L 5 KR 144/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 91/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 144/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 27/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Urteil des LSG wurde durch Urteil d.BSG aufgehoben
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.07.2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte den Kläger künftig nach ärztlicher Verordnung mit dem Medikament Cabaseril zu versorgen hat. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren zu tragen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte den Kläger mit dem Medikament Cabaseril im Rahmen eines sog. off-label-use zu versorgen hat.

Der im Jahre 1939 geborene Kläger leidet seit Jahren an einem Restless-Legs-Syndrom (RLS), das 1999 diagnostiziert worden ist. Das einzige zur Behandlung dieser Krankheit zugelassene Arzneimittel ist das Präparat Restex (Wirkstoff L-Dopamin). Der Kläger wurde seit Juni 1999 mit L-Dopamin behandelt. Die Dosierung musste im Laufe der Behandlung erheblich erhöht werden (750 mg/Tag im Oktober 2002).

Mit Schreiben vom 30.10.2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Hinweis auf eine Stellungnahme des behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. I, ihm das Präparat Cabaseril zur Verfügung zu stellen. Das zu den Dopaminagonisten gehörende Cabaseril (Wirkstoff: Cabergolin) ist ein Präparat, das für die Behandlung von Morbus Parkinson zugelassen ist. Dr. I führte in seinem Schreiben vom 30.10.2002 aus: Trotz der Behandlung mit L-Dopamin und der Erhöhung der Dosis auf mittlerweile 750 mg/Tag werde kein befriedigendes Behandlungsergebnis erzielt. Der Kläger wache in der Nacht durch die Bewegungsstörung auf und habe auch tagsüber Beschwerden. Eine höhere Dosierung sei nicht geboten und sinnvoll, zumal bekannt sei, dass unter einer hoch dosierten L- Dopa -Therapie Dyskinesien zu befürchten seien. Aus diesem Grunde sei die Therapie auf einen Dopaminagonisten umzustellen. Er habe dem Kläger Cabergolin (Cabaseril) vorgeschlagen und bitte um Genehmigung der off-label-Therapie.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) nahm zu diesem Antrag in seinem Gutachten vom 14.11.2002 Stellung: Dem behandelnden Arzt sei beizupflichten, dass eine Steigerung der L- Dopa - Dosis bei dem Kläger wegen der unerwünschten Nebenwirkungen nicht empfehlenswert sei. Bestätigt werden könne, dass in Fachkreisen in einem solchen Fall der Einsatz von Dopaminagonisten empfohlen werde. Cabaseril sei zur Behandlung des Morbus Parkinson zugelassen, so dass es im Falle des Klägers nur im sog. off-label-use zum Einsatz kommen könne. Zwar liege bei dem Kläger eine die Lebensqualität sehr beeinträchtigende Erkrankung vor, auch sei die L - Dopa -Therapie ausgeschöpft. Jedoch sei die Datenlage zu Cabaseril zur Behandlung des RLS bislang noch nicht als ausreichend anzusehen.

Mit Bescheid vom 23.12.2002 lehnte die Beklagte den Antrag auf Versorgung mit dem Medikament Cabaseril ab. Zur Begründung führte sie aus, die Voraussetzungen eines off-label-uses seien wegen des Fehlens abgeschlossener klinischer Studien der Phase III nicht gegeben.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 13.01.2003 Widerspruch ein. Unter anderem übersandte er eine Erklärung von insgesamt 12 Ärzten verschiedener Universitätskliniken, in der die Auffassung vertreten wird, dass die in den Veröffentlichungen von Stiasny (und Mitarbeiter) sowie Benes (und Mitarbeiter) dargelegten Erkenntnisse zuverlässige und nachprüfbare Aussagen über Qualität und Wirksamkeit des Wirkstoffs Cabergolin bei der Behandlung des RLS zulassen; es bestehe Konsens über den für die Behandlung des RLS nachgewiesenen Nutzen des Wirkstoffs sowie darüber, dass die Risiken vertretbar seien.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2003 zurück, weil keine Erkenntnisse veröffentlicht seien, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen.

