderung maßgeblichen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2008 (AHP 2008), ablösten. Den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen AHP kam zwar keine Rechtsnormqualität zu, es handelte sich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aber um antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Wirkung (BSG, Urteil vom 30. September 2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr. 9; BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205). Da insbesondere die maßgebliche Anlage 2 zu § 2 VersMedV, die die so genannten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) beinhaltet, im Wesentlichen den AHP entspricht (vgl. die Begründung BR-Drucks. 767/08, S. 3 f.), waren mit dem Wechsel keine erheblichen inhaltlichen Änderungen verbunden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.12.2009 - L 11 SB 352/08, juris). Im Unterschied zu den AHP handelt es sich bei der VersMedV aber um eine Rechtsverordnung, d.h. eine für Verwaltungen und Gerichte verbindliche untergesetzliche Rechtsnorm, die im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen ist (BSG, Urteil vom 30.September 2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R –, Rn. 29, juris) (s. unten, C. II. 2.).
Zum 15.01.2016 hat der Gesetzgeber in § 70 Abs. 2 SGB IX das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Solange noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten indes gemäß § 159 Abs. 7 SGB IX weiterhin die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend (vgl. hierzu BT-Drucksache 18/3190, S. 5).
Damit wollte der Gesetzgeber angenommenen Zweifeln inwieweit die vormalige Ermächtigungsgrundlage für die Versorgungsmedizin-Verordnung in § 30 Absatz 16 des Bundesversorgungsgesetzes auch Regelungen abdecke, die sich auf die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung beziehen, den Boden entziehen (BT-Drs. 18/3190, S. 5). Damit geht indes nicht einher, dass die Regelungen der VersMedV nunmehr von einer Rechtsverordnung zu einem (einfachen) Parlamentsgesetz aufsteigen (vgl. SG Aachen, Urteil vom 20. Dezember 2016 – S 12 SB 660/16 –, Rn. 15, juris; a. A. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21. April 2015 – L 6 SB 3121/14 –, Rn. 27, juris; Dau, jurisPR-SozR 10/2016 Anm. 5). Denn - jedenfalls in Bezug auf die Maßstäbe zur Beurteilung des GdB (weitergehend hingegen ggfs. für die Kriterien für die Bewertung von Hilflosigkeit und die Voraussetzung für die Vergabe von Merkzeichen; hierzu Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 09. Mai 2011 – L 8 SB 2294/10, juris; Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) – die Anordnung der Geltung der VersMedV in § 159 Abs. 7 SGB IX gleicht der vormals in § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX enthaltenen ("gelten entsprechend"), der das Bundessozialgericht nicht die Bedeutung der Inkorporation der VersMedV in das SGB IX und damit in die Ebene des Parlamentsgesetzes beigemessen hat (vgl. nochmals BSG, Urteil vom 30.September 2009 - B 9 SB 4/08 R, juris; BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R –, Rn. 29, juris). Vielmehr wird – wie sich aus der Gesetzesbegründung (a.a.O.) unzweifelhaft ergibt - klargestellt, dass die Rechtsverordnung VersMedV (auch) für die Beurteilung des GdB im Rahmen dessen Feststellung von der Ermächtigung eines parlamentarischen Gesetzes (vgl. Art. 80 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG)) gedeckt ist (bis das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung in § 70 Abs. 2 SGB IX Gebrauch gemacht hat). Selbst wenn man annähme, es handele sich nicht um eine Klarstellung, sondern um eine nachträgliche Geltungsanordnung wäre nicht nachvollziehbar, weshalb der klare Wille des Gesetzgebers, den VersMedV als Rechtsverordnung Geltung zu verschaffen unbeachtet bleiben müsse. Tatsächlich führt nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (soweit das Verfahren nach Art 76 ff GG und die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG beachtet werden) nicht einmal die inhaltliche Änderung einer Rechtsverordnung durch den Gesetzgeber dazu, dass diese nunmehr auf die Ebene des Parlamentsgesetzes gehoben würde (BVerfG, Beschluss vom 13. September 2005 – 2 BvF 2/03 –, BVerfGE 114, 196-257; ablehnend Brosius-Gersdorf, ZG 2007, 305 ff.). Erst recht kann es dem Gesetzgeber nicht verwehrt bleiben ggfs. eine nachträgliche Ermächtigungsgrundlage für eine Rechtsverordnung zu schaffen. Auch der Wortlaut des § 159 Abs. 7 SGB IX steht einer Genehmigung des Geltungsanspruches der VersMedV für das Schwerbehindertenrecht nicht im Wege.