Am 16.05.2003 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Da seine Krankheit sich in einem stark fortgeschrittenen Stadium befinde, reiche die maximal empfohlene Tagesdosis des für die RLS-Behandlung zugelassenen L-Dopa von 400 mg bei weitem nicht aus. Selbst die doppelte Menge, die er zurzeit einnehmen müsse, bringe keine akzeptablen Ergebnisse. Nur durch die zusätzliche ärztliche und medikamentöse Behandlung seiner daraus resultierenden Depressionen komme er einigermaßen über die Runden. Erst durch den Einsatz von Cabaseril könne eine Lebensqualität erzielt werden, die das Leben wieder lebenswert mache. Die Voraussetzungen eines off-label-use seien seiner Ansicht nach gegeben. Das Gutachten des MDK vom 14.11.2002 stütze sein Anliegen.

Das Sozialgericht Düsseldorf hat die Beklagte mit Urteil vom 17.07.2003 verurteilt, die Versorgung des Klägers mit dem Medikament Cabaseril sicherzustellen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen eines sog. off-label-use im Sinne der Entscheidung des BSG vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R = BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 = BSGE 89, 184-192) seien erfüllt. Sowohl nach der Beurteilung des behandelnden Arztes als auch des MDK liege bei dem Kläger ein schweres RLS vor, das eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung sei. Hinzu komme, dass die Standardtherapie mit L-Dopa ausgeschöpft sei. Entgegen der Schlussfolgerung des MDK sei auch die dritte Voraussetzung - die aufgrund der Datenlage begründete Erfolgsaussicht - erfüllt. Der MDK habe die Angaben des behandelnden Arztes Dr. I bestätigt, dass eine randomisierte doppelblinde multizentrische placebokontrollierte Studie mit dem Ergebnis eines signifikanten Behandlungserfolges von Cabaseril vorliege. Die Existenz solcher Studien ergebe sich darüber hinaus aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen. Des Weiteren habe der MDK auch den in Fachkreisen herrschenden Konsens über den voraussichtlichen Nutzen der erstrebten Behandlung bestätigt. Die entsprechende konkrete Konsenserklärung der auf diesem Gebiet tätigen Experten sei im Widerspruchsverfahren vorgelegt worden. Der Einwand des MDK, dass die Dosisfindungen noch nicht abgeschlossen seien, spreche nicht gegen eine begründete Aussicht des Behandlungserfolges, wie sie das BSG gefordert habe.

Am 14.08.2003 hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass keine Erkenntnisse veröffentlicht seien, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen würden. Die Herstellerfirma Pharmacia habe bisher keinen Zulassungsantrag gestellt, obwohl dies angesichts des vermuteten Patientenkollektivs von 2 bis 10 % der Bevölkerung nahe liegen würde.

Die Beklagte hat zur Begründung ihrer Ansicht mehrere Gutachten zu den Therapiemöglichkeiten von RLS vorgelegt. Sie verweist auf das im August 2002 erstattete Grundsatzgutachten der Ärztin für Neurologie Dr. T (MDK C) und das Up-date dieses Gutachtens vom September 2004, auf ein Gutachten von Dr. G (MDK C) vom 19.11.2003 und ein weiteres Gutachten von Frau Dr. T vom 29.06.2005.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Düsseldorf vom 17.07.2003 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen mit der Maßgabe, die Versorgung des Klägers künftig nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit dem Medikament Cabaseril sicherzustellen, hilfsweise, ein Gutachten nach § 109 SGG zu der Frage einzuholen, ob bei dem Kläger eine schwerwiegende, die Lebensqualität erheblich beeinträchtigende Erkrankung vorliegt.

Unstreitig sei, dass er an einer die Lebensumstände wesentlich beeinträchtigenden Erkrankung leide und die Therapiemöglichkeit mit zugelassenen Medikamenten ausgeschöpft sei. Entgegen der Ansicht der Beklagten sei auch die Voraussetzung einer hinreichenden Wirksamkeit des Arzneimittels Cabaseril in dem neuen Anwendungsgebiet durch zuverlässige und wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gegeben. Diese Erfordernisse erfülle die Studie von Stiasny-Kolster (und Mitarbeiter) aus dem Jahr 2002, die doppelblind und placebokontrolliert sei. Auch die Studie von Benes (und anderen) aus dem Jahre 2002 stütze sein Anliegen. Am 22.12.2003 sei die Benes-Studie von der Zeitschrift "sleep" im Volltext angenommen und im Jahre 2004 veröffentlicht worden. Im Dezember 2004 sei die Dosisfindungsstudie von Dr. T1 in der Ausgabe von "neurology" erschienen.

Der Senat hat zunächst einen Befundbericht des behandelnden Arztes eingeholt. In seinem Befundbericht vom 10.08.2004 hat Dr. I unter anderem ausgeführt: Im Laufe der Behandlung hätten sich die Beschwerden ausgeweitet. Trotz einer L-Dopa-Dosis von 750 mg pro Tag sei der Nachtschlaf schließlich gestört gewesen, die Symptome seien auch tagsüber aufgetreten. Um das Durchschlafen wieder zu ermöglichen und die Dosis von L-Dopa zu reduzieren, habe er die Gabe von Cabaseril empfohlen. Bis zum 16.08.2003 sei es möglich gewesen, mit 1 mg Cabaseril - ebenso wie im Jahre 2004 mit 3 x 0,18 mg des Dopaminagonisten Pramipexol (Sifrol) - Beschwerdefreiheit zu erzielen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.10.2004 hat Dr. I weiter ausgeführt: Er habe das Medikament Pramipexol, das ebenfalls ein nur für die Behandlung der Parkinsonkrankheit zugelassener Dopaminagonist sei, außerhalb der vertragsärztlichen Verordnung auf Privatrezept verschrieben. Der Kläger habe sich für diese Substanz entschieden, da sie gegenüber Cabaseril um die Hälfte kostengünstiger sei. Cabaseril sei jedoch zu bevorzugen, da bei der Behandlung mit Pramipexol aufgrund der kürzeren Halbwertzeit statt einer einmaligen Gabe am Abend eine mehrfache Dosierung notwendig sei. Die Behandlung stelle jedoch gegenüber der alleinigen L-Dopa-Behandlung eine erhebliche Verbesserung dar, da nur in Einzelfällen eine nächtliche L-Dopa-Medikation notwendig werde.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologischen Gutachtens von Dr. L, Oberarzt der neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums F, das der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung erläutert hat. In seinem Gutachten vom 14.07.2005 hat Dr. L bei dem Kläger ein mittelgradiges RLS diagnostiziert, das er als mittelschwer einstuft. Nachdem es bei der Anwendung von L-Dopamin-Präparaten zu einem Wirkungsverlust gekommen sei, bestehe keine hinreichende Therapiemöglichkeit mehr mit zugelassenen Medikamenten. Bei der Behandlung von RLS hätten sich die Dopaminagonisten (Pergolid, Pramipexol, Cabergolin, Ropinirol) als wirksam erwiesen. Bezüglich Cabaseril seien außerhalb eines Zulassungsverfahrens Forschungsergebnisse veröffentlicht worden, die über Qualität und Wirksamkeit von Cabaseril bei der Behandlung von RLS zuverlässige und wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen würden. Es bestehe Konsens über den möglichen Nutzen. Wegen Einzelheiten des Gutachtens wird auf das schriftliche Gutachten vom 14.07.2005 und die Sitzungsniederschrift vom 20.09.2005 Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat der Klage insofern zu Recht stattgegeben, als es die Beklagte verurteilt hat, den Kläger künftig mit dem Medikament Cabaseril zu versorgen. Der Bescheid vom 23.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2003 ist rechtswidrig, denn der Kläger hat für die Zukunft einen entsprechenden Leistungsanspruch. Da der Kläger keinen Kostenerstattungsantrag gestellt, sondern seinen Antrag darauf beschränkt hat, ihn mit dem Medikament Cabaseril zu versorgen, war nur über den künftigen Sachleistungsanspruch zu entscheiden.

Gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese verschreibungspflichtig sind (arg. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Ein Anspruch besteht nur für solche Arzneimitteltherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Er ist grundsätzlich nicht gegeben, wenn das Fertigarzneimittel nicht über die nach dem Arzneimittelrecht erforderliche Zulassung verfügt (BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 3, 5) oder wenn es in einem Anwendungsgebiet eingesetzt wird, für das es nicht zugelassen ist (so grundsätzlich BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8). Obwohl das streitige Präparat nicht für die Behandlung des RLS zugelassen ist, besteht ausnahmsweise ein Leistungsanspruch des Klägers.

Die Leistungspflicht der Krankenkasse kommt nämlich auch bei einem off-label-use in Betracht, wenn die in Frage stehende Pharmakotherapie für die Behandlung der Erkrankung unverzichtbar und erwiesenermaßen wirksam ist (BSG a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht (1), keine andere Therapie verfügbar ist (2) und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (3). Letzteres kann nur angenommen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG a. a. O. S. 36). Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

1. Das bei dem Kläger vorliegende mittelgradige RLS ist eine schwerwiegende Erkrankung.

Der Kläger leidet - unstreitig - an einem RLS mit ziehenden Beschwerden in den Beinen, Schlafstörungen und einer Neigung zu täglicher Unruhe, die es ihm ohne die Medikation mit einem Dopaminagonisten unmöglich macht, über längere Zeit still zu sitzen. Es handelt sich um ein mittelgradiges RLS mit mittelschweren Auswirkungen. Der Sach-verständige hat ausgeführt, dass der Schweregrad des Syndroms vor allem aus der Entwicklung der Erkrankung und aus dem Umfang der Restbeschwerden bei einer Medikation zu schließen sei. Die Krankheit des Klägers hat bereits eine längere Vorlaufzeit (Kribbeln in den Beinen bereits in den 80iger Jahren). Durch die alleinige Gabe von L-Dopamin konnte keine Beschwerdefreiheit erzielt werden. Die Beschwerden waren so erheblich, dass eine Steigerung der Dosis von L-Dopamin notwendig wurde, die Wirksamkeit des Medikaments aber mehr und mehr abnahm. Nach übereinstimmender Bekundung des Sachverständigen Dr. L und des behandelnden Arztes I wurden die Beschwerden durch die Kombination von Restex mit einem Dopaminagonisten zwar erheblich reduziert. Trotz der Medikation mit einem Dopaminagonisten bestehen jedoch immer noch - wenn auch in geringem Umfang - Beschwerden. So leidet der Kläger an Durchschlafstörungen mit einer Wachzeit von 1 Stunde bei einer Gesamtschlafzeit von sechs bis sieben Stunden und - nach eigenen Angaben - in geringfügigem Umfang weiterhin an Unruhezuständen am Tag. Diese Umstände begründen nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen, der seine Einschätzung auf eine langjährige klinische Erfahrung stützen kann, ein mittelgradiges RLS.