Der hier streitigen Bemessung des GdB ist damit die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Teil A, S. 17 ff.) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil A, S. 33) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A, S. 20) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a, S. 33).
Die Bemessung des GdB folgt dabei nicht starren Beweisregeln, sondern ist aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der Versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 10/06 R -, Rn. 28, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. Juni 2012 – L 13 SB 127/1 -,Rn. 42, juris unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11. März 1998 - B 9 SB 9/97 R -, Rn. 10, juris m.w.N.).
C. Die Klägerin leidet unstreitig an einer Funktionsstörung der Augen, die letztlich unklarer Genese bleibt, für die aber der GdB dem Klageantrag entsprechend festzustellen ist.
I. Gemäß Teil B Ziff. 4 Ab. 1,2 VMG umfasst die Sehbehinderung alle Störungen des Sehvermögens. Für die Beurteilung ist in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend; daneben sind u.a. Ausfälle des Gesichtsfeldes und des Blickfeldes zu berücksichtigen. Die Sehschärfe ist grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) nach DIN 58220 (hierzu: Wesemann/ Schiefer/ Bach, Ophthalmologe 201821-826) zu bestimmen; Abweichungen hiervon sind nur in Ausnahmefällen zulässig (zum Beispiel bei Bettlägerigkeit oder Kleinkindern (hierzu SG Aachen, Urteil vom 12. Januar 2016 – S 18 SB 6/15, juris)). Die übrigen Partikularfunktionen des Sehvermögens sind nur mit Geräten oder Methoden zu prüfen, die den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) entsprechend eine gutachterlich einwandfreie Beurteilung erlauben. Die Grundlage für die GdS-Beurteilung bei Herabsetzung der Sehschärfe bildet die "MdE-Tabelle der DOG", die in Ziffer 4.3 des Teils B VMG enthalten ist. Die augenärztliche Untersuchung umfasst nach dem dortigen Vorspann zur Tabelle die Prüfung der einäugigen und beidäugigen Sehschärfe. Sind Ergebnisse beider Prüfungsarten unterschiedlich, so ist bei der Bewertung die beidäugige Sehschärfe als Sehschärfenwert des bessern Auges anzugeben.
Die bei der Klägerin erhobenen Visuswerte begründen das Klagebegehren, das sich zuletzt nach entsprechenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Q. vornehmlich an Fernvisuswerten ausrichtet, ohne weiteres.
Nach einem Arztbrief des Universitätsklinikums T. vom 16.07.2015 bestand bei einer Untersuchung (gem. DIN 58220) am 02.07.2015 einen Fernvisus mit bestmöglicher Korrektur von 0,2 rechts und 0,25 links. Dies entspricht nach der Tabelle in Teil B Ziffer 4.3 VMG einem GdB von 40, wie ihn auch die Beklagte festgestellt hat. Die in den vorhandenen ärztlichen Unterlagen durchgehend beschriebene Progredienz der Seh-/ visuellen Störungen der Klägerin ist in einem weiteren Arztbrief des Uniklinikums T. vom 03.09.2016 über eine Untersuchung am selben Tage mit einem Fernvisus von 0,16 auf dem rechten und 0,2 (Nahvisus nicht mitgeteilt) auf dem linken Auge dokumentiert; entsprechend eines GdB von 50. Bei dem Klagebegehren (vgl. § 123 SGG), über das das die Kammer in ihrer Entscheidung nicht hinausgehend kann (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 5 RE 21/14 R –, BSGE 118, 286-294, SozR 4-2600 § 2 Nr 19, Rn. 1; BFH, Urteil vom 31. Januar 2013 – III R 15/10 –, Rn. 12, juris), für die Zeit bis zum 12.09.2016, bleibt bereits außer Acht, dass die Werte für den Nahvisus sich durchgehend erheblich schlechter zeigen als die Werte des Fernvisus. (z. B. 0,06 rechts und 0,1 links, entsprechend eines GdB von 80 am 16.07.2015). Nach Auffassung der Kammer sind für die Beurteilung des GdB die Nahvisuswerte von ebenso großer Bedeutung, wie der Fernvisus. Teil B Ziff. 4. Enthält keine abweichende Aussage. Die maßgeblichen Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX) sind aber durch Beeinträchtigungen des Sehens in der Nähe (Lesen, Schreiben, Mahlzeiten zubereiten u. ä.) ebenso stark, wie beim Fernsehen (Teilnahme am Straßenverkehr, an Darbietungen im Theater, Kino u. ä.). Weiterhin werden bei der Klägerin seit einer Untersuchung vom 01.08.2016 erhebliche Gesichtsfeldeinschränkungen berichtet, die sich in einer Folgeuntersuchung am 25.11.2016 weiter progredient zeigten (siehe Arztbrief des Uniklinikums T. vom 25.11.2016).
Daher ist – die dokumentierten Prüfungswerte der Augenfunktionen zu Grunde gelegt - zweifelsfrei dem Klageantrag auch für die Zeit ab dem 13.09.2016, mit der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines GdB von 70, zu entsprechen. Ausgehend vom Mittel der Fern- und Nahvisuswerte ergibt sich schon nach dem Arztbrief vom 16.07.2015 ein GdB von 60. Dabei sind die Gesichtsfeldausfälle weiterhin noch nicht berücksichtigt. Der Schnitt des GdB für den Nahvisus aus diesem Bericht mit den in der Untersuchung vom 03.09.2016 erhobenen Fernvisuswerten ergibt dann gerundet bereits den begehren GdB von 70. In der Folgedokumentation mit Arztbrief des Uniklinikums T. vom 25.11.2016 resultiert bei einem Nahvisus von bds. 0,05 (entspricht nach der Tabelle in Ziffer 4.3 VMG einem GdB von 100) und einem Fernvisus von bds. und binokular 0,16 (einem GdB von 60 entsprechend) im Mittel ein GdB von 80, weiterhin ohne die nunmehr weit fortgeschrittenen Gesichtsfeldeinschränkungen berücksichtigt zu haben. Die in der Untersuchung durch den Sachverständigen erhoben Sehschärfenwerte bedingten in der Gesamtschau von Fern- und Nahvisus gerundet einen GdB von 90 (Ferne: 0,125 bds.; Nähe: 0,05 rechts und 0,06 links). Die angegebenen konzentrischen Gesichtsfeldausfälle mit zentraler Restsehinsel ergäben nunmehr zudem für sich genommen unter Beachtung des Teils B Ziff. 4.5 einen GdB über 70.
II. Die nach den Vorgaben des Teils B Ziffer 4 Abs. 1-3 VMG vorgegebenen Untersuchungsmethoden sind (wie auch andere Bestimmungen des Sehvermögens) mitwirkungsabhängig. Daher ist nach Absatz 4 der Ziffer 4. des Teils B VMG bei der Beurteilung von Sehstörungen darauf zu achten, dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt.
Zwar erklärt der organpathologische Befund die Sehstörungen der Klägerin nicht (dazu 1.). Dies steht dem Klagebegehren vorliegend jedoch ausnahmsweise nicht entgegen, weil die Sehstörungen im vom Klageantrag umfassten Ausmaß gleichwohl zur Überzeugungen der Kammer feststehen und Ziff. 4 Abs. 4 VMG unter Beachtung des Begriffes der Behinderung aus § 2 Abs. 1 und 69 Abs. 1 SGB IX und des im Schwerbehindertenrecht seit jeher geltenden Finalitätsprinzipes (vgl. auch Teil A ("Gemeinsame Grundsätze") Ziff. 2. lit. a VMG) auszulegen ist (dazu 2.)