Das mittelgradige RLS ist eine schwerwiegende Erkrankung. Schwerwiegende Erkrankungen, die den off-label-use auslösen können, sind nicht nur lebensbedrohliche Erkrankungen oder solche Erkrankungen, deren Auswirkungen einer Lebensbedrohung gleichkommen (etwa wegen des Ausfalls von Sinnesorganen, dem Verlust wesentlicher Körperfunktionen oder einer psychischen Dekompensation). Die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigen können auch solche Dauererkrankungen, die in Folge ihrer Auswirkungen den Patienten nachhaltig bei seinen Alltagsaktivitäten behindern und zumindest teilweise vom gesellschaftlichen Leben ausschließen. Von einem solchen Verständnis der schwer-wiegenden Erkrankung geht offenbar auch der Gesetzgeber aus. Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V gilt der Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel nicht für solche Präparate, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, wobei der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V diese Ausnahmen festlegen muss. In der Gesetzesbegründung zu dieser Bestimmung (BT-Drucksache 15/1525 S. 86) wird als Beispiel schwerwiegender Erkrankungen neben onkologischen Erkrankungen und der Nachsorge nach einem Herzinfarkt auch die Behandlung des Klimakteriums genannt, also einer Gesundheitsstörung, bei der es um Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen im Alltag geht.

Die Schlafstörungen und die Unruhezustände am Tag sind ungeachtet des Umstandes, dass der Kläger nicht mehr im Erwerbsleben steht, als erhebliche Einschränkung seiner Lebensqualität anzusehen. Diese Einschätzung teilen der Sachverständigen Dr. L und der MDK (Gutachten vom 14.11.2002 und wohl auch Dr. T in ihrem Gutachten vom 29.06.2005, S. 50 Nr. 3). Auch der Senat ist hiervon überzeugt. Zu berücksichtigen sind die Beschwerden des Klägers in dem Ausmaße wie sie ohne die Gabe eines Dopaminagonisten vorliegen würden. Schon Schlafstörungen, eine vermehrte Tagesmüdigkeit und Unruhezustände mit Bewegungsdrang von mittlerem Ausmaße schränken zwangsläufig die Fähigkeit ein, ein befriedigendes soziales Leben zu führen. Sie behindern die Bewältigung des Alltags nachhaltig und schließen den Kläger vor allem von den gesellschaftlichen Aktivitäten, die mit längerem Stillsitzen verbunden sind, aus.

2. Eine andere Therapie zur Behandlung des RLS ist im Falle des Klägers nicht verfügbar. Der Kläger ist seit 1999 zunächst nur mit L-Dopamin-Präparaten (Restex und Levocarb) behandelt worden. Die Behandlung war nach den Berichten des behandelnden Arztes Dr. I nur am Anfang erfolgreich, die Dosis musste gesteigert werden, gleichzeitig nahm die Wirkung der L-Dopamin-Medikamente im Verlaufe der Therapie ab. Der Sachverständige Dr. L hat dementsprechend bestätigt, dass im Falle des Klägers keine hinreichende Therapiemöglichkeit mit L-Dopamin-Präparaten (mehr) besteht. Eine Behandlungsmöglichkeit mittels Opiaten oder Benzodiazepinen kommt unabhängig davon, dass diese Präparate ebenfalls nicht für die Behandlung des RLS zugelassen sind, nur bei schweren Formen des RLS als Behandlungsalternative in Betracht. Auch der MDK hält die L-Dopamin -Therapie für ausgeschöpft (Gutachten vom 14.11.2002 und Gutachten vom 29.06.2005, S. 57 Nr. 4).

3. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist auch die dritte Voraussetzung erfüllt und die Wirksamkeit der Therapie mittels Cabaseril in einem ausreichenden Maß nachgewiesen. Dr. T, auf deren umfangreiche Gutachten sich die Beklagte im Wesentlichen stützt, nimmt zu Unrecht an, dass grundsätzlich für einen off-label-use die veröffentlichten Studienergebnisse den Prüfkriterien der Zulassungsbehörden entsprechen müssten und in jedem Fall eine Studie der Phase III vorliegen müsse (s. etwa S. 38 ihres "Up-date"- Gutachtens vom September 2004). Wenn Dr. T in ihrem Gutachten vom 29.06.2005 (S. 9 f.) ausführt, das BSG fordere zur Wirksamkeit von Arzneimitteln in einer bisher nicht von der Zulassung erfassten Indikation einen Forschungsstand, der sich bezüglich der Anforderungen an die Qualität der Studien an der arzneimittelbehördlichen Prüfung der Phase III orientiere, so geht sie von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Zwar scheint die Forderung des BSG (a.a.O.), dass die vorliegenden Forschungsergebnisse erwarten lassen müssten, dass eine Zulassung für die betreffende Indikation erfolgen könne, darauf hinzudeuten, dass insoweit an die Evidenz der Wirksamkeitsnachweise Anforderungen wie in einem Zulassungsverfahren zu stellen seien und damit (im Regelfall) eine klinische Prüfung der Phase III vorliegen müsse. Die weiteren Ausführungen des BSG zeigen jedoch, dass außerhalb eines Zulassungsverfahrens ein off-label-use auch dann in Betracht kommt, wenn die klinischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Zulassungsantrag noch nicht vorliegen, mit anderen Worten eine "Zulassungsreife" noch nicht erreicht ist.

Das BSG fordert das Vorliegen einer Studie der Phase III nur für den Fall, dass die Zulassung bereits beantragt ist (1. Alt.). Nach der zweiten Alternative reicht aber die "Veröffentlichung von außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnissen" aus. Die vorgenommene Differenzierung erscheint nur sinnvoll, wenn für die Erfüllung der zweiten Alternative eine "Zulassungsreife" noch nicht erforderlich ist und es insoweit ausreicht, dass wissenschaftlich nachprüfbare Erkenntnisse vorliegen, die zu einem Konsens innerhalb der beteiligten Fachkreise geführt haben. Dementsprechend hat das BSG in seinem Beschluss vom 04.01.2005 (B 1 KR 81/03 B) ausgeführt, dass die Krankenkassen zwar auch bei seltenen lebensbedrohenden Krankheiten im Arzneimittelbereich nur Leistungen gewähren müssten, die einem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und bei denen ein Mindestmaß an Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit gewährleistet sei. Zugleich hat es darauf hingewiesen, dass der rechtlichen und ethischen Problematik von (fehlenden) Arzneimittel-Studien in der Rechtsprechung dadurch Rechnung getragen worden sei, dass die Anforderungen an die Evidenz herabgesetzt worden seien, indem auch die Heranziehung von außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen wissenschaftlich untermauerten Erkenntnissen für zulässig gehalten werde. Diese Ausführungen zeigen, dass das BSG im Rahmen der zweiten Alternative auch wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise unterhalb der Ebene einer Phase-III-Studie ausreichen lässt, also die für die Zulassung eines Arzneimittels erforderlichen Wirksamkeitsnachweise noch nicht vorliegen müssen. Es ist daher unerheblich, ob die zu Cabaseril vorliegenden Studien für eine generelle Zulassung zur Behandlung des RLS ausreichen würden. Dies hat - wie Dr. T - auch Dr. L bezweifelt und im Übrigen darauf hingewiesen, dass wohl weitere Studien zu Cabergolin mit der hier streitigen Indikation ohnehin wegen des auslaufenden Präparateschutzes nicht mehr durchgeführt würden.