1. Die bei der Klägerin vorliegenden Sehstörungen lassen sich nicht durch die seitens des Universitätsklinikums T. gestellten (organbezogenen) Diagnosen eines Okulokutanen Albinismus und einer Opikushypoplasie erklären. Dies hält das Klinikum selbst u.a. im Arztbrief vom 25.11.2016 fest, in dem es heißt, erneut sei besprochen worden, dass sowohl für den reduzierten Visus als auch für die zunehmende konzentrische Gesichtsfeldeinengung kein morphologisches Korrelat gefunden werden könne. Darauf hatte auch die Sachverständige Dr. T. in ihrem Gutachten vom 30.09.2014 im Verfahren S 3 SB 285/13 hingewiesen. Zwar lasse die (bereits im Jahr 2010 – vgl. Arztbrief des Universitätsklinikums T. vom 06.08.2010 – erfolgte) Albino-VEP-Untersuchung, die atypische Faserverläufe der Sehnerven aufgezeigt habe, die Diagnose des Okulokutanen Albinismus zu, jedoch seien insbesondere die Visus- und Gesichtsfeldangeben nicht erklärbar. Sie äußert erstmals den Verdacht einer funktionellen Überlagerung der Gesichtseinschränkungen. Sie habe den Eindruck, auch psychische Faktoren könnten bei der Klägerin eine Rolle spielen. Der Sachverständige Prof Dr. Q. kann selbst die Diagnose des Okulokutanen Albinismus nicht bestätigen. Zwar sei das zur Diagnostik durch ihn erneut durchgeführte Albino-VEP anfällig für Fehlmessungen und Störungen, allerdings fehlten auch die typischen klinischen Zeichen (Nystagmus, Irisdurchleuchtbarkeit, Makulahypoplasie). Selbst wenn man eine Minimalvariante eines Albinimus annehme, lasse sich das Ausmaß der subjektiv angegebenen Funktionseinschränkungen durch die objektiven Befunde nicht erklären. Prof. Dr. Q. zieht u.a., maßgeblich daraus den Schluss, dass eine seit Jahren verfestigte psychogene Sehstörung als schwerwiegende Erkrankung vorliege. Der Empfehlung zur zeitnahen Vorstellung in der Psychosomatik ist die Klägerin durch Konsultation der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. in der LVR-Klinik E., Abteilung für Psychiatrie II, auch gefolgt. In deren Arztbrief vom 08.06.2017 wird indes dargelegt, es ergäben sich nach eingehender Exploration der Klägerin keinerlei Hinweise für eine psychiatrische Ursache der visuellen Wahrnehmungs- und Gesichtsfeldstörungen. Psychopathologisch ergäben sich keinerlei Auffälligkeiten. Daher hat die Kammer auf psychiatrischen Fachgebiet keine Ermittlungen anstrengen müssen.
2. Lässt sich danach im Ergebnis auch kein morphologisches Korrelat für die unter I. im Wesentlichen dargestellten Sehstörungen der Klägerin sichern, steht das einer Beurteilung der Sehstörungen unter Rückgriff auf Teil B Ziff. 4 VMG dennoch ausnahmsweise nicht entgegen, gleichwohl nach Abs. 4 darauf zu achten ist, dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt. Dies ist dahingehend einschränkend auszulegen, dass Abs. 4 nur den grundsätzlichen Maßstab eines Vollbeweises für finale Teilhabebeeinträchtigungen durch Sehstörungen aufzeigt. Ihm darf jedoch kein universeller Geltungsanspruch dahingehend beigemessen werden, dass ohne morphologischen Befund keine Sehbehinderung angenommen werden darf, gleichwohl sich der Vollbeweis für eine Teilhabeeinschränkung durch eine (finale) Sehbehinderung ausnahmsweise dennoch führen lässt.
Ein solches Verständnis setzte sich nicht nur in Widerspruch mit höherrangigem Recht, sondern auch mit den "Gemeinsamen Grundsätzen" in Teil A Ziff. 2 a) VMG.
a) Es ist bereits dargelegt worden (vgl. B.), dass die VersMedV mit ihrer Anlage zu § 2, den VMG, eine Rechtsvorordnung, d.h. eine für Verwaltungen und Gerichte verbindliche untergesetzliche Rechtsnorm, die im Lichte der rechtlichen Vorgaben der §§ 2, 69 SGB IX bzw. anderem höherrangigem Recht auszulegen ist, darstellt (B.). Die Bindungswirkung gilt nur, soweit die VersMedV nebst Anlagen mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Wie jede untergesetzliche Norm ist die VersMedV auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen zu prüfen und im Falle eines Verstoßes insoweit nicht anzuwenden (ggfs. geltungserhaltend zu reduzieren), wie dies mit höherrangigem Recht kollidierte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R –, Rn. 27, juris; BSG, Urteil vom 30. September 2009 – B 9 SB 4/08 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 10, Rn. 19; Goebel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 69 SGB IX, Rn. 30).
Das uneingeschränkte Dogma der Erforderlichkeit eines morphologischen, also organpathologischen Befundes für die Anerkennung einer Sehbehinderung verstieße gegen den Begriff der Behinderung i. S. d. § 69 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX.
Der Begriff der körperlichen Funktionen i.S.d. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist nicht nur organisch und orthopädisch, sondern im umfassenden Sinn zu verstehen; er schließt vielmehr Störungen der Sinne und Empfindungen ein (vgl. Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 2 SGB IX, Rn. 70). Der Terminus der Beeinträchtigung einer körperlichen Funktion erfordert seinem Wortlaut nach nicht den Nachweis eines strukturellen, morphologischen Schadens, sondern ist vielmehr auf die finale Einschränkung einer Fähigkeit gerichtet. Das findet systematisch Bestätigung in der inneren Bezugnahme zur Teilhabebeeinträchtigung, die nicht weitere Voraussetzung für eine Behinderung, sondern deren finaler Maßstab ist, wie das Wort "daher" , das Hbs. 1 und 2 des Abs. 1 S. 1 des § 2 SGB IX verbindet, anzeigt.
Auch die Historie und der Gesetzeszweck bestätigen dies. Während die im Jahr 1986 in § 3 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) eingeführte Definition der Behinderung sich noch deutlich von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX unterschied, weil noch die "Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung" entscheidend waren und der Bezug zur Teilhabebeeinträchtigung fehlte, hat der Gesetzgeber mit § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX an den von einem Krankheitsfolgekonzept zu einem "biopsychosozialen" Rehabilitationsmodell gewandelten Begriff der Behinderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angeknüpft, wie er in der ICDH-2 (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) von der Vollversammlung der WHO im Mai 2001 beschlossen worden ist (BT-Drs14/5074, S. 98 vgl. zuletzt auch BT-Drs. 18/9522, S. 317). Hiernach steht nicht mehr die Orientierung an wirklichen oder vermeintlichen Defiziten des behinderten Menschen, sondern das Ziel seiner Teilhabe an den verschiedenen Lebensbereichen im Mittelpunkt ("umfassender Behinderungsbegriff" BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 22, Rn. 16; BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 21, Rn. 21; BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 3/12 R –, Rn. 28, juris; BSG, Urteil vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 2/12 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 16, Rn. 26 ("bislang nicht überall in der Anlage zur VersMedV konsequent umgesetzt"); BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 22, Rn. 17: "biopsychosozialer Behindertenbegriff" – zu diesem Begriff auch BAG, Urteil vom 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 –, BAGE 147, 60-88, Rn. 58; Hansen, jurisPR-SozR 8/2017 Anm. 4; vgl. Grauthoff in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 4. Aufl. 2015, § 2 Rn. 4-6; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 2 SGB IX, Rn. 60; kritisch ders. in: Rehabilitationsrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 12 ff.).
Entsprechend hat das Bundessozialgericht gerade in Bezug auf Sehstörungen im Rahmen der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" seine frühere Unterscheidung zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) aufgegeben. Es bleibt hiernach ohne Bedeutung, ob sich eine spezifische Schädigung des Sehvermögens aufgrund einer (spezifischen) Schädigung des Sehapparates finden nachweisen lässt, vielmehr sind allein die faktischen "visuellen Fähigkeiten", die Möglichkeit zum "Einsatz der Sehfähigkeit im Alltag" und deren Objektivierbarkeit entscheidend (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 BL 1/14 R –, BSGE 119, 224-230, SozR 4-5921 Art 1 Nr 3, Rn. 16-21.; folgend: SG Aachen, Urteil vom 18. März 2016 – S 18 SB 1110/14, juris).