Jedenfalls seit der Veröffentlichung der Stiasny-Kolster-Studie im Jahre 2004 (Neurology 12/2004) liegen wissenschaftlich ausreichend untermauerte Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Cabaseril bei der Behandlung des RLS vor. Es handelt sich um eine fünfwöchige doppelblinde, placebokontrollierte, multizentrische Dosisfindungsstudie mit drei Zieldosierungen (Periode I) und eine offene Langzeitbeobachtung von 47 Wochen. Erklärte Zielstellungen dieser Studie waren die Untersuchung der möglichen Dosis, der Wirkungsabhängigkeit und der Langzeiteffekte von Cabergolin in der Behandlung bei Patienten mit mäßigem und schwerem idiopathischem RLS. Die Langzeitbeobachtung bestand aus einer sechswöchigen Dosisanpassungsperiode (Periode II) und einer nach-folgenden offenen Langzeitbehandlungsphase (Periode III). Einbezogen wurden ursprünglich 86 Patienten, die Ergebnisse der Wirksamkeitsprüfung am Ende der Periode I beziehen sich auf 84 Patienten. Die Prüfungen der Langzeitwirksamkeit von Cabergolin beziehen sich für die Dosisfindungsphase auf 77 der ursprünglich in der Periode II eingeschlossenen 79 Patienten; die Daten der nachfolgenden offenen Langzeitbeobachtung über weitere 41 Wochen betreffen 66 Patienten, nachdem 7 als nonresponder identifizierte Patienten ausgeschlossen worden waren. Am Ende der Perioden ergab sich jeweils eine statistisch belegte signifikante Besserung bei der mit Cabaseril behandelten Patientengruppe. Dies hat der Sachverständige Dr. L auf die ausdrückliche Nachfrage des Senats in dem Verhandlungstermin bestätigt. Er hat die Studie als wissenschaftlich hochwertig, zumindest als Phase II-Studie und als wissenschaftlich ausreichend für einen Beleg der Wirksamkeit eingestuft (vgl. auch Prof. Dr. Trenkwalder, Info Neurologie und Psychiatrie 2004, Sonderheft Nr. 1, S. 29 = Bl. 315 der Gerichtsakte). Dies wird auch von Dr. T dem Grunde nach nicht bestritten (vgl. S. 18 des Gutachtens vom 20.06.2005). Wenn Dr. T die Zuverlässigkeit der Ergebnisse bezweifelt, ist dies vor allem auf die strengen Kriterien zurückzuführen, die eine Phase III-Studie erfüllen müsste (vgl. unter anderem S. 52 Nr. 11, 14; S. 53 Nr. 17 des Gutachtens vom 29.06.2005).

Soweit Dr. T in dem Gutachten vom 29.06.2005 die Studie wegen methodischer Mängel (z. B. Concealment-Probleme), wegen der fehlenden zuverlässigen Erfassung von Augmentation und Prüfung der Langzeitwirksamkeit (S. 52 Nr. 13) sowie der hohen dropout-Rate und des Fehlens eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Risiko und Nutzen (S. 53 Nr. 18 c) kritisiert und daher zu dem Schluss kommt, dass eine ausreichende Validität für die Annahme eines vollständigen Wirksamkeitsnachweises bei vertretbaren Risiken auch aus dieser Studie nicht ableitbar sei, stellt sie - wie oben bereits dargelegt - an den Wirksamkeitsnachweis zu hohe Anforderungen.

Der Sachverständige hat auf die ausdrückliche Nachfrage des Senats ausgeführt, dass die Kritik von Dr. T nicht das grundsätzliche Ergebnis der Studie, Cabaseril entfalte bei Patienten mit RLS eine hinreichende Wirksamkeit, in Frage stelle. So sei eine hohe dropout-Rate wegen Nebenwirkungen von bis zu 10 % bei solchen Studien nicht ungewöhnlich.