Nach Teil A Nr. 2 lit. a S. 2, 3 der Anlage zu § 2 VersMedV ist der GdB zudem auf alle in diesem Lichte zu verstehenden Gesundheitsstörungen, unabhängig von ihrer Ursache, bezogen. Er hat final die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen zum Inhalt und ist ein Maß für die körperlichen, geistigen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung.
Im Schwerbehindertenrecht ist das, in diesen "vor die Klammer" gezogenen "Gemeinsamen Grundsätzen" der VMG angesprochene, Finalitätsprinzip seit jeher zu beachten. Es ist sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX festgeschrieben worden. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von der Kenntnis ihres Entstehungsgrundes oder der Zuordenbarkeit zu einer Diagnose zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Die Bezeichnung regelwidriger Zustände mit medizinischen Diagnosen dient nur der Begründung des den GdB festlegenden Verwaltungsakts, enthält jedoch keine Aussage über die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen (BSG, Urteil vom 30. September 2009 – B 9 SB 4/08 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 10, Rn. 20; BSG, Urteil vom 27. Februar 2002, B 9 SB 6/01 R, juris; Urteil vom 30. September 2009 – B 9 SB 4/08 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 10, Rn. 29; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. März 2014 – L 3 SB 229/12 –, Rn. 24, juris; Zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz vgl. BSG, Urteil vom 08. Oktober 1987 - 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr. 1 S. 5; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 2 SGB IX, Rn. 135).
Ziff. 4 Abs. 4 des Teils B der VMG lässt in ihrem Wortlaut Raum für ein Verständnis als "Chiffre" notwendiger Objektivierbarkeit einer Behinderung bzw. der Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft lässt (vgl. §§ 2, Abs. 1 S. 1, 69 Abs. 1 S. 4. SGB IX). Denn, soweit darauf "zu achten" ist, dass der morphologischer Befund die Sehstörungen erklärt, wird das Vorliegen eines entsprechenden Befundes nicht apodiktisch in dem Sinne gefordert, dass ohne organisches Korrelat eine (Seh)behinderung nicht festgestellt werden darf. Daher ist die Anwendbarkeit des Teil B Ziff. 4 Abs. 4 VMG nicht zu verwerfen oder geltungserhaltend zu reduzieren, sondern im systematischen Kontext mit in Teil A Nr. 2 a) S. 2, 3 der Anlage zu § 2 VersMedV "vor die Klammer gezogenen" Grundsätzen der VMG und konform zu höherrangigem Recht auszulegen.
b) Am Vorliegen einer bis dato progredienten Störung der visuellen Fähigkeiten der Klägerin, die ihr Klagebegehren rechtfertigt, hat die Kammer keine durchgreifenden Zweifel (anders vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 20. November 2002 – L 2 SB 2/01 –, Rn. 33, 35 juris im dortigen Einzelfall).
Die fortschreitende Störung des Sehvermögens ist bereits seit dem Grundschulalter durchgehend dokumentiert ist. Breites in diesem Alter zeigte sich bei der Klägerin eine Störung der visuellen Wahrnehmung. Manchmal konnte die Klägerin Texte lesen, die sie zu anderen Zeiten nicht erkannte. Aktenkundig (zum Teil) dokumentiert folgte eine lange Episode von Arztbesuchen. Wie in einem Pädagogischen Gutachten im Rahmen der Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfes gemäß § 12 der Ausbildungsverordnung vom 03.07.2012 niedergelegt ist, wurde bereits in der 3. Klasse ein Schulwechsel aufgrund des Erfordernisses einer der Sehbehinderung Rechnung tragenden Beschulung notwendig, der mit einer für die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn unerklärlichen bzw. undifferenzierten visuellen Wahrnehmungsstörung verbunden war. Bereits zuvor hatten sich schulische Schwierigkeiten besonders u. a. in den Bereichen Lesen/Rechtschreiben gezeigt, deren Ursachen zunächst im Bereich "Hören" vermutet worden waren. In dem Gutachten vom 03.07.2012 (damals war die Klägerin im 8. Schuljahr) heißt es weiter, im Laufe der Schulzeit habe sich eine Sehbeeinträchtigung, die vornehmlich auf eine visuelle Verarbeitungsstörung zurückzuführen sei, bestätigt. Notwendigkeiten besonderer Vorrichtungen und Behandlungen im Rahmen des Realschulbesuches aufgrund einer deutlichen Verschlechterung des Sehvermögens werden in dem Gutachten dargestellt. Zudem wird durch die verfassenden Lehrer bemerkt, dass die Klägerin konkrete Belastungen durch ihr Handicap eher verschweige statt darauf hinzuweisen und ihr zweifellos zustehende Sonderbehandlungen einzufordern und es wird von einer Verletzbarkeit der Klägerin durch Bemerkungen von Mitschülern, die sich schwer täten, das Ausmaß des Handicaps richtig einzuschätzen und dem Wunsch der Klägerin nach stärkerer Integration berichtet. Die Klägerin habe Angst davor, durch ihre Behinderung in eine Außenseiterposition zu geraten und das Gefühl mit einem Defizit belastet zu sein. Auch wenn der Klägerin eine hervorragende räumliche Orientierung bei Individualsportarten attestiert wird, wobei sich zugleich massive Schwierigkeiten in der Auge-Hand Koordination zeigten, liegt daher die Annahme fern, die Klägerin stelle, sei es auch nur bewusstseinsfern, ihre Beeinträchtigungen aggravierend dar, zumal in dem o. a. Gutachten weiter berichtet wird, die Klägerin sei bereit alles zu versuchen, um die Unterrichtsziele zu erreichen, jedoch seien ihr aufgrund der Behinderung ganz deutliche Grenzen gesetzt.
Bereits ihren Realschulabschluss hat die Klägerin in der Sehbehindertenform gemacht. Nach ihrer Schulzeit hat die Klägerin eine Ausbildung zur Physiotherapeutin im Berufsbildungswerk N., die speziell für blinde und sehbehinderte Menschen konzipiert ist, begonnen.
Soweit die Klägerin trotz ihrer erheblichen Behinderung noch ihrem Hobby, dem Turmspringen nachgehen kann, ist die klägerseitige Erklärung hierfür plausibel. Die Klägerin trainiere das Wasserspringen bereits seit dem 4. Lebensjahr; mehrere Jahre mit bis zu 7 Trainingseinheiten pro Woche. Die erlernten Bewegungsabläufe (genau festgelegte Schrittfolge) seien automatisiert. Der Punkt, an dem der Ablauf beginne, werde bei der Klägerin mit Hilfe des Trainers oder von Teamkollegen festgelegt. Zudem könne die Klägerin den starken Kontrast zwischen Brettspitze und Wasser bei Sprüngen aus dem Stand erkennen. Bei Sprüngen mit Drehungen signalisiere der Trainer durch Zuruf den Moment der Öffnung. Dieses Verfahren nutzten auch nichtbehinderte Springer beim Erlernen neuer Sprünge.
Auch der Sachverständige Prof. Dr. Q. hat am Bestehen einer finalen Sehstörung, wie sie sich in der gutachterlichen Untersuchung gezeigt hat, keine Zweifel gelassen. Er geht insofern von einer schwerwiegenden Erkrankung aus, gleichwohl er auf seinem Fachgebiet kein morphologisches Korrelat erkennen kann. Es handele sich um eine über Jahre verfestigte – nach seiner Vermutung psychogen bedingte – Sehstörung, die eine schwerwiegende Erkrankung darstelle. Es sei davon auszugehen, dass ein hoher Grad der Behinderung bestehe.