Auch die Kritik, die sich auf die Validität der Studie im Hinblick auf die Risiken der Augmentation (Wirkverlust bei längerer Anwendung) richtet, spricht nicht gegen die Anwendung des Medikaments. Die Augmentation scheint vielmehr ein Problem zu sein, das mit der medikamentösen Therapie des RLS verbunden ist. Denn bisher hat sich bei jedem das RLS behandelnden Präparat - auch bei den zugelassenen Medikamenten - das Problem der Augmentation ergeben. Diesem Gesichtspunkt kann deshalb nach Ansicht des Sachverständigen zu Recht kein großes Gewicht beigemessen werden. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch eine zeitlich begrenzte Linderung der Beschwerden in einer Situation, in der das zugelassene Präparat (wegen der schon eingetretenen Augmentation) nicht mehr hilft - es also darum geht, für eine unter Umständen begrenzte Dauer Beschwerden entgegenzuwirken - eine Rechtfertigung für eine Behandlung darstellen kann. Auch Dr. T wird kaum der Ansicht sein, dass auf eine zunächst erfolgreiche Behandlung verzichtet werden müsste, nur weil in mehr oder weniger absehbarer Zeit das Medikament nicht mehr helfen könnte. Abgesehen davon dürfte gerade die Behandlung mit Cabaseril wegen der extrem hohen Halbwertzeit von ca. 65 Stunden im Hinblick auf die Augmentation geringere Probleme als andere Medikationen aufwerfen (S. 57 des Gutachtens 8/2002). Ob und in welchem Umfang eine Klärung der Augmentation für eine arzneimittelrechtliche Zulassung erforderlich ist, kann in diesem Zusammenhang dahinstehen.

Was die Arzneimittelsicherheit anbelangt, hat Dr. L zu Recht darauf hingewiesen, dass die Langzeitverträglichkeit bei dem Einsatz gegen die Parkinsonerkrankung hinreichend überprüft worden und unerwünschte Wirkungen aus dem Einsatz zur Behandlung dieser Krankheit bekannt seien. Dr. T beschreibt zwar das Vorkommen seltener, jedoch schwerwiegender Nebenwirkungen beim Einsatz von Dopaminagonisten (S. 84 des "Up-date"- Gutachtens). Sie interpretiert diese potentiell schwerwiegenden Nebenwirkungen jedoch ausdrücklich nicht in dem Sinne, dass von der Substanz prinzipiell Abstand genommen werden müsse (S. 30 des Gutachtens vom 29.06.2005). Wenn sie insoweit eine besondere Notwendigkeit sieht, dass vor der breiten Anwendung in der neuen Indikation ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Risiko und klinischem Nutzen von Cabaseril belegt werden müsse, so ist ihr im Hinblick auf die Zulassung des Medikaments beizupflichten. Insoweit trifft es zu, dass Nebenwirkungen immer im Vergleich mit der Schwere der Krankheit und dem Nutzen des Einsatzes zu bewerten sind. Wenn jedoch ein off-label-use bereits vor der "Zulassungsreife" in Betracht kommt, kann sich nur die Frage stellen, ob die bekannten Nebenwirkungen im Vergleich mit dem bekannten Nutzen den Einsatz verbieten. Das behauptet aber selbst Dr. T nicht, die sich ja nicht prinzipiell gegen den Einsatz der Substanz wenden will.

Auch der geforderte Konsens der einschlägigen Fachkreise über den Nutzen des Einsatzes von Cabaseril zur Behandlung des RLS liegt vor. Der Kläger hat bereits im Verwaltungsverfahren eine entsprechende Erklärung von 16 auf dem Gebiet der Behandlung des RLS kundigen Ärzten vorgelegt. Der Sachverständige Dr. L hat - wie auch im Übrigen der MDK in seinem Gutachten vom 14.11.2002 - einen solchen Konsens innerhalb der beteiligten Fachkreise bestätigt. Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bestand selbst vor der Stiasny-Kolster-Studie schon ein Konsens in den maßgeblichen Fachkreisen darüber, dass die Wirksamkeit von Dopaminagonisten bei der Behandlung des RLS positiv belegt sei (wenn auch in der Leitlinie eingeräumt wird, dass die Dopaminagonisten sich noch in der klinischen Prüfung befinden). Die Beklagte hat auch nicht geltend gemacht, dass von - eventuell wenigen kritischen Gegenstimmen abgesehen - der Einsatz von Dopaminagonisten umstritten sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat in weitaus überwiegendem Maße obsiegt.

Der Senat hat den hierzu entscheidenden Fragen grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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