Selbst die Beklagte – die sich, wie aus den diversen versorgungsärztlichen Stellungnahmen zu ersehen ist, mit der Beurteilung des GdB bereits bei der Feststellung zum Bescheid vom 28.01.2013 schwer getan hat – geht (möglicherweise mit Ausnahme der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 21.05.2017) von einer Sehbehinderung aus. Dabei konnte sie – einen Rückgriff auf Ziffer 4. der VMG möglicherweise ablehnend – nicht mitteilen, auf welche Rechtsgrundlage sie ihre Bewertung stützt (vgl. versorgungsärztliche Stellungnahme vom 18.07.2017 auf die gerichtliche Verfügung vom 10.07.2017). Die Beklagte zieht – ungeachtet der Außerachtlassung der progredienten Gesichtsfeldausfälle in keiner Weise die Visusverschlechterung seit ihrer Vorbescheidung nach, ohne dass nachvollziehbar würde oder von der Beklagten hätte erklärt werden können, weshalb sie die zunächst jedenfalls im Ergebnis bestehende Korrelation von Visus und Beurteilung des GdB nunmehr aufgegeben sehen will. Soweit in der gutachterlichen Stellungnahme vom 21.05.2017 darauf verwiesen wird, dass die Klägerin ihr Leben gut meistere, steht das einer höheren Bewertung des GdB als durch die Beklagte festgestellt keinesfalls entgegen. Der GdB für eine Störung des Sehvermögens wird in Teil B Tiff. 4 VMG nicht davon abhängig gemacht, ob und inwieweit Sehbehinderte Menschen – unter entsprechender Einrichtung (vorliegend u. a. Ausbildung in einem speziell auf Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung eingerichteten Berufsbildungswerk) – an der Bewältigung eines Alltages scheitern.
Vor dem Hintergrund all dessen teilt die Kammer die einzig seitens der Sachverständigen Dr. T. noch geäußerten Zweifel in deren Gutachten vom 30.09.2014 (aus dem Verfahren S 3 SB 285/13) an der Validität der subjektiven Angaben der Klägerin, die bei der Sachverständigen insbesondere aus dem fehlenden organischen Befund resultieren, nicht, zumal die Sachverständige dennoch eine Weit- und eine Stabsichtigkeit bds. als erwiesen erachtet, ferner eine Sehstörung in Form einer visuellen Wahrnehmungsstörung, bezüglich dieser zunehmend zu beobachtenden Störungen mangels präziser Definierbarkeit und zureichender Erforschung aber letztlich in der Beurteilung kapituliert.
Die Forschungsgruppe "Organisation ProViIon, Sehen, Wahrnehmen, Lernen, Verstehen der technischen Universität E. hat in einem Bericht über die Überprüfung des funktionalen Sehens der Klägerin vom 15.06.2012 jedenfalls bereits festgehalten, dass das Sehen in der Nähe für die Klägerin eine große Herausforderung darstelle, da die Naheinstellung (Akkomodation/Konvergenz) in einem geringeren Abstand als 30 cm deutlich erschwert sei. Die Annäherung von Texten ergebe keinen Vorteil bei gleichzeitig hohem Vergrößerungsbedarf. Es habe festgestellt werden könne, dass die Klägerin bei komplexen Mustern (Liniengittern) und nah bei einander stehenden Zahlen und Buchstaben Einzelheiten nicht mehr visuell auflösen könne. Dies steht im Einklang mit den durchgehend deutlich schlechteren Nahvisus- gegenüber den Fernvisuswerten und den Angaben der Klägerin und erhöht die Glaubhaftigkeit deren Angaben in den Untersuchungen zur Bestimmung des Visus und der Gesichtsfeldausfälle zusätzlich.
D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG. Dabei ist nicht nur auf den Ausgang des Rechtsstreits allein abzustellen, vielmehr ist im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens wesentlich auf das Veranlassungsprinzip abzustellen. (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 193, Rn. 12b; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19.09.2006, L 5 B 376/06 KR ER).
Vorliegend war dem Klageantrag zwar vollständig zu entsprechen, jedoch hat die Klägerseite durch ihre endgültige Antragsfassung in der mündlichen Verhandlung die angefochtene Entscheidung der Beklagten als rechtmäßig anerkannt und die Verpflichtung zur Feststellung eines höheren GdB erst für einen Zeitpunkt nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides begehrt. Anlass zur Klageerhebung hat die Beklagte insofern letztlich nicht gegeben. Dies findet darin Ausdruck, dass ihre Entscheidung nicht aufzuheben ist, sie vielmehr zur Änderung ihrer Entscheidung zu verpflichten war (vgl. SG Aachen, Urteil vom 18. März 2016 – S 18 SB 1110/14 –, Rn. 40, juris).
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